Mein zweiter Sohn namens Jesus

28.05.2012
Joseph, der Held! In diesem Roman spielt der biblische Ziehvater des Gottessohns die Hauptrolle spielt. Josephs Träume, Visionen, Ängste und existenzielle Erfahrungen holt der in Los Angeles lebende Autor in die Gegenwart.
In "Bücher" eingeteilt sind die heiligen Schriften von Juden und Christen, Tanach und Altes Testament. "Das Buch Joseph" lautet der Untertitel des neuen Romans "Sunrise" von Patrick Roth. Ein Stück Literatur, das sich formal und thematisch an die Bibel, sprachlich an die eigenwillige Buber-Rosenzweig-Übersetzung anlehnt - und damit in stattlicher Entfernung von allem zu betrachten ist, was derzeit als "Roman" gelabelt auf dem Markt erscheint.

Der 1953 in Freiburg geborene, in Los Angeles lebende Autor schafft auf gut fünfhundert Seiten ein Stück abendländischer Literatur, in dem Traditionen zusammenfinden, die unsere Erzählkultur von ihren Anfängen bis in die Gegenwart geprägt haben. Da ist das Vertrauen auf das Wort, seine Kraft und die der Überlieferung. Das Erschaffen eines Erzählraumes, in dem der Leser die Erfahrung von Jahrtausenden streift und verzückt erschaudert.

Wie ist es möglich, so einen Text zu verfassen, im durchdigitalisierten, durchkommerzialisierten, zynisch auf- und abgeklärten 21. Jahrhundert? Einen Text, durchglüht von heiligem Ernst, archaischer Gewalt und Schönheit. Reine Literatur, lebendiges Leben, phantastisch und existentiell.

Eigenwillig verbindet der Autor, der neben Sprachen auch das Filmhandwerk studiert hat, mythologische mit alltäglichen Situationen. Wiederholt stellt er Fragen nach Schuld und Erlösung, Tod und Auferstehung, nach Transzendenz. Die Archetypen des Kinos, der Tiefenpsychologie und der Bibel sind glänzenden Fäden, mit denen Patrick Roth Romane webt. In "Sunrise" kommt noch Musik hinzu: Die Sprache des Romans wechselt in Tonlage und Rhythmus souverän zwischen Harfenliedern und Punk, alles Dazwischenliegende wird selbstverständlich mit einbezogen.

Die Handlung beginnt im Jahr 70 unserer Zeit. Die Legionen des römischen Kaisers Vespasian stürmen Jerusalem und zerstören den Tempel. Einige Männer aus der Umgebung machen sich auf den Weg, um die Grabstätte Jesu vor Verwüstungen zu schützen. Nur zwei von ihnen gelingt es, in die Stadt zu gelangen. Sie treffen auf eine alte Ägypterin, die ihnen zwar nicht den Weg zum Grab weisen kann, doch von Joseph zu berichten weiß, "einem Menschen, dessentwegen Himmel und Erde geworden sind."

Retrospektiv erzählt sie nun die Geschichte des Vaters von Jesus, der weder in der religiösen, noch fiktionalen Literatur je eine große Rolle zu spielen hatte. Patrick Roth macht diese "Nebenfigur" – nicht als Theologe, sondern als Dichter, in genauer Kenntnis historischer und bibelwissenschaftlicher Fakten – zu einem gewaltigen Helden, der Vergleiche mit Odysseus oder Hiob nicht zu scheuen braucht. Der Zimmermann, erfahren wir, war bereits einmal verheiratet gewesen, hatte seinen Sohn Jesus als Säugling bei einem Sturm auf See verloren. Maria ist seine zweite Frau und deren Sohn erhält wiederum den Namen Jesus.

Die Not und die Zweifel, die Joseph durchlebt, als er erfährt, dass Maria schwanger ist, stellt Patrick Roth ebenso überwältigend dar wie die Zerrissenheit des Mannes, als er auf Geheiß Gottes, Jesus dreizehnjährig opfern soll. Doch widersetzt sich Joseph. Er liebt den Sohn mehr und wird gestraft mit Taubheit und Blindheit. Er geht seiner Familie verloren, streift zwanzig Jahre durchs Land, hat Träume und Visionen, hält weiterhin die Last der Existenz, Angst und Gewalt aus. Wer ihn als Leser begleitet, bekommt am Ende eine Idee vom Sinn des Lebens, wird in einen Sonnenaufgang der Erkenntnis geführt.

Besprochen von Carsten Hueck

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
509 Seiten, 24,90 Euro