"Meine Familie war vogelfrei"

Moderation: Tom Grote · 16.08.2007
Schläge, Vergewaltigung, Folter - die Familie von Emily Wu wurde während der Kulturrevolution in China drangsaliert, weil sie als reich und intellektuell galt. Emily Wu überstand die Jahre der Repression und hat nun ein Buch darüber geschrieben.
Tom Grote: "Yimao" kommt aus dem Chinesischen und heißt so viel wie Feder. Und Yimao ist auch der chinesische Name von Emily Wu. Die Schriftstellerin ist in China groß geworden zu Zeiten, als Mao über das Land herrschte und Millionen Menschen starben. Emily Wu hat diese Zeit miterlebt und darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel "Feder im Sturm, meine Kindheit in China", das heute in Deutschland erscheint. Frau Wu, ich fand es ein sehr bewegendes Buch und hatte beim Lesen den Eindruck, Maos Herrschaft über China hat in den Menschen vor allem die negativen Eigenschaften verstärkt, wie sehen sie das?

Emily Wu: Ja, Sie haben absolut Recht. Es war sehr, sehr hart in diesen Zeiten in China zu leben, und ganz besonders für ein Kind. Es war sehr, sehr schwierig dort aufzuwachsen unter diesen schwierigen Umständen.

Grote: Sie wurden vergewaltigt, Ihre Eltern wurden gefoltert, Sie mussten erleben, wie Kinder getötet wurden und vieles Schreckliche mehr. Was hat Ihnen die Kraft gegeben, das alles zu überstehen?

Emily Wu: Ich war manchmal an dem Punkt aufgeben zu wollen. Ich habe auch an Selbstmord gedacht. Aber letztendlich war mein natürlicher Überlebensinstinkt stärker. Ich konnte diese schwierigen Zeiten überstehen, weil meine Familie mir geholfen hat, meine erweiterte Familie, meine Freunde, meine Verwandten. Und letztendlich hat mir auch geholfen, dass ich ein positiv denkender Mensch bin. Ich versuche in allen Situationen im Leben, dieses Licht im Dunkeln zu sehen. Das hat mir geholfen und deswegen habe ich weitergemacht.

Grote: In Ihrem Buch ist auch die Rede davon, Ihre Familie sei eine schwarze Familie gewesen und Ihr Vater ein Rechtsabweichler. Was bedeutet das?

Emily Wu: Im kommunistischen China wurden die Menschen in verschiedene Kategorien eingeteilt. Es gab grundsätzlich gute oder böse Familien, die guten waren grundsätzlich die roten, die in fünf Kategorien unterteilt wurden, unter ihnen zum Beispiel die Arbeiter und Bauern sowie die Revolutionäre. Und die bösen, die schwarzen Familien waren in neun Kategorien unterteilt, unter ihnen zum Beispiel Vermieter, Reiche, gegen die Revolution eingestellte Menschen, schlechte Elemente insgesamt, Verräter, Spione und ganz besonders Intellektuelle. In meiner Familie war von diesen neun schlechten Elementen mindestens die Hälfte zu finden. Meine Großmutter väterlicherseits zum Beispiel vermietete Wohnraum. Die Familie meiner Mutter war sehr reich. Mein Vater hatte in den USA studiert und war dadurch automatisch zum Spion der USA geworden. Dadurch wurde er in der Kampagne gegen Rechtsabweichler als Rechtsabweichler denunziert. Ganz besonders war meine Familie beidseitig als intellektuell eingestuft worden. Das heißt, es gab alle Gründe, meine Familie zu verfolgen. In meiner Familie fand sich alles Schlechte, das es überhaupt nur gab. Dadurch wurden meine Familienangehörigen schlechter behandelt als Mörder, sie waren vogelfrei. Es gab keine Gesetze, man konnte sie schlagen, verfolgen, man konnte unsere Familie ohne Prozess ins Gefängnis stecken.

Das gesamte Gespräch mit Emily Wu können Sie bis zum 16.1.2008 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio