Mehrfachagent und freischaffender Nazi

09.03.2011
François Genoud half NS-Verbrechern ebenso wie arabischen Terroristen. Mit "Der Schattenmann" skizziert Willi Winkler zwar die historischen Kontexte im Leben des Schweizer Bankiers und liefert einen Einblick in die Abgründe der Geheimdienste. Eine ultimative Biographie Genouds ist ihm aber nicht gelungen.
"The truth is, I loved Hitler" – "die Wahrheit ist, ich liebte Hitler", gestand der Schweizer Banker François Genoud kurz vor seinem Tod der Journalistin Gitta Sereny. Die Vergangenheitsform des Bekenntnisses täuscht: Genoud, der 1932 als junger Mann dem Führer in spe begegnet war und zum Spion der deutschen Abwehr avancierte, hörte bis zu seinem Suizid 1996 nicht auf, sein Idol, und die Nazis überhaupt, zu lieben.

Er finanzierte die Verteidigung Adolf Eichmanns und Klaus Barbiers ("Schlächter von Lyon"), unterstützte braune Seilschaften, bereicherte sich durch Urheberrechtsgeschäfte an den Schriften Hitlers, Goebbels und Bormanns, leugnete den Holocaust und gab sich dabei stets als treuherziger Idealist aus, der in Hitler den Vorkämpfer eines brüderlichen Europas verehrte.

Genoud, so Willi Winkler, war "kein Großverbrecher, er hat kein Blut an den Händen, er war bloß ein freischaffender Nazi" – und zugleich Doppel- und Dreifachagent, der palästinensische Terrorgruppen und die international operierenden Top-Terroristen Carlos und Wadi Haddad förderte. Zu seinen Freunden zählten der Islamist Mufti al-Husseini, der Kriegsverbrecher Hans Rechenberg, der ehemalige Nazi-Spion und spätere BKA-Chef Paul Dickopf sowie eine Unzahl anderer zwielichtiger Gestalten.

Winkler erheischt das Wohlwollen des Lesers, indem er seinem Buch den Satz voranstellt: "Für eine gute Geschichte hat die folgende einfach zu viele Namen." Doch Winkler ist für den riesigen Wirkungskreis Genouds, der sich von Europa über Nahost bis nach Südamerika erstreckte, natürlich nicht verantwortlich. Und auch nicht dafür, dass die Geschichte in Wirklichkeit himmelschreiend ist, indem sie ein weiteres Mal das Fortwirken von Nazis und Nazi-Ideologie nach 1945 aufdeckt.

Winkler skizziert die historischen Kontexte – das Ende der Naziherrschaft, den Eichmann-Prozess, die Befreiungskämpfe in Algerien, den internationalen Terrorismus der 70er-Jahre – recht ausführlich. So kann sich der Leser an vertrauten Koordinaten orientieren, während er in die Abgründe der Geheimdienste und Terrornetzwerke eintaucht und Genouds mysteriöse Strippenzieherkunst kennenlernt.

Nicht zuletzt, weil der Bundesnachrichtendienst und mehrere Schweizer Behörden Winkler den Archivzugang verweigerten, ist "Der Schattenmann" keineswegs die ultimative Biografie Genouds und auch kein Psychogramm im engeren Sinne.

Winkler vertieft vielmehr die Vorarbeiten von Karl Laske ("Ein Leben zwischen Hitler und Carlos: François Genoud", 1996) und Pierre Péan ("L'extremiste. François Genoud: De Hilter à Carlos", 1996) und macht am Lebensweg des Schattenmannes exemplarisch sichtbar, wie sich die linken und rechten Extreme des 20. Jahrhunderts berührten.

Übrigens: Selbst Iris Berben bekam noch Genouds posthume Macht zu spüren, als sie 2002 an mehreren Orten aus den Tagebüchern von Anna Frank und Josef Goebbels vorlas. Der Gebrauch von Goebbels-Texten, darauf bestand Genouds alte Freundin Cordula Schacht, sei wegen des Urheberrechtsschutzes kostenpflichtig; also flossen Tantiemen. Aus Anna Franks Tagebuch durfte Berben hingegen gratis vortragen.

Besprochen von Arno Orzessek

Willi Winkler: Der Schattenmann. Von Goebbels zu Carlos: Das mysteriöse Leben des François Genoud
Rowohlt Berlin, Januar 2011
Hardcover, 352 Seiten; 19,95 Euro
ISBN 978-3-87134-626-2