Menschliche Abgründe

Vorgestellt von Alexander Schuller · 03.10.2007
Der Sozialpsychologe Philip Zimbardo war Gutachter in dem Kriegsgerichtsverfahren, das auf die Ereignisse von Abu Ghraib folgte. In seiner Untersuchung "The Lucifer Effect" stellt er den Zusammenhang von Individuum, Gruppe und Kultur in der Erschaffung des Bösen her.
Vor Kurzem gingen Fotos durch die Presse, die das Personal des Konzentrationslagers Auschwitz zeigten. Es handelt sich um Privataufnahmen, Freizeitfotos aus dem Sommer 1944. Junge ausgelassen lachende Männer und Frauen in SS-Uniform. Höß, der Lagerkommandant, ist zu sehen und der noch immer gesuchte Dr. med. Mengele. Sie spielen mit den Hunden, sie sonnen sich, sie machen Picknick, sie musizieren, sie kokettieren für die Kamera. Nette Leute, in der Sonne, draußen im Freien, fröhlich und unbeschwert.

Ein amerikanischer Soldat hatte diese Fotos bei Kriegsende an sich genommen und bis heute aufbewahrt. Als sie jetzt veröffentlicht wurden, war es ein Schock. So hatte man sich die Täter von Auschwitz nicht vorgestellt, so normal, so durchschnittlich, so harmlos. Diese hier sahen nicht aus wie Monster, wie Massenmörder, wie Sadisten. Aber was hatte man erwartet? Wie sehen Monster und Massenmörder in ihrer Freizeit eigentlich aus? Das Schreckliche dieser Fotos: Die Mörder von Auschwitz sahen aus wie du und ich, wie mein Bruder und wie deine Schwester, wie der Nachbar. Damit waren wir nicht nur mit unserer eigenen Geschichte konfrontiert, sondern viel grundsätzlicher mit der Frage: Was ist der Mensch? Wie viele Gesichter hat er? Welche Abgründe birgt er in seinem Herzen? Auch wenn diese Frage uns immer aufs Neue erregt und erschüttert, sie ist uralt. Und auch die Antwort ist uralt: der Mensch, jeder Mensch, jeder von uns, ist – verfügbar. Je nachdem.

"In unserer Seele kann jeder Himmel zur Hölle werden und jede Hölle zum Himmel."

Das war ja auch der Schock, den Hannah Arendts Buch über den Eichmann-Prozess ausgelöst hatte. Darin zeigt Arendt, dass Eichmann weder besonders böse, noch besonders wichtig, dass er eigentlich eine Null war. Er war eben nur verfügbar - so wie die meisten von uns, wenn die Bedingungen so sind. Lange vor Arendt gab es schon mal einen entsprechenden Schocker: "Obedience to Authority" von Stanley Milgram, 1973 erschienen. Diese experimentelle Studie zeigte, dass nicht nur Deutsche, Nazis eben, auf Befehl böse sein können, sondern jeder, auch ein netter, wohlerzogener Yale-Student. Es ist der gleiche Schock, den die experimentelle Untersuchung "The Lucifer Effect" von Philip Zimbardo ausgelöst hat. Zimbardo, der wohl berühmteste Sozialpsychologe der USA, war Gutachter in dem Kriegsgerichtsverfahren, das auf die Ereignisse von Abu Ghraib folgte. In seinem Buch zeigt er ähnlich, aber theoretisch anspruchsvoller als Milgram, den Zusammenhang von Individuum, Gruppe und Kultur in der Erschaffung des Bösen. Er zeigt auch, welche Wege aus dem Gestrüpp des Bösen zurück in die menschliche Gesellschaft führen – führen könnten. Aber Zimbardo warnt auch vor Vorurteilen und Abwehrmechanismen, mit denen er, mit denen wir alle, zu tun haben.

Das Gericht im Abu-Ghraib-Verfahren hatte eigentlich schon vor Beginn des Prozesses entschieden, was Schuld und wer der Schuldige sei.

"Der Staatsanwalt und der Richter weigerten sich, die Bedeutung des Gruppenkontextes für das Verhalten des Einzelnen in Betracht zu ziehen. Sie beharrten auf der für unsere Kultur üblichen Vorstellung, dass das Individuum allein die volle Verantwortung für sein Verhalten trägt."

Der große Triumphzug des Individuums und des Individualismus in der westlichen Welt ist ein Ergebnis der Aufklärung und der aus ihr folgenden gesellschaftlichen Entwicklung. Damit verzichtet der Westen allerdings auf eine wichtige soziale Ressource, auf die Gruppe: auf Familie, Nachbarschaft, Freunde. Wir definieren unsere Solidarität vor allem gesamtgesellschaftlich, abstrakt.

"Bezeichnenderweise vernachlässigen die meisten Sozialwissenschaftler die latente Kraft, die in unseren politischen, wirtschaftlichen, religiösen und historischen Quellen liegt und damit den kulturellen Rahmen, der unsere Wahrnehmung bestimmt, der ihnen Legitimität sichert oder auch nimmt. Ein produktives Verständnis der Dynamik menschlichen Verhaltens bedeutet auch, dass wir die Bedeutung und auch die Grenzen des Individuums, der Gruppe und der Kultur erkennen und einander angemessen zuordnen können."

Zimbardo zeigt uns die Folgen der Entbindung von Traditionen und Strukturen: Ruanda und Abu Ghraib, Gefängnis-, Studenten- und Rasserevolten. Er zeigt uns die Bruchstellen, die gesellschaftlichen Problembereiche, wo sich Individuum und Gesellschaft verfehlen, wo die Gruppe als Vermittlungsinstanz zwischen Makro und Mikro verschwunden oder zerstört ist. In diesem Abgrund, das macht uns Zimbardo klar, entsteht die geradezu rasende Sehnsucht nach Bindung und Beteiligung, danach, ein lebendiger Teil eines Ganzen zu sein. Wenn eine Gesellschaft an diesem Punkt versagt, gebiert sie das Böse. Immer wieder. Der kritische Begriff heißt hier: Konformismus. Er ist beides: Versprechen und Verhängnis. Er kann Heimat sein, aber auch ein Schritt in den Totalitarismus. Damit beginnt die Jagd auf den Außenseiter. Wer das Maul nicht hält, dem wird es gestopft. Die Angst senkt sich über uns. Und das Schweigen. Die Hexen werden verbrannt und die Bücher und alle Hoffnung auf eine freie Gesellschaft.

Und so endet das Buch von Zimbardo mit der Forderung nach dem Helden, dem namenlosen, vielleicht sogar ahnungslosen Helden. Dieser Held müsste die einfache, die atemberaubend offensichtliche Wahrheit sagen. Nur das: die Wahrheit. Das würde den Bann brechen. Dann hätten wir vielleicht aus der Geschichte gelernt. Wir wären in der Lage, die neuen, uns bedrohenden Formen des Totalitarismus zu durchschauen und zu bekämpfen.

Philip Zimbardo: The Lucifer Effect - Understanding how good people turn evil
Random House, 2007
Philip Zimbardo: The Lucifer Effect
Philip Zimbardo: The Lucifer Effect© Random House