Mehr Freiheit durch Fiktion

Thomas Sieben im Gespräch mit Christine Watty · 27.01.2013
Bereits in seinem Film "Distanz" hat sich Thomas Sieben mit dem Gewaltpotenzial eines scheinbar ganz normalen Mannes auseinandergesetzt. Beim Festival in Saarbrücken zeigt er nun das Psychogramm eines Amokläufers - und geht dabei einen sehr interessanten Weg.
Roman, ein junger Mann, selbst etwas depressiv und leicht entwurzelt, gespielt von Friedrich Mücke, fährt ein Jahr nach der Tat an den Ort des Geschehens, um dort der Wahrheit auf die Spur zu kommen. In München arbeitet er bei einem Anwalt, der mit der Aufarbeitung des Falls betraut ist. Da einige wichtige Polizeiordner fehlen, soll er diese aus dem Allgäu abholen. Als Roman die Schülerin Laura (Liv Liesa Fries) trifft, die den Amoklauf selbst erlebt hat, erfährt Roman nach und nach immer mehr über den Täter - ohne dass der Amoklauf selbst gezeigt wird.

Im Gespräch mit Thomas Sieben wollte Christine Watty zunächst wissen, warum der Regisseur gerade diesen Zugang gewählt hat, um das Thema Amoklauf auf die Leinwand zu bringen:

Thomas Sieben: Also, beim Thema Amoklauf gibt es ja so einen Film, der so ganz präsent ist, das ist "Elephant" von Gus van Sant, der ja ziemlich perfekt das Kurz-davor und den Amoklauf selber erzählt, in unglaublich poetischen Bildern. Und als ich die Idee hatte, einen Film über einen Amoklauf zu machen, konnte man die Frage ausschließen, das noch mal zu machen. Also, man musste was Neues finden oder was anderes. Und da bin ich dann relativ schnell bei dem Danach gelandet. Also, was macht es mit den Menschen, was macht das mit einem Dorf, also, das Trauma, das so eine Katastrophe auslöst irgendwie, das war so, glaube ich, der Grundgedanke, überhaupt eine Form zu finden, auf der man das erzählen kann. Wie so eine Grundlage.

Christine Watty: Was kann man dann vielleicht sogar besser erzählen, als wenn man wirklich direkt zum Zeitpunkt des Amoklaufs einsteigt? In Ihrem Film spielt das Ganze ein Jahr nach dem Amoklauf und stellt wahrscheinlich dann noch mal ganz andere Fragen, nämlich die nach der Langfristigkeit eines solchen Ereignisses.

Sieben: Also, man ist halt weg von irgendwelchen Gewaltszenen oder Grausamkeitsszenen, die einfach immer sehr, sehr laut sind automatisch durch das, was sie zeigen. Und dadurch, dass man das nicht hat, kann man sich halt eben, glaube ich, auf leisere Töne konzentrieren, die den Prozess, also das Verarbeiten, das Weiterleben oder eben das Stehenbleiben auch beleuchten, und dadurch halt auch so ein bisschen hinter die Boulevardsicht auf das Thema. Da geht es ja immer ganz viel um den Täter und was hat der für Computerspiele gespielt und wie viel Leute sind mit welchen Waffen erschossen worden und so. Und …

Aber man kann ja dahinter schauen, da passiert ja noch ganz viel mehr, und ich glaube, das macht diese Sichtweise, das Danach und dieses Ausklammern der eigentlichen Tat – wir lassen ja die Tat, zeigen die ja überhaupt nicht –, das ermöglicht da, so auf Details zu kommen, die sonst immer von viel wuchtigeren Themen oder Bildern überschattet werden. Also, das ist auch, glaube ich, ein großes Anliegen des Films, genauer hinzuschauen und genau zu beobachten, also, mehr als Antworten zu geben, geht es um die Beobachtung der Auswirkungen.

Watty: Wenn Sie sagen, dahinter gucken, dann ist das ja fast ein journalistischer Ansatz. Wie haben Sie denn dahintergeguckt, wie haben Sie sich auseinandergesetzt eben mit der Situation, ein Jahr nach einem Amoklauf? Sie haben sozusagen die Betroffenen, die, die übrig geblieben sind in diesem Dorf, die damit umgehen müssen. Sind Sie an Schauplätze im echten Leben gefahren, um dahinter zu gucken?

Sieben: Nein, das haben wir nicht gemacht. Also, mein Koautor und ich, wir haben viel gelesen, also, es gibt sehr viel Literatur über Amokläufe, psychiatrische Gutachten, es gibt Tagebuchaufzeichnungen von den Tätern aus Columbine, es gibt Berichte aus Erfurt, polizeitechnische Berichte aus Erfurt und so, und da haben wir, glaube ich, so die Geschichte gefunden jetzt mehr, als nach Winnenden fahren und sich das irgendwie anschauen. Ich glaube, da würde man auch immer schnell … Das hatten wir auch bei der Stoffentwicklung ganz extrem, dass es immer wieder so Momente gab, so wo einer von uns sagte, ist es nicht doch ein Dokumentarfilm vielleicht?

Wir haben uns dann aber ganz klar dagegen entschieden, weil wir einfach da in der Fiktionalisierung mehr Freiheit haben und auf eine ganz komische Art und Weise weniger Verantwortung vor den Hinterbliebenen. Und wir können irgendwie ehrlicher sein in der Fiktion, weil wir nicht an so viele äußere Faktoren gebunden sind. Also das, ich glaube … Wir werden auch manchmal so gefragt, warum habt ihr nicht Erfurt genommen oder so? Aber ich glaube, das hätte uns einfach erschlagen, das hätte uns so gelähmt, das war keine Option.

Watty: Was haben Sie mit dem Täter gemacht, der natürlich ein Jahr nach dem Amoklauf auch nicht mehr als Person in Ihrem Film auftauchen kann? Wie haben Sie versucht, ihn darzustellen und vor allem sich auch ihm zu nähern?

Sieben: Ja, ganz langsam, wir nähern uns dem im Film ganz langsam. Und so über … Das ist wie so ein Negativabdruck. Also, er ist ja tot und wir zeigen halt alles, was ihn … also, seine ganze Umgebung. Also, die beiden Hauptfiguren gehen in die Wohnung, wo er gewohnt hat, in sein Kinderzimmer, das steht jetzt leer, weil die Familie die Stadt verlassen musste, die gehen in die Schule, wo er das gemacht hat, man hört irgendwann seine Gedanken in einem Tagebuchauszug, was er geschrieben hat und so.

Also, wir haben ihn versucht, so über äußere Faktoren, so wie so eine Silhouette zu zeichnen, dass man so ein Gefühl dafür kriegt, wer das so hätte sein können. Und da, so haben wir uns dem genähert. Weil er a) tot ist und weil b), ich glaube auch, alles was darüber hinausgehen würde und ihn noch konkreter zu zeigen, da kommt man in ziemlich gefährliche … auf ziemlich dünnes Eis, wenn ich sagen würde, ach, so sind Amokläufe! Weil, das ist auch ein Ergebnis der Recherche, das ist natürlich nicht ganz so einfach. Also, das … Das kann man ja so gar nicht sagen, wie die jetzt so sind. So, das ist dann immer sehr individuell dann auch.

Watty: Sie haben natürlich, jetzt abschließende Frage, keine Dokumentation gedreht und auch keinen Ratgeberfilm, aber nichtsdestotrotz, bei diesem Thema möchte ich trotzdem gerne wissen: Mit was kann der Zuschauer nach Hause gehen? Sie verbreiten ja keine Ratschläge oder keine Ideen, wie man mit so einer Tat im wahren Leben umgehen soll, aber was ist hier vielleicht die kleine Botschaft, die mit nach Hause genommen werden könnte?

Sieben: Also, ich glaube, wenn es überhaupt eine Botschaft gibt, ist die eine, dass es wahnsinnig komplex ist, das Thema, dass es da keine einfachen Antworten gibt, und das sind nicht die Computerspiele und es ist nicht das Schulsystem, sondern das sind ganz viele Faktoren. Und die andere Botschaft, glaube ich, und das ist vielleicht auch das, wenn man überhaupt davon als Regisseur selber reden darf, das Provokanteste, dass auch der Täter bei aller, aller Grausamkeit auch ein Mensch ist.

Und in der Sekunde, wo wir das ignorieren und wo wir dann sagen, ja, der war halt wahnsinnig oder der war gestört oder der war krank, also das mit einfachen Worten so totschlagen und jegliche Diskussion auch totschlagen, sieht es nicht gut aus um die Gesellschaft, finde ich. Also, dann ist es schlecht bestellt, weil, das sind so einfache Erzähl… so einfache Kausalitäten, die man da gerne verständlicherweise auch sucht, bei solchen Taten, darum …

Ich glaube, das ist fast mir so das Wichtigste, dass man sagt, hey, das sind auch Menschen und die haben auch eine Familie und die haben eine Geschichte. Und dann machen die ganz schlimme Dinge irgendwann, aber wenn wir vergessen, dass das Menschen sind, dann wird das wahrscheinlich nicht so schnell besser werden.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Kritik zu einem früheren Film von Thomas Sieben auf dradio.de:

Psychopath mit Fernsteuerung - Anke Leweke über die Charakterstudie "Distanz" von Thomas Sieben
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