Michail Ossorgin: "Zeugen der Zeit"

Liebe zu Russland und Trauer über den Terror

Militär hält den Platz vor dem Winterpalais in St. Petersburg besetzt: Die russische Revolution von 1905-1907 wurde am 22. Januar 1905 (dem "Blutsonntag") ausgelöst, als Soldaten auf friedlich demonstrierende Arbeiter schossen.
Militär hält den Platz vor dem Winterpalais in St. Petersburg besetzt: Die russische Revolution von 1905-1907 wurde am 22. Januar 1905 (dem "Blutsonntag") ausgelöst, als Soldaten auf friedlich demonstrierende Arbeiter schossen. © dpa / picture alliance
Von Olga Hochweis · 12.12.2016
2015 erlebte Michail Ossorgins Roman "Eine Straße in Moskau" von 1928 eine begeisterte Wiederentdeckung – auch dank der Neuübersetzung von Ursula Keller. Nun hat sie die beiden nachfolgenden Romane des Schriftstellers im französischen Exil erstmals ins Deutsche gebracht.
"Zeugen der Zeit" und "Buch vom Ende" gehen aber zeitlich den Ereignissen des Vorgängerwerks (über den bolschewistischen Umsturz 1917) voraus und behandeln das Revolutionsgeschehen von 1905. In ihrem Zentrum steht das Leben und Wirken der Revolutionärin und Terroristin Natascha Kalimova, die einer historischen Figur nachgebildet ist:
Natalia Sergejewna Klimova (1885–1918), Tochter eines einflussreichen russischen Landadligen, die sich in jungen Jahren dem radikalen Flügel der Sozialrevolutionären Partei anschloss und 1906 nach der Beteiligung an einem Attentat auf den Ministerpräsidenten zum Tode verurteilt wurde. Nach einer Petition des Vaters entging sie dieser Strafe und kam lebenslänglich ins Gefängnis, aus dem ihr nach knapp drei Jahren Haft eine aufsehenerregende Flucht mit anderen weiblichen Gefangenen gelang. 33-jährig starb Klimova in Frankreich.
Die Geschichte selbst klingt nach Filmstoff, und Michail Ossorgin hat sie literarisch spektakulär ausgestaltet: Wie im Zeitraffer eilt er in prägnanten detailreichen Szenen durch das Leben seiner Heldin – von ihrer behüteten Kindheit über die Politisierung, die Organisation des Lebens im Untergrund und die Durchführung der Attentate sowie die Zeit im Gefängnis bis zur Flucht über Sibirien und die Mongolei durch die Wüste Gobi – ein beschwerlicher Weg auch der Läuterung – bis nach Westeuropa.

Der ewige Pilger

Der zweite Band "Buch vom Ende” beschreibt ein Leben im Wartezustand, das durch Familiengründung und einen einsamen Alltag in Italien und in Paris gefüllt wird. Parallel dazu begleitet der Leser einen durch Russland reisenden Popen, der immer wieder auf die verschiedensten Figuren des Romans trifft – ein "ewiger Pilger" und buchstäblicher Chronist seines zerrissenen Landes. Auch für ihn gibt es ein reales Vorbild, so wie für eine Fülle weiterer Figuren, die in einem ausführlichen Apparat nebst Sach- und Ortsregister entschlüsselt werden.
"Welch' Chaos, vor dem der Historiker steht, welch' Material für den Literaten" – so bringt Ossorgin die Komplexität auf den Punkt. Sein Ton zeigt Wohlwollen für die Ideale seiner Figuren – eine gerechte Gesellschaft – andererseits klingt allzeit die Trauer über den Weg des Terrors durch. Es sind die Widersprüche der eigenen Biografie, in die Ossorgin zurückkehrt.
1904 war er Mitglied der sozialrevolutionären Partei geworden und hatte seine Anwaltskanzlei für konspirative Treffen zur Verfügung gestellt. Was bleibt, ist die in jeder Zeile spürbare Liebe zu Russland. Die beiden Bücher mögen nicht ganz an die Tiefe und formale Raffinesse der "Straße in Moskau" heranreichen – als packende Geschichtsstunde in Romanform sind sie außerordentlich lesenswert.

Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit. Buch vom Ende
Zwei Romane aus dem Russischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Ursula Keller, unter Mitarbeit von Natalja Sharandak
Die andere Bibliothek, Berlin 2016
546 Seiten, 42 Euro

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