Miami, wo die Trends gemacht werden

Jung, reich und schräg

Graffiti in Miami
Graffiti in Miami © Martina Buttler
Von Martina Buttler  · 13.07.2016
Miami atmet und lebt moderne Kunst. Nachts machen sich die Sprayer an die Arbeit. Tagsüber streifen Tausende auf der Suche nach dem Besonderen durch die Stadt, das sie nicht zuletzt im Künstlerviertel Wynwood mit seinen zahlreichen Museen und Galerien finden.
Eine vierspurige Straße auf der einen Seite. Beton. Eine vierspurige Straße auf der anderen Seite. Grau. Ein griechisches Bistro, ein äthiopisches Café und die Puerto-Ricanische Handelskammer um die Ecke. Auf den Parkplatz mittendrin brennt unerbittlich die Sonne vom strahlend blauen Himmel. Schotter.
An einigen Ecken grasüberwachsen. Mittendrin ein riesiger Kolibri. In leuchtenden Farben. Der Kopf ein Mosaik aus orange, kaminrot, royalblau und grasgrün. Der Körper eine Explosion aus Pink, Lila, Gelb und Hellblau. Graffiti. Und weil der Vogel mit seinem langen Schnabel den Nektar aus Blumen saugt, hat der Sprayer eine rote Blume aus Plastik gebastelt und sie in den kleinen Baum auf der Ecke gehangen.

Gute Laune, Leichtigkeitund Lebensfreude

Ein Graffiti, das das Lebensgefühl von Miami einfängt. Gute Laune. Leichtigkeit. Lebensfreude, die aus allen Ecken springt. Kreativität. Kunst ist für Sprayer Trek6 keine Frage des Wollens, sondern eine Frage des Müssens. Seine Kunst zu leben ist wie ein Zwang für den Mann mit dem grau durchsetzten leicht strubbeligen Bart und der Baseballkappe:
"Ich brauche Kunst. Es ist wie Atmen für mich. Nein anders: Ich muss irgendwie kreativ sein. Ständig. Jeden Tag. Es muss passieren. Ich kann nicht aufhören, kreativ zu sein."
Miami ist eine Art Open-Air-Gallerie. Kunst auf allen Wänden. Keine Fläche bleibt lange unberührt. Die Graffiti-Künstler malen das Gesicht der Stadt. Bob Marley lacht neben der Autobahn. Meditierende Hände in Gold, poppige Schriftzüge. Und wenn auf den Hauswänden nicht mehr genug Platz ist, sprayen die Künstler eben auf dem Gehweg, auf der Rückseite von Schildern.
Es scheint, als ob sie nicht an sich halten können. Überquellen. Die Ideen nur so aus ihnen raussprudeln. Das Epizentrum der Szene ist Wynwood. Früher ein Industrieviertel. Große Lagerhäuser für Schuhe, Kleidung. Kistenweise. Straße für Straße. Trek6 ist in der Nähe groß geworden:
"Die Gegend hat eine derbe Vergangenheit. Es gab hier Krawalle, viel Polizeigewalt, finanzielle Unterdrückung. Das ist ein großartiger Nährboden für Kunst. Besonders für Graffiti. Wo es Unterdrückung gibt, gibt es Graffiti. Es ist die Stimme der Jugend, die der Welt sagen will: ihr gebt nichts auf uns, aber wir existieren."
David Lombardi
David Lombardi© Martina Buttler
Heute ist Wynwood etwas zwischen Museum und großem Outdoor-Atelier. Erst in den letzten zehn Jahren ist aus einer Gegend, in die sich nach Sonnenuntergang nur wenige getraut haben ein Trendviertel geworden. Immobilienmakler David Lombardi erinnert sich noch gut, wie es hier aussah, als er das erste Mal nach Wynwood kam:
"Stell dir das 2001 so vor: Die meisten Straßenlampen waren kaputt. Alle Öffnungen in einem Gebäude, Fenster und so, waren verbarrikadiert. Alle Zäune waren Stacheldraht. Dahinter scharfe Hunde. Die Gegend war dunkel, trostlos und ein bisschen unheimlich."
Aber der Immobilienmakler mit den kurzen grauen Haaren und den schmalen Lippen hat das Potenzial erkannt:
"Als ich das erste Mal hier war, bin ich in ein Gebäude gegangen, das sehr dreckig war. Aber es hatte siebeneinhalb Meter hohe Decken, Dachfenster. Ein alter Mann, der Boiler reparierte, war der Besitzer. Ich bin danach die Straßen hier abgefahren. Ich habe schnell ein paar Schlüsse gezogen. Erstens: Ich war innerhalb von sieben Minuten von Zuhause in Miami Beach hier. Zweitens: Es war fußgängerfreundlich. Wir waren eine Minute vom Design District, vier, fünf Minuten vom Zentrum von Miami und auf der Autobahn war man in einer Minute. Mir war klar: Die Lage war zu gut, um immer so billig zu bleiben. Das Viertel musste einfach neu auf dem Markt positioniert werden."
Graffiti in Miami
Typisch Miami: Sprayer hinterlassen in der ganzen Stadt ihre Werke.© Martina Buttler
Und als er zu einer Ausstellung in einem der Lagerhäuser eingeladen wurde, war Lombardi klar, wie das funktionieren würde:
"Wir haben die Tür aufgemacht und es hat mich umgehauen. Da war ein schlichter Raum. 450 Quadratmeter. Strahlend weiße Wände, farbige Kunstwerke an der Wand, tolles Licht und 30 junge Leute, die Wein getrunken und die Arbeiten diskutiert haben."
Nach und nach kauft er Lagerhäuser. Schnell ziehen Künstler nach Wynwood. Die Mieten sind bezahlbar. Das Viertel hat Ecken und Kanten. Es ist wie eine weiße Leinwand. Warum gerade in Miami die Kreativität aus allen Poren quillt?
"Ich denke, das liegt an der Ansammlung all dieser Kulturen hier in der Stadt. Wir haben Haitianer, Kubaner, Leute aus allen Ländern Südamerikas. Die Europäer lieben uns. Ich bin überzeugt, wenn man all diese verschiedenen Leute aus verschiedenen Kulturen zusammenschmeißt, kommt etwas ganz Besonderes heraus."

"Miami ist ein einmaliger Ort"

Besonders der Einfluss der Latinos in der Stadt ist nicht zu übersehen und zu überhören. Aus den Cafés und Restaurants, die inzwischen die Second Avenue säumen, klingt überall lateinamerikanische Musik. Salsa. Viertel wie Little Haiti, Little Havanna – Miniaturausgaben der Karibik und Lateinamerikas. Ein einmaliger Mix, der für die renommierte Kunstsammlerin Rosa de la Cruz, die Kreativität von Miami ausmacht:
"Miami ist ein einmaliger Ort. Es ist die einzige Stadt in den USA, die wirklich zweisprachig ist. Miami ist Teil der USA, aber es ist auch ein fremder Ort. Die Leute kommen hier gern her wegen seiner Vielfalt."
Sie und ihr Mann sind Exilkubaner. Er hat als Manager Millionen gemacht. Die passionierten Sammler haben aus ihrem Privatvermögen eine der angesehensten Ausstellungen der Stadt zusammengetragen. Hier hängt Sigmar Polke neben Albert Oehlen und Felix Gonzalez-Torres. Moderne Kunst – High End.
Juan Lazaga
Juan Lazaga© Martina Buttler
Die Türen zu der Galerie von Daniela Wicki auf der Second Avenue sind abends weit offen. Sie war eine der ersten, die vor 15 Jahren nach Wynwood kam. Die Tochter von Schweizern, die in Peru auf die Welt gekommen ist, kreiiert großformatige Bilder. Abstrakte Formen. Leuchtende Farben. Orange, blau, grün. Im Dunkeln leuchten sie. Und Miami ist für die herzliche Frau mit den dunkelblonden schulterlangen Haaren und dem strahlenden Lächeln pure Inspiration:
"Dieses besondere Licht, das es das ganze Jahr hier in Miami gibt. Der Ozean, das klare Licht. Und jede Nacht schenkt uns Gott einen Sonnenuntergang in anderen Farben. Die Macht der Natur ist einfach inspirierend."
Und diese Kreativität schwappt in die Straßen. Kunstwerke überall. Überbordend. Lebendig. Immer wieder neu.
Diana Contreras fährt ihre Hebebühne auf dem schiefen Gehweg der 25th Street hoch. Eine wacklige Konstruktion auf der die Sprayerin steht. Sie legt letzte Hand an ihr neuestes Mural. Drei Schönheiten, eine Schwarze, eine Latina und eine Weiße, die wie Nixen aus dem Wasser steigen. Bücher in der Hand. Ideen für neue Arbeiten fliegen einem in Miami geradezu zu, meint die Frau, die ihre langen braunen Haare hochgesteckt hat und der der Schweiß auf der Stirn steht:
"Es ist heiß hier. Es gibt all diese Farben. Viele Latinos. Das spürt man glaube ich in meiner Arbeit."
Die gebürtige Peruanerin ist ein Energiebündel. Seit Tagen arbeitet sie unermüdlich an ihrem Graffiti. Es ist eins der wenigen Kunstwerke für das sie Geld bekommt. Viele Sprayer zahlen drauf, um ihre Kunst auf die Wände zu bringen.

Zuerst die Künstler, dann das Geld

Doch für die Viertel von Miami gilt, was in allen größeren Städten gilt. Erst kommen die Künstler, dann kommt das Geld. Cafés, Restaurants ziehen ein. Modegeschäfte neben Gallerien. Das hat auch Wynwood verändert, weiß Diana:
"Vorher musste man keine Parkgebühren zahlen. Jetzt kostet es was. Man wird abgeschleppt. Das war früher nicht so. Da war alles freier."
Und die Künstler, die ursprünglich hierher gezogen sind, weil es bezahlbare Ateliers gab, sie ziehen weiter nach Little Haiti oder Hialeah.
David Lombardi hat kräftig daran mitgearbeitet, dass die Preise in dem Viertel angezogen haben. Der Immobilienmakler hat seine Vision von einem Kunst-Viertel vorangetrieben. Wer hier heute mieten will, muss tief in die Tasche greifen:
"Ladenfläche … da kostet der Quadratmeter zwischen 30 und 55 Dollar. Am Anfang haben wir die Lagerhäuser hier für sechs Dollar pro Quadratmeter vermietet."

Die Armen werden vertrieben

Zwei Blocks von der Flaniermeile der Kunstszene entfernt ist schon viel länger die Miami Rescue Mission Zuhause. Hier pilgern die Obdachlosen hin, um eine warme Mahlzeit oder für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu finden. Eric arbeitet hier seit mehreren Jahren. Während er auf seine Leute auf dem Flur mit dem Linoleumboden schaut, atmet er tief durch, und erzählt von den Veränderungen in der Nachbarschaft:
"Die Künstler sind nebenan, aber wir spüren sie nicht. Es sind zwei getrennte Welten. Klar ist es etwas Gutes, was sich da entwickelt. Aber die Leute, die hier ursprünglich waren, haben nichts davon. Die Obdachlosen und Armen werden vertrieben."
Die Männer und Frauen, die ihre Habseligkeiten in Plastiktüten mit sich rumtragen passen nicht ins Bild, weiß Marilyn Brummitt. Sie ist Director of Development bei der Rescue Mission in Wynwood:
"Die Obdachlosen wollen in den Hauseingängen schlafen nachts und viele Läden lassen deshalb grelle Lichter an, manche lassen Gitter runter. Es ist ein Problem."
Mikey Stax
Mikey Stax© Martina Buttler
Und auch an der Rescue Mission geht die Veränderung nicht spurlos vorbei. Ein Teil der Organisation wird nächstes Jahr umziehen. Das Angebot für ihren Grund und Boden war einfach zu gut, erzählt Marilyn:
"Es war ein Angebot, was wir einfach nicht ablehnen konnten. Mit dem Geld, das wir damit verdienen, können wir unseren Service für die Obdachlosen deutlich erweitern. Wir müssen auch wirtschaftlich denken und wenn sich eine solche Möglichkeit eröffnet - zuschlagen."
Viele Hipster bevölkern inzwischen die Second Avenue. Zwei Straßen von der Resue Mission entfernt. Sie feiern hier. Vor allem am Second Saturday. Am zweiten Samstag jedes Monats kommen Tausende, um durch die Gallerien und Läden zu stromern und Party zu machen. Es gibt inzwischen Cafes, wo der Latte Macchiato vier Dollar kostet. Doch ein paar Straßen weiter - weg vom Rummel der Kunst- und Partyszene, dort wo nur noch die Dixie-Klos stehen, wenn es große Events gibt, hier sieht man noch, wie das Viertel ursprünglich mal aussah. Entdeckt die Ecken und Kanten.
Der Verkehr rauscht auf der Highway I-95 als mehrspurige Symphonie auf einer Hochstraße vorbei. Industriebrachen. Große flache Gebäude, lange Mauern. Hier fühlt sich Sprayer Trek6 wohl:
"Es ist die letzte ungeschminkte, raue Ecke von Wynwood. Es ist noch nicht posh hier. Darum mag ich es."
Sein Handwerkszeug: Spraydosen. Pinsel. Leitern. Hebebühnen. Musik. Seine Farben: Rot, Blau, Gelb, Grün – leuchtend in allen Schattierungen. In der Sonne glitzernd. Seine Leinwand: die Häuser und Mauern in Miami. Und seine Kunst hat für ihn auch einen Sound:
Trek6 gehört in der Kunstszene der Stadt zum wandernden, sprayenden Inventar. Von der I-95 sieht man eins seiner Markenzeichen: die Boombox. Ein verlassenes weißes Haus hat er mit seinem Graffiti in einen überdimensionalen, knallbunten Ghettoblaster verwandelt. Schon vor Jahren. Aber es ist "work in progress" – ein Kunstwerk, das sich immer weiterentwickelt:
"Letztes Jahr habe ich die Knöpfe drangemacht. Ja, es ist ein Haus mit Lautstärkereglern. Es hat einen Griff und eine Antenne. Dieses Jahr will ich den Equalizer und den Tuner zum Leuchten bringen. Mit Solarkraft."
Trek6 vor der Boombox
Trek6 vor der Boombox© Martina Buttler
Oft arbeitet Trek6 mit anderen Künstlern zusammen. Kunst ist sein Leben. Kreativität macht ihm Spaß. Aber Graffiti ist auch harte Arbeit:
"Wir reden über jemanden, der 17 Stunden an einer Mauer arbeitet. Das machen nur wenige – vor allem in der Hitze hier in Florida. Es wird manchmal fast 40 Grad heiß, dazu die Luftfeuchtigkeit. Das ist kein Spaß."

Eine Stadt im Partymode

Und einmal im Jahr der Höhepunkt des Kunstlebens, wenn die Art Basel in die Stadt kommt. Die Wochen davor sind Ausnahmezustand:
"Ich mache den Fernseher nicht an, höre kein Radio, gehe nicht ans Telefon. Ich habe viel Arbeit vor mir. Wenn Art Basel anfängt, habe ich ein paar Wochen fast gar nicht geschlafen. Ich bin müde. Ich habe nonstop an den Wänden gearbeitet. Und alle kommen in die Stadt im Partymode: Yeah, Basel. Aber ich habe mich die zwei Monate davor aufgerieben. Ich will nur noch fertig werden mit den Bildern und schlafen."
Rosa de la Cruz und ihr Mann wollen die Kunst teilen. Sie haben die Millionen, die sie in Gemälde und Skulpturen investiert haben, nicht nur zur eigenen Freude ausgegeben. Sie wollten ihre Kunst von Anfang an teilen:
"Wir haben unser Privathaus geöffnet. Damals vor 25 Jahren hat das noch niemand gemacht. Und die Leute meinten: Habt Ihr nicht Angst, fremde Leute bei Euch reinzulassen? Und wir haben gesagt: warum? Und so ist unser Haus zu einem Ziel für die Menschen geworden. Weil sie eine Kunstsammlung in einem Privathaus sehen wollten."
Sie verstehen das Haus, in dem die de la Cruz Collection heute ist, als Erweiterung ihres privaten Zuhauses. Oft genug ist die schlanke, sympathische Kunstsammlerin selbst hier. Trifft Besucher, sitzt auf einer Couch und plant mit ihrem Team Stipendienprogramme für junge Künstler.
Die Art Basel hat Miami verändert. Immobilienmann Lombardi freut sich über diesen Imagewechsel:
"Miami hatte immer das Image, das die Leute durch Don Johnson und Miami Vice hatten. Schnelle Autos, Brücken über Wasser, Frauen in Bikinis, Drinks, Drogen und Nachtclubs. Wynwood hat ihm mehr ein urbaneres, trendiges Feeling gegeben."
Das sind für Trek6 nur Äußerlichkeiten. Kunst – das passiert in ihm, das macht etwas mit ihm, etwas sehr Existenzielles:
"Kunst – was das für mich ist? Das ist, was ich mache. Ich muss immer kreatives Output haben. Zu allen Zeiten. Sonst funktioniere ich nicht als Mensch. Ich habe es ohne versucht, aber das geht nicht. Ich werde miesepetrig. Kunst ist einfach, was mich leben lässt."
Und damit haucht er Miami immer neues Leben ein. Verändert das Gesicht der Stadt. In Miami lässt sich die Kunst nicht einsperren.
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