"Mehr Mut zum Risiko"

Markus Schleich im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 01.10.2013
TV-Serien haben mehr Zeit, komplexe Charaktere zu entwickeln und schöne Geschichten zu erzählen. Darin vergleicht der Literaturwissenschaftler Markus Schleich sie eher mit Romanen als Kinofilmen. Den deutschen Markt blockierten aber vor allem die Entscheider und Produzenten.
Matthias Hanselmann: Wie werden die erfolgreichen, meist US-amerikanischen Fernsehserien erzählt, was macht sie so erfolgreich bei Millionen von Zuschauern? Das Feuilleton hat sich reichlich mit diesen Fragen beschäftigt, besonders in letzter Zeit, da wurde dann eine Serie wie "The Wire" schon mal als großer Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts bezeichnet und mit Balzac verglichen. Seit gut einem Jahr gibt es in Deutschland ein Forschungsprojekt von deutschen Literaturwissenschaftlern zu Erzähltechniken und -strategien dieser oft komplexen Serien. Auf einer Tagung im Saarland, die heute zu Ende geht, wurden die bisherigen Erfahrungen und Ergebnisse zusammengetragen. Markus Schleich ist Mitorganisator dieser Tagung. Mit ihm spreche ich gleich. Vorher lassen wir uns vom Kollegen Christian Bernd auf den neuesten Stand in punkto Fernsehserien bringen.

Hanselmann: Markus Schleich ist jetzt für uns in einem Studio der Universität des Saarlands. Guten Tag, Herr Schleich!

Markus Schleich: Guten Tag, Herr Hanselmann!

Hanselmann: Sie als Literaturwissenschaftler sind Komparatist und vergleichen folglich die Erzählweisen unterschiedlicher Autoren und Epochen. Wie kommt es, dass Fernsehserien jetzt in der Literaturwissenschaft angekommen sind?

"Charakterentwicklung in der Gänze aufzeigen"
Schleich: Ja, das hat zum einen sicherlich was damit zu tun, dass im Feuilleton schon seit Langem diese These herumgeistert, die Serien seien die Romane des 21. Jahrhunderts. Und da lag es für uns als Literaturwissenschaftler nahe, zu schauen, welche Methoden und Theorien aus unserem Fundus lassen sich denn auf Serien applizieren, um tatsächlich dem Erzählstrang auf die Schliche zu kommen. Und es ist nun so, dass Serien unglaublich viel Zeit haben. Das ist ja etwas, wo man im Film einfach reden kann. Filme haben im Durchschnitt 90 Minuten. Es wurde vorhin schon erwähnt, "Sopranos" liefen über sechs Staffeln, also wir reden hier über 60 Stunden. Da gibt es natürlich ganz andere Möglichkeiten, komplexe und ambivalente Figuren darzustellen und auch ihre Charakterentwicklung in der Gänze aufzuzeigen.

Hanselmann: Nach welchen Kriterien analysieren Sie eigentlich die Serien?

Schleich: Da gibt es verschiedene Ansätze. Also zum einen ist es sicherlich die Komplexität. Es gibt da eine sehr einflussreiche Liste von einem gewissen Robert J. Thompson von 1996, das bedeutet, uns interessiert, wie viele Stränge werden parallel erzählt. Uns interessiert, wie chronologisch wird erzählt? Gibt es quasi einen Flash nach vorne, einen Flash nach hinten?

Es ist ja gerade bei "Breaking Bad" eine ganz interessante Sache, wie hier erzählt wird. Das bricht ja mit unseren Sehgewohnheiten. Wir sind das ja eigentlich – ich nehme jetzt mal so ein Format wie Tatort – gewöhnt, dass eine Geschichte von vorne nach hinten erzählt wird, und "Breaking Bad" beginnt schon in der ersten Folge damit, das Ganze von hinten aufzuziehen. Das sind eben ganz interessante und spannende Phänomene, die sich in vielen Serien finden lassen.

Hanselmann: Was ist es eigentlich, was uns bei diesen Serien dran hält? Welche Tricks und Kniffe werden angewendet von den Autoren?

"Figuren, die uns Raum zum Nachdenken geben"
Schleich: Das sind natürlich erstens spannende Figuren. Also, die Figuren, die in der TV-Serie vorherrschen, sind ja häufig ambivalente Figuren. Ich nehme jetzt mal Don Draper aus "Mad Man" und ganz besonders Walter White aus "Breaking Bad". Das sind ja Figuren, die eigentlich als Identifikationsfiguren nicht wirklich taugen. Die Figuren ergründen seelische Abgründe, gehen nach ganz unten, und ich glaube, wir verfolgen einfach die Entwicklung dieser Figuren, wir möchten dabei sein, wir möchten verstehen, warum Walter White vom biederen Chemielehrer zum King Pin wird. Das ist ja auch etwas, was Sie bei Tony Soprano sehen. Wir sind fasziniert von der Entwicklung einer Figur, die so ambivalent und so vielschichtig ist. Es sind halt nicht mehr diese einfachen Charakter, ich nenn es jetzt mal flat characters oder stock characters, sondern sind runde Figuren, die uns Raum zum Nachdenken geben.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton – ich spreche mit Markus Schleich, der sich als Literaturwissenschaftler mit großen Fernsehserien beschäftigt. Herr Schleich, nun gibt es zwar auch einige wenige herausragende europäische Fernsehserien wie "Borgen – gefährliche Seilschaften" oder "Weissensee", viel gerühmt. Doch die meisten der Kult-Serien kommen aus den USA. Warum ist das so?

Schleich: Das liegt natürlich einfach an den Produktionsbedingungen. Wenn Sie die ganzen Serien, die jetzt vorhin im Vorspann erwähnt wurden, mal nehmen – die originieren alle bei HBO, AMC und Showtime. Und das sind Premium-Kabelfernsehsender. Dieses Sender achten nicht so sehr auf die Quote. Dann möchte ich auch noch mal sagen: Eine Serie wie "The Wire" operiert mit einer Million Zuschauern. Das ist in Deutschland undenkbar. Stellen Sie sich vor, es schalten nur eine Million Leute beim Tatort ein. Das wird sofort eingestampft. Das bedeutet, es gibt ein ganz anderes Ungeduldsverhältnis in den Staaten und viel mehr Mut zum Risiko. Es finanziert sich eben aus Abonnements. Ein Sender wie HBO hat 40 Millionen Abonnenten. Die zahlen alle mit, auch wenn nur eine Million "The Wire" oder "Sopranos" sehen.

Hanselmann: Man denkt wahrscheinlich auch langfristiger, weil es gibt ja eine sogenannte Zweit- und Drittvermarktung. Die Filme werden verkauft auf DVD, Blu-ray, werden in der ganzen Welt noch mal verkauft. Da kann man dann ja nur eine Million Zuschauer ganz gut verschmerzen. Worin, apropos, unterscheiden sich denn die Produktionsbedingungen dies- und jenseits des Atlantiks im Fernsehserienbereich?

"Es gibt hier immer noch eine gewisse Zaghaftigkeit"
Schleich: Wenn ich jetzt mal auf den deutschen Markt zu sprechen kommen kann: Wir hätten hier eigentlich die Möglichkeit, gutes Fernsehen zu machen. Die Öffentlich-rechtlichen müssen eigentlich nicht auf Quote schauen, die Öffentlich-rechtlichen könnten komplizierte Stories durchaus auf die Leinwand bringen, man traut sich aber nicht. Es gibt hier immer noch eine gewisse Zaghaftigkeit, wenn es darum geht, auch mal abgründige Themen anzufassen. Das sind dann häufig Ausnahmen wie in "Polizeiruf 110" gab es ja in den letzten Jahren doch immer mal wieder relativ kontroverse Ausgaben, aber Sie finden in dem Sinne ja keine Serien in Deutschland.

Also das sind diese paar Ausnahmen wie der Kriminaldauerdienst. Sie haben "Weissensee" genannt. Die bekommen dann irgendwann den Grimmepreis und dann werden sie abgesetzt. Das kann man, glaube ich, in der Drastik so sagen. Das gibt es in Amerika nicht. Wenn ich jetzt auch mal die Art und Weise sehe, wie in Amerika mit Serien umgegangen wird. Der Emmy hat in Amerika mittlerweile den gleichen Stellenwert wie der Oscar. Generell kommen immer mehr Leute aus dem Kino ins Fernsehen. Ich denke da an Martin Scorsese, der für 50 Millionen den Piloten von "Boardwalk Empire" gedreht hat. Stellen Sie sich das mal in Deutschland vor. Da gibt es noch eine ganz klare Hierarchie. Das Kino ist da, wo man Prestige kriegen kann, und Fernsehen ist quasi ein mediales Outlet zweiter Klasse.

Hanselmann: Ich möchte noch mal die Serie "Weissensee" ansprechen, die als großes Risiko gehandelt wurde am Anfang, als sie auf Sendung ging, und inzwischen überall gelobt wird, und es wird allgemein gesagt, liebe deutsche Autoren, Produzenten und so weiter, seid mutiger, setzt vielleicht auch mal irgendwann irgendwas in den Sand, aber Hauptsache, ihr macht gute Themen. Was können denn deutsche Autoren, Fernsehautoren, von den US-amerikanischen lernen.

Schleich: Also wenn ich das mal so sagen darf, wir haben ja hier auf unserer Tagung auch einige tatsächlich Filmschaffende, die vorgetragen haben. Und es liegt nicht an den Autoren. Der Mut zum Risiko, der Mut zu interessanten Figuren und interessanten Handlungen ist da. Es scheitert an den Gremien, die das nicht durchwinken. Das ist hier bei der Tagung klargeworden. Das Problem ist nicht, dass es ein kreatives Defizit in Deutschland gibt, sondern die Entscheider, vielleicht eher auf der Produzentenseite sind nicht bereit, dieses Risiko zu gehen.

Hanselmann: Beziehungsweise die Fernsehredaktionen, die spielen eine entscheidende Rolle.

Schleich: Ja, exakt. Sehr richtig.

Hanselmann: Ja, und die Autoren sind kreativ, und ihre Stoffe werden also bei uns zum Teil abgeblockt, das kritisieren Sie. Was gibt es denn an europäischen Serien, die Sie eventuell für gelungen halten?

Schleich: Es gibt da Einiges. Ich denke da gerade an Frankreich, an eine ganz wunderbare Serie, "Engrenage" oder "Les Revenantes", die Wiedergekehrten – es sind sehr, sehr spannende Formate. Das eine ist ein Zombiedrama, das nichts gemein hat mit zum Beispiel so was wie "The Walking Dead". Es sind komplizierte Psychogramme, die sich immer auch als Gesellschaftskritik lesen lassen.

"Was haben wir hier? 'Kriminaldauerdienst'"
Es gibt noch sehr viel mehr. Ich denke, wir können – Sie haben "Borgen" schon erwähnt, das ist auch ein sehr, sehr spannendes Format. Und natürlich in England. In England passiert auch unglaublich viel Interessantes. Ich denk da an "Luther", ich denk da an "Downton Abbey". "Skins" – sehr schöne Serie, freut mich sehr, dass die erwähnt wurde, ganz großartig. Und wenn ich jetzt in Deutschland mal gucke, was haben wir hier? "Kriminaldauerdienst" hatte ich, "Weissensee" haben wir erwähnt.

Hanselmann: "Verbotene Liebe" haben Sie vergessen.

Schleich: Ja … ganz großes Tennis.

Hanselmann: Elke Heidenreich, Literaturkritikerin, ist ein absoluter Fan von "Verbotene Liebe", möchte ich hier mal anmerken. Das adelt die Serie!

Schleich: Kann man so sehen, muss man aber nicht!

Hanselmann: Also, Sie haben wunderbare Beispiele genannt. Ich schlacker da so ein bisschen, weil ich denke, es gibt viel, viel zu schauen, das schaffe ich in meinem ganzen Leben nie. Ganz kurz – haben schon Kollegen von Ihnen, Literaturwissenschaftler, die Seiten gewechselt und schreiben jetzt Fernsehdrehbücher?

Schleich: Nein, aber es gibt tatsächlich – das ist ja genau das Problem. Die Schreiber sind da, die brauchen wir nicht. Wir bräuchten Leute, die tatsächlich – wenn irgendwann mal Literaturwissenschaftler in die Redaktionen wechseln, das wäre, glaube ich, das Beste, wenn die die Stoffe durchwinken würden, dann würde sich vielleicht einiges ändern.

Hanselmann: Dann machen Sie sich dran! Danke schön! Markus Schleich, vergleichender Literaturwissenschaftler über die Erzähltechniken und Produktionsbedingungen von Fernsehserien. Danke und viel Erfolg weiterhin bei Ihrer Forschung.

Schleich: Danke schön! Wiedersehen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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