Mendels Regeln

Von Peggy Fuhrmann · 07.01.2009
Als vor 125 Jahren der Augustinermönch Gregor Mendel mit 61 Jahren starb, kannte ihn in der wissenschaftlichen Welt fast niemand. Charles Darwins Lehre stand im Fokus der Naturwissenschaften. Aber was im 19. Jahrhundert nicht gelang, geschah dann im 20., als zwei Jahrzehnte nach Mendels Tod seine bahnbrechenden Schriften wiederentdeckt wurden.
"Ich näherte mich dem Kloster. Die Gebäude mit ihren roten Dächern und weißen Wänden hoben sich liebenswürdig und sanft von den dunklen Backsteinpfeilern und gotischen Spitztürmen der Kirche ab. Ich ging um die lange Südwand des Klosters herum zum Tor und blickte durch das Tor in den Garten."

In seinem Roman "Mendels Zwerg" über die Geschichte der Genforschung folgt der Schriftsteller Simon Mawer den Spuren Gregor Mendels. Und besucht dessen Wirkungsstätte, das Augustinerkloster in Alt-Brünn.

"Auf den Beeten unter den Fenstern hatte er seine ersten Pflanzungen gezüchtet. Das lange Kiesrechteck auf dem Rasen war die Stelle, wo sein Gewächshaus gestanden hatte, wo er zwischen den Erbsen herum werkelte, leise mit sich selbst sprach, zählte und nummerierte, mit seinem Kamelhaarpinsel tupfte, Samen ausbrachte, wieder zählte, immerzu zählte."

Staffan Müller-Wille: " Es gab natürlich auch schon vor Mendel viele Leute, die sich mit der Kreuzung von Pflanzen und Tieren beschäftigt haben und darüber veröffentlicht haben. Was alle diese Veröffentlichungen eigentlich auszeichnet ist, dass diese Leute immer Versuche mit Pflanzen oder - seltener - Tieren angestellt haben, die sich in vielen Merkmalen unterschieden, in ganzen Merkmalskomplexen. "

Dieser Ansatz erwies sich als falsch. Denn an der Komplexität der gewählten Organismen scheiterte jeder Versuch, Gesetzmäßigkeiten der Vererbung zu erkennen, erklärt Dr. Staffan Müller-Wille vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.

Müller-Wille: " Und Mendel reduziert das auf die Kreuzung von Varietäten, die sich nur in einem oder in wenigen Merkmalen unterscheiden. Also ihm geht es darum, das Vererbungsproblem, wenn man so will, zu reduzieren auf den einfachsten denkmöglichen Fall. "

Der Augustinermönch Gregor Mendel experimentierte mit Pflanzen der Gartenerbse "Pisum sativum". Das heißt: Er züchtete zunächst Pflanzen, die reinerbig waren, bei denen also jeweils beide Eltern die gleichen Merkmale besaßen. Beispielsweise bildeten beide Elternpflanzen gelbe Schoten aus oder beide entwickelt grüne Schoten. Mit solchen reinerbigen Pflanzen führte er in den folgenden acht Jahren über 12.000 Kreuzungsversuche durch und protokollierte penibel jede Versuchsanordnung und jedes Ergebnis. So entdeckte der Mönch, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich Merkmale weiter vererben. Die Ergebnisse fasste er in drei Regeln zusammen.

Müller-Wille: " Mendel gehörte zu der Generation von Biologen, in der Vererbung überhaupt erst zu einem Thema wurde. Und wie man vorher eigentlich über Fortpflanzung im Allgemeinen gedacht hat, das lässt sich unter das Schlagwort der Zeugung bringen. Und unter dieser Zeugungsperspektive lässt sich gar nicht zwischen Entwicklung und Vererbung, Umwelteinflüssen und genetischen Faktoren unterscheiden. Und das ändert sich eigentlich erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts. "

"Das Haus der Mendels steht noch, ein massives Gehöft, ein wenig von der Straße zurückgesetzt an einem überwucherten Weg, umgeben von Kirsch- und Apfelbäumen. Es trägt eine Metalltafel, die mit groben Buchstaben beschriftet ist: ‚Památka G. Mendela’, G.-Mendel-Gedenkstätte – und den Schlüssel bekommt man von der Frau, die den Laden im Dorf betreibt."

Gregor Mendel wuchs in dem kleinen Ort Heinzendorf auf, der damals zu Österreich gehörte. Heute liegt er in Tschechien. Mendels Familie war arm, sie bewirtschaftete einen kleinen Bauernhof. Und damit war der Weg des Jungen eigentlich vorgezeichnet: Er würde den Hof übernehmen und mit harter körperlicher Arbeit ein karges Dasein fristen. Doch in der Schule fielen die Intelligenz und Wissbegier des Jungen auf. Er solle unbedingt die höhere Schule besuchen, drängten die Lehrer. Der Familie fehlte dafür das Geld, dennoch wollte sie dem Jungen die Chance bieten.

Der Wissenschaftshistoriker Professor Reinhard Mocek beschreibt die schwierige Situation: " Er war von seinem 11. Lebensjahr an auf externen Schulen, bis 20 km und darüber hinaus vom Wohnort entfernt, wurde in Internaten untergebracht, was die ganze Beköstigung und die Schulkleidung und so Dinge betrifft, das konnte die Familie nicht stellen. Nur dadurch, dass seine jüngere Schwester, Theresia, auf einen Teil ihres von den Eltern zurückgelegten Erbes verzichtete, konnte er sich dort bis zum mühsam erzielten Abschluss durchhungern buchstäblich. "

In einer Autobiografie, in der er über sich selbst in der dritten Person spricht, erklärte Gregor Mendel später:

"Er fühlte, dass es ihm nicht möglich sei, solche Anstrengungen noch weiter zu ertragen, er sah sich daher nach geendigten philosophischen Studien gezwungen, in einen Stand zu treten, der ihn von den bitteren Nahrungssorgen befreite. Seine Verhältnisse entschieden seine Standeswahl. Er verlangte und erhielt im Jahre 1843 die Aufnahme in das Augustiner-Stift in Alt-Brünn."

Dort sollte der 21-Jährige das klostereigene Herbarium ausbauen, den Garten pflegen und am benachbarten Gymnasium unterrichten. Doch der Mönch fiel durch die Lehramtsprüfung. Daraufhin schickte ihn sein Abt an die Universität Wien. Mendel durfte vier Semester Botanik und Physik studieren.

Reinhard Mocek: " Und das war natürlich großzügig, es spricht auch für den geistigen Horizont dieses Abtes. Das Kloster in Alt-Brünn galt als Zentrum von Kunst und Wissenschaft in Brünn. Und für die Ausstrahlung spricht ja auch, dass die Mönche nicht etwa, wie man sich das so vorstellen mag in unseren Zeiten, dass die alle nun beten den ganzen Tag. Sondern diese Klosterbrüder haben ein Gutteil des Bildungswesens in Brünn und in der Umgebung getragen, sie haben an den Gymnasien gelehrt zum Beispiel. "

Und die Stadt Brünn gehörte zu den frühen Orten der Industrialisierung. Sie wurde sogar als das Manchester Kontinentaleuropas bezeichnet, wie Staffan Müller-Wille erläutert:

" Und wie in Manchester waren es zwei Industrien, die Brauereien und die Textilindustrie, und einer der Hauptspieler in Brünn war das Kloster selbst. Das hatte natürlich Riesenländereien, das hatte Schafe für die Wollproduktion, es hatte Äcker für das Getreide, das die Brauereien brauchten, hatte selbst ne Brauerei, es war ein riesenökonomisches Unternehmen. Und in dem Zusammenhang ist Mendel auf die Frage der Vererbung gestoßen worden. Denn es gab einen Schafzüchterverein, wo viel diskutiert wurde über die Verbesserung der Schafwolle. Und man hat dort schon ganz scharf Vererbungsfragen eigentlich definiert. Und der Abt, der Mendel in das Kloster aufgenommen hat, Cyril Napp, hat in einer dieser Diskussionen die Frage aufgeworfen, die Mendel dann eigentlich in seinem Aufsatz aufgenommen hat, nämlich dass es wichtig sei zu klären, was vererbt wird und wie. "

Mendel beschränkte seine Experimente auf sieben Erbsen-Stämme mit deutlich unterscheidbaren Merkmalen, wie etwa: faltige und glatte runde Erbsen, grüne und gelbe Schoten, große Stängel und Zwergform.

Als er Pflanzen mit den jeweiligen Merkmalspaaren kreuzte, stellte er überrascht fest, dass sich entgegen der damals herrschenden Lehrmeinung die Merkmale – oder Eigenschaften - beim Nachwuchs nicht mischten. Das heißt: Wenn ein Elternteil glatte runde und der andere faltige Erbsen ausbildete, zeigte die nächste Pflanzengeneration entweder runde oder faltige Erbsen. Diese Erkenntnis formulierte Mendel in seiner "Regel von der Uniformität der Vererbung".

Die zweite wichtige Erkenntnis war, dass sich die verschiedenen Merkmale unabhängig voneinander vererbten.

Seine dritte Regel nannte Mendel Dominanzregel: Bei der Kreuzung von Merkmalspaaren – also in diesem Beispiel faltige Erbsen mit runden Erbsen – zeigt sich bei der nächsten Generation eines der beiden Merkmale, es ist also dominant, während das andere verborgen bleibt. Mendel bezeichnete es als "rezessiv". Beide, dominante wie rezessive Merkmale, werden weiter vererbt und zeigen sich beim Nachwuchs dieser Pflanzengeneration im Verhältnis drei zu eins:

Das heißt: Von vier Pflanzen sind drei erneut mit dem dominanten Merkmal ausgestattet, während bei einer das zuvor rezessive nun in Erscheinung tritt.

"Ein bitterkalter Februarabend in der Stadt, erleuchtet von Gaslampen und eingehüllt in Schnee. Durch die Johannesgasse hallen Schritte; vor dem Eingang zur Oberrealschule stampfen zusammen gedrängte Gestalten mit den Füßen auf dem Pflaster herum, und als man Begrüßungen ruft, steigt der Atem in Wolken durch die Lichtkegel auf. Gustav Niessl, der Sekretär des Naturforschenden Vereins Brünn, weist den Mitgliedern den Weg in den Versammlungssaal. Ein Publikum von 45 Personen."
Der Schriftsteller Simon Mawer über den Abend des 8. Februar 1865, an dem Gregor Mendel seine Erkenntnisse erstmals einem Fachpublikum präsentierte.

"Versuche über Pflanzenhybriden, unter besonderer Berücksichtigung der Gartenerbse ‚Pisum Sativum’." So hatte er seinen Vortrag genannt.

"Er sprach über Zahlen und Verhältnisse, über Zufall und Wahrscheinlichkeiten, über Merkmale und ihre Trennung. - Ist es verwunderlich, dass sich Schweigen über den Saal senkte, das Schweigen des Unverständnisses, der Gleichgültigkeit und der Langeweile? Ist es verwunderlich, dass der Applaus am Ende dünn und die Glückwünsche lauwarm waren?"

Mendel trug bahnbrechende Erkenntnisse vor, doch das erkannte keiner der Gäste. Immerhin bat Professor Niessl ihn, seinen Vortrag für das Jahrbuch des Naturforschenden Vereins niederzuschreiben. Diesen Aufsatz schickte der Verein an 120 wissenschaftliche Institutionen in Europa: An die Universitäten Wien und Berlin, an die Royal Society und die Linnean Society in London; nach Uppsala, Paris, Rom und St. Petersburg. Niemand beachtete den Text.

Am Silvesterabend 1866 schickte der Mönch ein Exemplar seines Aufsatzes an Karl Wilhelm Nägeli, einen der damals bedeutendsten Botaniker. Der Professor hatte in seinen Schriften auch Fragen der Vererbung angeschnitten. Mendel schrieb im Begleitbrief:

"Hoch geehrter Herr, die anerkannten Verdienste, die Euer Hochwohlgeboren in der Bestimmung und Einreihung wild wachsender Pflanzenbastarde erworben haben, machen es mir zur angenehmen Pflicht, die Beschreibung einiger Versuche über künstliche Befruchtung an Pflanzen zur gütigen Kenntnisnahme vorzulegen."

Nägelis Antwort kam zwei Monate später:

"Verehrter Herr College, es scheint mir, dass die Versuche mit Pisum nicht abgeschlossen seien, sondern dass sie erst recht beginnen sollten ...."

Zehn Jahre Arbeit, über 12.000 Kreuzungsversuche, verbunden mit der statistischen Erfassung von Eigenschaften und Vererbungsgeschichte aller Pflanzen, und dann das ... Mendel stellte die Erbsen-Experimente ein, setzte seine Versuche aber mit anderen Pflanzen fort. 1870 schrieb er wieder an Nägeli:

"Unter den Experimenten der vergangenen Jahre wurden diejenigen mit Levkojen, Mais und Wunderblume nun abgeschlossen. Ihre Hybride verhalten sich genau wie die von Pisum."

Dem Herrn Professor in München fiel immer noch nicht auf, dass Mendels Erkenntnisse bahnbrechend waren. Nun gab der Mönch auf. Und die Geschichte galoppierte gewissermaßen über ihn hinweg: Die fast zeitgleich publizierten Erkenntnisse und Theorien eines anderen Naturforschers zogen Wissenschaftler auf der ganzen Welt in ihren Bann. Sein Name: Charles Darwin. Mit seinem 1859 veröffentlichten Buch "Über die Entstehung der Arten", und dem späteren Werk "Die Abstammung des Menschen", löste er weltweit hitzige Diskussionen aus.

Denn damals galt der Schöpfungsmythos noch als unantastbare historische Wahrheit: Danach hatte Gott sämtliche Lebewesen in ihrer heutigen Gestalt kreiert. Darwin aber behauptete, die verschiedenen Lebewesen hätten sich, von einem gemeinsamen Urahn abstammend, im Laufe von Jahrmillionen entwickelt.

Der Wissenschaftshistoriker Reinhard Mocek: " Wenn man überlegt, Darwin setzt auf Veränderung der Arten. Im Zentrum der Mendelschen Betrachtung stand die Konstanz dessen, was geschieht. Es interessierte Mendel nicht, wie sich die Gene plötzlich verändern und was bei einer Mutation passiert. Sondern er studierte das, was bei einem normalen Entwicklungsgang bei einer Art bis zur nächsten und übernächsten Generation geschieht. Das waren zwei andere Blickwinkel, die man hier hatte. Und insofern, als damals dieser erste auf Veränderung der Arten zielende Blickwinkel europaweit und darüber hinaus im Vordergrund stand, hat Mendels Herangehen kein solches Interesse geweckt. "

Niemandem fiel auf, dass Mendels und Darwins Erkenntnisse einander perfekt ergänzten. Auch Gregor Mendel selbst nicht, obwohl er Darwins Bücher las. Dafür bemerkte er etwas anderes: Charles Darwin, der die Evolution über Jahrmillionen so treffend beschrieben hatte, lag falsch mit seinen Erwägungen darüber, wie sich Merkmale oder Eigenschaften weiter vererben.
Mendel schrieb an den Botaniker Nägeli: "Darwins Behauptungen über die Hybridbildung der Gattungen müssen in vielerlei Hinsicht korrigiert werden."

Und damit hatte er Recht. Nur hörte wieder niemand auf ihn.

Im Widerspruch zu Mendels Erkenntnissen behauptete Darwin, dass von den Eltern vererbte Merkmale sich bei den nachfolgenden Generationen immer weiter vermischten. Falsch war außerdem, so der Evolutionsbiologe Professor Ulrich Kutschera:

" Er hat die Vorstellung einer Vererbung erworbener Körpereigenschaften akzeptiert. Die Ursachen der biologischen Variabilität, Grundlage für das Ausleseprinzip, waren ihm völlig unbekannt. Die Fachleute sind sich eigentlich einig, dass Darwin mit seiner Vererbungstheorie völlig daneben lag. "

Genau dieses Defizit in Darwins Theorie hätten Mendels Erkenntnisse behoben: Schließlich hatte er ganz grundlegende Mechanismen der Vererbung entdeckt. Doch Gregor Mendels Aufsatz verstaubte in den Archiven der wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen. Bis zum Jahr 1900.

Da entdeckte ihn die Fachwelt plötzlich wieder. 35 Jahre, nachdem der Mönch seine Erkenntnisse veröffentlicht hatte, und 16 Jahre nach seinem Tod.

Staffan Müller-Wille erklärt: " Das ist eigentlich ein ganz erstaunlicher wissenschaftshistorischer Vorgang, dass dann immerhin drei andere Botaniker gleichzeitig Mendels Aufsatz wieder entdecken. Das sind alles drei Botaniker, die Kreuzungsversuche machen mit unterschiedlichen Fragerichtungen. Und alle drei stoßen in diesem wunderbaren Jahr 1900 auf Mendels Aufsatz, und da macht es bei ihnen Klick und sie erkennen, das ist was, was das Feld der Vererbungsforschung voranbringen kann. Alle drei veröffentlichen dann ihre Beiträge fast gleichzeitig. Und damit steht Mendel im Raum. Und innerhalb weniger Jahre gibt es dann den Mendelismus. "

Die Wiederentdecker Mendels forschten in der angewandten Biologie: Eines ihrer Ziele war, Getreide und andere Nutzpflanzen zu züchten, die höhere Erträge brachten und widerstandsfähiger gegen Krankheiten oder widrige klimatische Verhältnisse waren. Diese Forscher experimentierten wie Mendel mit einfachen reinerbigen Organismen.

Staffan Müller-Wille: " Und das ist eben das, was die Situation um 1900 von der Situation um 1865, als Mendel seinen Aufsatz veröffentlicht, massiv unterscheidet. Das sind neue Züchterverfahren, und mit denen lässt sich eben ganz anders arbeiten. Und plötzlich macht alles das, was Mendel gemacht hat, für ganz viele Leute Sinn. Da kommt natürlich auch viel Ideologie ins Spiel. So ein bisschen wie heute. Dass man da riesige Versprechen machte: wir haben jetzt die Methode gefunden, mit der sich alle möglichen Probleme – Welthunger usw. - lösen lassen, aber dennoch, so dieses Grundverständnis des Mendelismus, nämlich dass der Organismus in gewisser Weise aus Erbanlagen zusammengesetzt ist, die sich miteinander frei kombinieren lassen, das hatte 1900 eine ungeheure Attraktivität. "

1906 gab der britische Botaniker William Bateson der neuen Forschungsrichtung den Namen Genetik. Das Wort bezieht sich auf das griechische "gennein" für "erzeugen". Und den davon abgeleiteten Begriff "Gen" prägte wenig später der dänische Pflanzenphysiologe und Mendel-Anhänger Wilhelm Johannsen.

Mit diesem Wörtchen wollte der Forscher ausdrücken, dass etwas nicht näher Beschreibbares in Keimzellen von Organismen existiert, das deren Eigenschaften bestimmt.

Einen großen Schritt voran kamen die Genetiker, als sie nun Darwins Evolutionslehre mit den Mendelschen Regeln der Vererbung kombinierten. Diese neue Theorie bezeichneten sie als "Synthetische Theorie der Evolution" oder Neodarwinismus, erklärt der Evoutionsbiologe Ulrich Kutschera:

" Es war der berühmte August Weismann, ein Zoologe aus Freiburg, der die neodarwinsche Theorie begründet hat. Und der Neodarwinismus ist im Grunde eine korrigierte, bereinigte Fassung von Darwins Selektionstheorie. August Weismann hat erstens widerlegt, dass es Vererbung erworbener Eigenschaften gibt, er hat zweitens gezeigt, dass es bei Tieren zu einer Keimbahn-Soma-Differenzierung kommt, das heißt, jene Zellen, aus denen die Keimzellen hervorgehen, werden früh in der Entwicklung abgesondert, der Körper, das Soma, stirbt, nur die Keimbahn überlebt. Und dann bedenken Sie bitte, dass natürlich keinerlei Vorstellungen zu den molekularen und biochemischen Mechanismen damals klar waren. "

Die Synthetische Theorie der Evolution war in der wissenschaftlichen Welt längst allgemein akzeptiert, als in der Sowjetunion plötzlich immer lautere Kritik am sogenannten "Mendelismus" ertönte. Treibende Kraft war der Bauer und Züchter Profim Denissowitsch Lyssenko, wie Professor Reinhard Mocek erklärt:

" Es war ein Zeitpunkt von'36 bis '48, wo erstmal im Kriege Lyssenko durch einige Maßnahmen, die heute zum Teil auch umstritten sind, sich gut in das Ohr von Stalin platzieren konnte, nämlich dadurch, dass er z.B. durch seine besonderen Samenbehandlungen erreichen konnte, dass die Anbaugrenze bestimmter Getreidearten aus dem russischen Süden also aus dem kaukasischen Süden, diesen klimatisch begünstigten Gebieten, weiter in den bitterkalten Norden verschoben werden konnte. Das ist auch inzwischen umstritten, aber es war natürlich propagandistisch entsprechend unterstützt, so die Kernthese, dass man die Erbanlagen gezielt beeinflussen kann. Das ging natürlich gegen Mendel. Das war klar. "

Erbanlage war aber nach Lyssenkos Ansicht der gesamte Organismus: Umwelteinflüsse würden einen Körper – egal ob von Pflanzen oder Tieren - verändern. Und diese Veränderung würde er weiter vererben. Dass es spezifische Erbanlagen - also Gene - gab, bestritt er.

Der Hintergrund: Als Lyssenko seine Arbeit in den 1930er Jahren begann, waren die landwirtschaftlichen Erträge in der Sowjetunion dramatisch zurückgegangen, weil sich viele Bauern gegen die Zwangskollektivierung wehrten. Damals verhungerten Millionen Menschen.

Reinhard Mocek: " Der Impuls, dass Lyssenko plötzlich alle politischen Ohren in dieser Stalinzeit damals gewann, war, die politische Verunglimpfung in der Richtung, mit dem Mendelismus und der Konstanz der Arten können wir unsere landwirtschaftlichen Probleme nicht lösen. "

Die längst widerlegte These von der Vererbung erworbener Eigenschaften passte besser ins politische Konzept. Bezogen auf die Landwirtschaft bedeutete das: Wenn man Nutzpflanzen gezielt bestimmten Umweltbedingungen aussetzte, würden Pflanzen an die neuen Bedingungen angepasste Eigenschaften entwickeln, die sich weiter vererbten. Mitte der 50er Jahre belegten mehrere Studien, dass Lyssenkos Thesen haltlos und vermeintliche "Beweise" gefälscht waren. Dennoch wurde der Lyssenkoismus erst Mitte der 60er Jahre als offizielle Lehrmeinung widerrufen.

Und während jener Jahre, in denen Lyssenkos "neue Genetik" in der Sowjetunion als eine Art Staatsdoktrin galt, wurden viele sogenannte "Mendel-Genetiker" in Arbeitslager geschickt oder hingerichtet. 1948 erklärten sowjetische Funktionäre die Mendel-Genetik offiziell zur "bourgeoisen Pseudowissenschaft".

Der Lyssenkoismus setzte sich auch in anderen Ostblockländern durch, sowie in China und in der DDR. Professor Reinhard Mocek, der in der DDR studiert hat, erinnert sich:

" Ich habe in Leipzig Philosophie und Biologie studiert. Und wir hatten dort Vorlesungen von lyssenkoistisch geprägten Professoren, das waren, glaube ich, zwei, und einen ganz engagierten Vertreter der Mendelgenetik. Also ich hatte damals - ich studierte von '54 bis '58 - die ganze Palette und keiner ging auf den anderen richtig ein. Also wir hörten erst dieses biologische Weltbild und in der nächsten Vorlesung jenes. Bloß in der Volksbildung gabs dann am längsten so ein beharrendes Moment für die Lyssenkoische Biologie. "

Jenseits des sowjetischen Machtbereiches hatte sich unterdessen die Genforschung entscheidend weiter entwickelt. Obwohl die Forscher bis in die 60er Jahre hinein nicht genau wussten, was ein Gen eigentlich genau ist, und woraus es besteht.

Staffan Müller-Wille: " Es sammeln sich aber auch schon in dieser Tradition der klassischen Genetik immer mehr Hinweise darauf an, dass es sich bei Genen irgendwie um materielle Teilchen handeln muss. Aber aus sich selbst heraus kann die klassische Genetik das Gen nicht als materielles Partikelchen sozusagen wahrnehmen. Das ist dann nen zweiter Strang, der relativ unabhängig von der Genetik ins Spiel kommt, und das ist die molekulare Biologie, in der auch sensationelle Fortschritte gemacht werden. "

So widerlegte Barbara McClintock 1949 die bis dahin geltende Überzeugung, Gene seien an bestimmten Orten fest in ein Chromosom eingebunden. Die Botanikerin entdeckte springende Gene, die ihre Position verändern und sogar in andere Chromosomen wechseln können. Damit hatte sie eine der Ursachen gefunden, warum Organismen einer Art so variationsfähig und vielfältig sind.

Und die überholte These von der Vererbung erworbener Eigenschaften kehrte in einem ganz neuen Gewand zurück: Äußere Einflüsse, die direkt auf die Keimzellen einwirken und sie verändern, werden tatsächlich vererbt. Welche Einflüsse das im Einzelnen sein können, wird derzeit wieder diskutiert. Bereits damals aber erkannten Forscher, dass sich Genmaterial durch Beschuss mit radioaktiver Strahlung verändert.

Nun entdeckten Forscher auch die Bausteine der DNA: Ein Skelett aus Zucker und Phosphat, und damit irgendwie unregelmäßig verbunden die vier Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin. Damit war der Grundstein gelegt für eine der wichtigsten Erkenntnisse in der Geschichte der Genforschung: die Entdeckung der DNA-Struktur 1953:

Der Biologe James Watson und der Biophysiker Francis Crick vom Cavendish-Laboratorium in Cambridge profitieren von der Vorarbeit anderer Wissenschaftler: Neue Röntgenaufnahmen der Kristallographin Rosalind Franklin lassen erstmals die Umrisse des geheimnisvollen Moleküls erahnen. Außerdem hilft den Beiden die Erkenntnis des Biochemikers Erwin Chargaffs, dass die Basen der DNA immer paarweise angeordnet seien.

Und so basteln die Jungforscher mit Metallkügelchen und –stangen an einer Struktur, die diese Erkenntnisse berücksichtigt. Im März 1953 passt plötzlich alles zusammen. Und Watson notiert hochgemut:

”Unser Modell ist ein seltsames Modell und weist mehrere ungewöhnliche Züge auf. Doch da die DNA ja eine ungewöhnliche Substanz ist, schrecken wir vor keiner Kühnheit zurück.”

Mit der Entdeckung der DNA-Doppelhelix begann das jüngste Kapitel der Genforschung: die Molekular-Genetik.

Knapp 100 Jahre, nachdem Charles Darwin und Gregor Mendel die Grundlagen gelegt hatten. Doch während einer dieser beiden "Väter" der Genetik - Charles Darwin - sofort als herausragender Forscher erkannt und gewürdigt wurde, blieb dem zweiten bis zum Ende seines Lebens jegliche Anerkennung als Wissenschaftler versagt.

Mendel selbst aber ahnte, dass sich dieses Blatt eines Tages wenden würde. Im Oktober 1883, knapp drei Monate vor seinem Tod, erklärte er in einer Ansprache:

"Mir haben meine wissenschaftlichen Arbeiten viel Befriedigung gebracht, und ich bin überzeugt, dass es nicht lange dauern wird, da die ganze Welt die Ergebnisse dieser Arbeiten anerkennen wird."


Literatur:

Simon Mawer: Mendels Zwerg
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Goldmann-Verlag 1997
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