Melodramatische Vergangenheitsbewältigung

Von Gerd Brendel · 23.05.2012
Das Berliner Hebbel am Ufer (HAU) zeigt in einem kleinen Festival Theatergruppen aus Lateinamerika, die die Geschichte von Diktatur und Gewaltherrschaft in ihren jeweiligen Ländern dramatisch verarbeiten. Da geht es um Drogenbosse in Kolumbien, linke Politaktivisten in Mexiko oder die Militärdiktatur in Argentinien.
An diesem lauen Frühlingsabend in Berlin liegt Lateinamerika in einem Festsaal in Neukölln. Normalerweise feiern hier türkische Familien Hochzeit zwischen rosa Wänden und Säulen aus Gips, aber heute probt Senora Amparo aus Bogota hier ihren großen Auftritt:

"Vor 15 Jahren brachte ich einen Engel zur Welt."

Der "Engel" ist ein verwöhntes Gör aus der kolumbianischen Oberschicht. Zur Generalprobe ihrer Geburtstagsfeier hat der tuntige Event-Manager die Familie versammelt, oder das, was von ihr übrig ist:

"Ich bedanke mich bei allen Anwesenden und allen Abwesenden",

haucht Senora mit Tränen erstickter Stimme ein ums andere Mal ins Mikrofon, besonders bei einem Abwesenden, denn die zweite Hauptperson fehlt: Alicias Vater sitzt im Gefängnis. Die Gründe kann sich das Publikum denken, spätestens beim Auftritt des Leibwächters mit Pistole im Hosenbund.. Drogenbosse wie der fiktive Señor Amparo halten auch hinter Gittern die Fäden in der Hand.

Der Versuch, großbürgerliche Normalität zu demonstrieren, scheitert allerdings. In die Generalprobe zur Einführung der Tochter in die Gesellschaft platzt eine Morddrohung und die Probe versinkt im Chaos. Der junge Regisseur Jorge Hugo Marin hat es inszeniert, so hyperrealistisch wie eine Telenovela. Marin hört den Vergleich gern:

"Klar, weil wir in realen Orten spielen, und eine melodramatische Gesellschaft sind."

Die "melodramatischen Gesellschaften Lateinamerikas" bringen nicht nur in Kolumbien aufregendes Theater hervor. Ein paar der spannendsten Produktionen zeigt das Berliner HAU in dieser Woche.

Matthias Pees: "Die vereint fast alle, dass sich eine Generation von jungen Autoren und Regisseuren, meist beides zugleich, mit dem Nachleben beschäftigt, mit dem Nachleben von Diktatur und Gewaltherrschaft in den Ländern, aus denen sie kommen, in die sie selber zwar hineingeboren wurden, aber die sie nicht aktiv erlebt haben."

"La Vida después" - das Leben danach nennt Kurator Matthias Pees seine Auswahl von "jungen Regisseuren, die fragen: Was war da und. Was bedeutet das für uns heute?"

Diese Frage stellt sich das mexikanische Theaterkollektiv "Lagartuas tiradas al sol" Die Performer um Luisa Pardo inszenieren mit Spielzeugsoldaten und Modelleisenbahnen eine Art persönlichen Geschichtsunterricht: In "Die Sprache des Feuers" erzählt Luisa Pardo die Biografie ihrer Mutter, die jahrelang als linke Aktivistin im Gefängnis saß.

"Das Schwierigste war für mich, mich mit der Geschichte meiner Mutter zu konfrontieren, in Wirklichkeit wusste ich gar nichts von ihr. Gleichzeitig habe ich die Geschichte meines Landes rekonstruiert, die ich auch nicht kannte, die kaum jemand kannte."

Am wenigsten die Zuschauer in Berlin. Staunend erfahren die von Studentenrevolten und Guerilla-Kämpfen aus einem Land, das wieder vor einem Bürgerkrieg zu stehen scheint.

In Argentinien sind die Jahre politischer Gewalt lange vorbei. Die Frage nach dem Leben danach, nach der Militärdiktatur stellen junge Künstlerinnen wie Lola Arias um so drängender: Wie Luisa Pardo verknüpft Arias persönliche mit politischer Geschichte.

"Als ich geboren wurde, explodierte ein Eierstock meiner Mutter ... Blut überall ... Als ich geboren wurde. explodierte mein Land in einem Militärputsch."

In "melancolia y manifestaciones - Melancholie und Protest" steht die 1976 geborene Regisseurin selbst auf der Bühne. Hinter ihr spielen betagte Laienschauspieler die Geschichte ihrer Mutter nach. Die verfiel nach Lolas Geburt und nach dem Putsch in eine tiefe Depression.

War die Depression, die chronische Melancholie der Mutter ein anarchischer Protest gegen die Gewalt der Militärs? Am Ende kippt das Stück: Das Familientableau wird zur Publikumsbeschimpfung. Die Darsteller im Rentenalter verlassen ihre Statistenrolle und stellen sich vor dem Publikum auf: "Wir riechen andere alte Leute hier", beginnen sie ihren Text. "Wir haben es satt, wie lebende Tote zu vegetieren. Auch wir wollen leben, begehrt werden und am Ende den großen Abgang von der Bühne und tosenden Schlussapplaus."

Den spendet das überrumpelte Berliner Publikum gerne, dankbar für ein Stück universeller Wahrheit im Theater. Den großen Abgang: Wer wünscht sich ihn nicht, egal ob in Buenos Aires, Bogota, Mexiko oder Berlin.

Hinweis:
Das Festival ist noch bis zum 26.5.2012 im Berliner Hebbel am Ufer (HAU) zu sehen. Danach gastiert der kolumbianische Regisseur Hugo Marin bei den Wiener Festwochen. Luisa Pardo wird mit ihrem Stück beim "Theaterformen"-Festival ab dem 31. Mai in Braunschweig zu sehen sein.