Mein Gehirn, das bin ich

06.07.2013
Der Neurowissenschaftler Sebastian Seung meint, das Ich eines Menschen sei das Ergebnis aller Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Der Schaltplan in unserem Kopf sei aber veränderbar. Sein Buch informiert auch über die neusten Entwicklungen in der Hirnforschung.
Das menschliche Gehirn ist auch für Wissenschaftler ein undurchschaubares Durcheinander. Seine 100 Milliarden Nervenzellen bilden nicht weniger als 100 Billionen Kontakte untereinander. Der Schaltplan der Nervenzellen, das so genannte Konnektom, soll nun detailliert untersucht werden. Darin ist, so vermuten viele Hirnforscher, die Persönlichkeit jedes Menschen gespeichert.
Sebastian Seung ist einer der führenden Köpfe auf seinem Gebiet. Der Neurowissenschaftler forscht an der Eliteuniversität MIT in den USA. Dennoch hat er den Kontakt zum Alltag nicht verloren, und so gelingt es ihm, verständlich und spannend über die neuesten Entwicklungen seiner Fachrichtung zu schreiben. Er taucht tief ein in die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Nervenzellen in unserem Kopf. Ständig sind die Zellen mit ihren langen Ausläufern auf Kontaktsuche. So entstehen immer wieder neue Verknüpfungen, während alte gelockert oder sogar gelöst werden. So brennen sich neue Erinnerungen in unser Gedächtnis, während alte verblassen oder sogar verschwinden.
Das ganze Leben eines Menschen wird als Schaltplan in seinem Gehirn gespeichert. Nicht das Erbgut im Innern der Zellen oder die persönliche Umwelt sind es, die den Menschen ausmachen, sondern sein Konnektom, der Schaltplan der Billionen Kontakte zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Das führt Sebastian Seung zu der These: "Du bist mehr als dein Genom. Du bist dein Konnektom." Er nennt zahlreiche gut nachvollziehbare Argumente für diese These, stellt sie aber auch immer wieder in Frage.

Fadenwürmer, Fliegen und Mäuse als Probanden
Besonders aufschlussreich ist sein Blick in die Geschichte der Hirnforschung. Immer wieder führten einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse zu Fehlschlüssen und Überinterpretationen. Zunächst konzentrierten sich die Wissenschaftler auf die Größe des Gehirns, später auf den Aufbau und die Form einzelner Hirnbereiche. Immer wieder glaubten sie, die Ursache für Intelligenz oder abnormes Verhalten gefunden zu haben. Später wurden diese "Erkenntnisse" fast vollständig widerlegt.
Nun steht das Konnektom im Mittelpunkt wissenschaftlicher Diskussionen. Zunächst wird es an Fadenwürmern, Fliegen und Mäusen untersucht. Die Methodik, um den Schaltplan in allen Einzelheiten zu erforschen, wird immer besser, und so könnte in zehn oder zwanzig Jahren auch der persönliche Schaltplan eines Menschen in den Computern der Wissenschaftler abrufbar sein. Was Forscher darin lesen werden, lässt sich heute nicht einmal erahnen.
Zum Ende seines Buches verlässt Sebastian Seung den festen wissenschaftlichen Boden; aber auch seine Überlegungen zur Zukunft der Neurowissenschaft bleiben spannend und nachvollziehbar. Er liefert eine anregende Lektüre, geeignet für alle, die keine Angst vor wissenschaftlichen Details haben und im Bereich Neurowissenschaft auf dem neuesten Stand sein wollen.

Besprochen von Michael Lange

Sebastian Seung: Das Konnektom: Erklärt der Schaltplan des Gehirns unser Ich?
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Monika Niehaus
Verlag Springer Spektrum, Heidelberg 2013
304 Seiten, 24,99 Euro.