Migranten und der Holocaust

Von Matthias Bertsch · 11.02.2011
Unter vielen jungen Muslimen in Deutschland grassieren Antisemitismus und Israelfeindlichkeit. Stiftungen und Projekte versuchen nun, diese Jugendlichen für das Thema Holocaust zu sensibilisieren.
"Deutschland ist ein Einwanderungsland" - was für die Gesellschaft allgemein gilt, muss auch im Umgang mit dem Nationalsozialismus berücksichtigt werden, ist Günter Saathoff von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft überzeugt. Migranten müssten aktiv in die Erinnerungskultur mit einbezogen werden, so Saathoff, sonst würden sie sich dem Thema verschließen.

"Das ist doch eure deutsche Geschichte, was geht uns als Migranten das an, und dann kann man jetzt antworten: Ja, ihr seid jetzt Deutsche und seid in kollektiver Mitverantwortung dafür, und dann ist die Antwort wiederum: Aber ihr interessiert euch doch auch nicht für unsere Geschichte, was wir erlebt haben, also zusammen geht es letztlich darum, unter pädagogischen Gesichtspunkten zu schauen, wie erzeugen wir Bereitschaften, die wir übrigens auch vorfinden bei arabischen Jugendlichen und türkischen Jugendlichen für den Holocaust, so was zu bearbeiten."

Bislang gibt es nur wenige Institutionen in Deutschland, die sich der Herausforderung angenommen haben, darunter die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Sie hat ein Projekt mit dem sperrigen Namen "Zugangsmöglichkeiten zur Verfolgungsgeschichte der europäischen Juden für Jugendliche mit Migrationshintergrund" ins Leben gerufen, in dessen Rahmen sich türkisch-stämmige Jugendliche aus Berlin nicht nur mit der Diskriminierung der Juden im "Dritten Reich" beschäftigt sondern auch ihre eigenen Erfahrungen eingebracht haben.

"Na ja, man ist wirklich mit einem täglichen Rassismus konfrontiert, auch wenn es sich nicht so zeigt in die Außenwelt, es fängt halt immer sehr klein an, man wird halt oft als Schwarzkopf bezeichnet oder als Kanake. Und so hat‘s auch damals angefangen: Es hat klein angefangen, bis hin zu Hetze und so hat es dann schrittweise angefangen und es darf halt nicht so weit kommen."

Die eigenen Diskriminierungs-Erfahrungen machten es jungen Berliner Türken wie Cihad oft leichter, für die Opfer des Nationalsozialismus Empathie zu entwickeln, unterstreicht Projektleiterin Elke Gryglewski.

"Ich glaube, dass es wichtig und auch möglich ist, diese Jugendlichen in den Erinnerungsdiskurs mit einzubeziehen und nicht nur einzubeziehen in die Diskussion sondern auch darüber, was Haftung bedeutet, also unabhängig von der Herkunft Jugendliche sehr wohl mitdiskutieren sollen und auch können, für meine Begriffe, kompetent dabei sind zu diskutieren, was unsere Gesellschaft mit dieser Geschichte machen sollte im Sinne von 'Haftung zu übernehmen'."

Aber was heißt Haftung übernehmen konkret? Rüya hat ebenfalls am Projekt teilgenommen.

"Also wenn in meiner Gegenwart jemand etwas gegen Juden sagt, dann sag ich da eigentlich schon was dazu, weil dasselbe könnte man auch über Deutsche sagen, über Türken sagen, über Araber und Italiener und was sonst, also überall, es gibt von jeder Sorte schlecht und gut. Also ich finde, auch wenn es vielleicht nichts bringt, wenn man das mal geäußert hat, aber ich halt’s für richtig, dass man sagt: Nein, das ist nicht so!"

Rüyas Einstellung ist mutig, aber unter muslimischen Migranten keineswegs die Normalität, wenn man den Schilderungen von Arye Sharuz Shalicar glauben darf. Der als Kind iranischer Juden in Berlin aufgewachsene Shalicar beschreibt in seinem jüngst erschienenen autobiografischen Buch "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude", welch starkem Antisemitismus junger Muslime er im Migrantenbezirk Wedding ausgesetzt war. Der Grund für diesen weit verbreiteten Hass heißt Israel, sagt Ahmed Mansour. Der israelische Palästinenser, der seit sieben Jahren in Berlin lebt, engagiert sich in verschiedenen Projekten gegen Diskriminierung.

"Die meisten Jugendlichen machen keinen Unterschied zwischen Israel kritisieren und Holocaust leugnen, das geht alles zusammen, insbesondere weil diese Sender, die hier in Deutschland konsumiert werden, und zwar 24 Stunden, einfach ein Bild zeigen, wo Juden ein Volk von Verbrechern sind, wo Juden eigentlich gehasst werden müssen von allen Völkern, die eigentlich die Welt beherrschen wollen. Und in so ein Bild gibt es kaum Platz für Differenzierungen."

Die Sender, von denen Mansour spricht, heißen Al Manar oder Al Jazeera und werden vor allem von arabischen Migranten gesehen. Aber auch türkische Jugendliche in Deutschland saugen über die Medien ein eindeutig negatives Israel-Bild auf, zum Beispiel durch den Film "Tal der Wölfe – Palästina", der zurzeit auch in deutschen Kinos gezeigt wird. Die türkische Produktion, in der sich ein Geheimagent für die israelische Erstürmung des Hilfskonvois für Gaza rächt, sei voller antisemitischer Klischees, betont der integrationspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Serkan Tören. Tören, der selbst in der Türkei geboren ist, sieht die kritische Haltung vieler Migranten gegenüber Israel und dem Holocaust mit Besorgnis.

"Was ich auch insgesamt beobachten kann, ist, dass es tatsächlich immer mehr so eine kritische Haltung auch zu Israel und dann auch zum Judentum gibt, und auch ein verstärktes Vereinnahmen der eigenen Religion für sich, dass man verstärkt den Islam so als seinen Lebensmittelpunkt sieht, kann man ja auch machen, ist jedem selbst überlassen, ob er das so macht, aber damit einhergehend immer auch eine Israel-kritische Haltung und dann als nächsten Schritt auch eine kritische Haltung zu Juden"

Um einem im Schatten des Nahostkonfliktes wachsenden Antisemitismus unter muslimischen Migranten entgegen zu wirken, plädiert Tören dafür, Imame verstärkt in der Bundesrepublik auszubilden: Muslime, die hierzulande studiert haben, seien sind nicht nur mit der deutschen Gesellschaft vertrauter, sondern auch mit der Geschichte des Holocaust – und der müssten sich auch die Neueinwanderer stellen. Doch damit diese Forderung an die Minderheit kein bloßer Appell bleibt, müsse sich auch die Mehrheitsgesellschaft öffnen.

"Wenn wir das Gefühl vermitteln, dass hier Migranten willkommen sind, Teil der Gesellschaft, und eben nicht abgrenzen nach Religion oder nach Herkunft und anderen Dingen, wenn wir das schaffen und sagen: Ihr seid Teil, dann haben wir es auch einfacher, gegen Vorurteile anzugehen und dann haben wir es auch im Grunde genommen einfacher, dass Menschen, Migranten, auch die Geschichte für sich adaptieren."