Mehr als ein Spiegel der Natur

Von Matthias Thibaut · 08.11.2011
Seit Menschengedenken wurde keine Ausstellung mit solcher Spannung erwartet wie die Leonardo-da-Vinci-Ausstellung der Londoner Nationalgalerie. Zehn seiner Werke werden gezeigt - dazu Handzeichnungen sowie ein bei einer Restaurierung neu entdecktes Gemälde.
Man reibt sich ungläubig die Augen. Im gedimmten Licht hinter Panzerglas hängen legendäre Kunstwerke, für die die Nationalgalerie ihre Staatsversicherung angeblich verdoppeln musste. Mit 1,7 Milliarden Euro sollen Großbritanniens Steuerzahler gerade stehen, wenn etwas passiert - eine lächerliche Summe.

Allein der neu entdeckte Salvator Mundi, der melancholisch wie aus dem Jenseits herüberschaut, soll 140 Millionen Euro kosten, denn das Bild ist auf dem Markt. Welchen Preis hätte die "Dame mit dem Hermelin" oder die Belle Ferronnière des Louvre- oder gar die beiden Felsgrottenmadonnen, die sich nun, Wunder über Wunder, im zentralen Raum gegenüberstehen - die frühe aus Paris, die späte aus London?

"Wir hätten unsere Leihgeber nicht überzeugen können, wenn es nur darum gegangen wäre, so viele Leonardos wie möglich zusammenzubekommen und so viele Menschen wie möglich anzuziehen. Ich musste meinen Direktor und alle Leihgeber davon überzeugen, dass dies eine Ausstellung wie jede andere ist, in der wir etwas erklären und Neues erfahren."

Kurator Luke Syson, Organisator und Erfinder der Ausstellung und nach Leonardo ihr zweiter Star. Es geht um Leonardos Mailänder Zeit – in der er als Hofmaler Ludovico Sforzas mit der nötigen Freiheit versehen, die Malerei auf einen neuen Begriff brachte.

"Der Leonardo dieser Ausstellung ist ein Leonardo, dessen Auffassung von der Verantwortung und den Zielen des Malers sich ändert. Zuerst kommt die Aufgabe, das Äußere des Menschen zuzeigen, das bedeutet, dass man den Schädel unter der Haut zeigt, aber auch Gedanken und Emotionen - die schwerer darzustellen sind, durch Gesichtsausdruck, Körperhaltung …"

Die Menschen in Leonardos Porträts interagieren mit der Umwelt in und vor den Bildern. Die Dame mit dem Hermelin sieht weg vom Betrachter, vermutlich zu ihrem Liebhaber, Ludovico Sforza. Die Heilige Anna hebt den Finger, als wollte sie den Betrachter direkt mit dem Göttliche in Verbindung bringen. Man sieht in Skizzen und Handzeichnungen, viele aus den Schätzen der Queen, wie Leonardo seine Malerei voranbringt - Gewandstudien, Schädelzeichnungen, Traktate über Optik und Lichteinfall.

Aber der Maler ist mehr als ein Spiegel der Natur, der die Wunder der Schöpfung festhält. Wir haben Leonardo, das Universalgenie der Renaissance fast zu einem unserer Zeitgenossen säkularisiert – in London steht er als religiöse r Maler vor uns. Die beiden Versionen der Felsgrottenmadonna, über einen Zeitraum von 25 Jahren entstanden, zeigen diesen Weg vom Naturalismus zum platonischen Idealismus. Beide sind fast identisch in der Komposition und doch ganz unterschiedliche Wesen.

"Die Blumen, die in der ersten Version exquisit abgebildet sind, werden in der zweiten zum Hinweis, dass man in eine ideale Welt sieht, hier geht es um Synthese, nicht um Beobachtung. In der ersten Version geht es um die Jungfrau als Zentrum der natürlichen Welt, in der zweiten um die Jungfrau als das Unfassbare, das Ephemere."

Syson erinnert daran, dass sie für die Bruderschaft der unbefleckten Empfängnis gemalt wurde, nach deren Auffassung Gott die Jungfrau noch vor Schöpfung der Welt in seinem Bewusstsein erschuf - das malt Leonardo. Eine Welt vor dem Sündenfall, in silbernes, jenseitiges Licht gehüllt, eine Heilige Familie, die unter sich ist, weltabgekehrt. An der Wand neben den Bildern steht in silbernen Lettern ein Zitat Leonardos: Die Göttlichkeit des Malens verwandelt den Maler in ein Simulacrum des Göttlichen.

Der Maler bildet nicht die Welt ab, sondern die Schöpferkraft Gottes selbst. Das spiegelt sich in der fast mystischen Maltechnik Leonardos. Schwach eingetönte Öllasuren werden in hauchdünnen Schichten übereinander gelegt, wir sehen nicht Farbe und Pigment, sondern das reine Licht, das sich in den Glasuren bricht - das berühmtes Sfumato. Das schönste Beispiele ist die segnend erhobene Hand des neu entdeckten Salvator Mundi, des Erlösers der Welt.

"Die Hand gab den Hinweis, dass es von Leonardo ist. Die Subtilität der Malerei von Licht und Schatten, niemand anderes als Leonardo hätte malen können."

Man spricht von der Ausstellung des Jahrhunderts - zu Recht. Von Blockbuster will man in London nichts hören. Maximal 180 Besucher jede halbe Stunde dürfen kommen - 50 weniger, als von der Feuerpolizei erlaubt wäre. Die Besucher sollen eine Chance haben, Leonardos Malerei so zu sehen, wie Leonardo es wollte, als höchste Form der Erkenntnis.