Mehl-Archäologie

Von Udo Pollmer · 14.11.2010
Schon vor 30.000 Jahren war die Herstellung von Mehl in Europa gängige Praxis. Das behauptet zumindest eine internationale Forschergruppe. Bisher waren viele Experten davon ausgegangen, dass damals die Jagd die Menschen ernährt hätte. Müssen wir nun unser Weltbild revidieren?
Aus Steinwerkzeugen, die stolze 30.000 Jahre alt sind, haben Forscher Reste von Mehl herausgepult. Die Werkzeuge, es handelt sich um Mahl- und Reibsteine, stammten aus archäologischen Fundstätten in Italien, Tschechien und Russland. Offenbar war die Gewinnung von Mehl bereits in der Altsteinzeit in Europa gängige Praxis. Allerdings handelte es sich dabei nicht um Weizen, auch nicht um Emmer oder Einkorn, sondern um eher ungewöhnliche Rohstoffe.

Die Pflanzen, die die Archäologen an der Oberfläche der Steine identifizierten, waren Farne und Rohrkolben. Auch die können, liebevoll zubereitet, eine nahrhafte Mahlzeit ergeben. Sumpfpflanzen wie Rohrkolben bilden im Schlamm fingerdicke unterirdische Speicherorgane, sogenannte Rhizome, und die enthalten reichlich Stärke. Ein Hektar sumpfiges Gelände liefert bis zu 8 Tonnen Mehl. Das ist mehr als unser Hochleistungsweizen in der intensiven Landwirtschaft zu bieten hat! Ein besonderer Vorteil der Rohrkolben ist: Die Rhizome können, aber sie müssen nicht im Herbst geerntet werden, sie sind auch im Winter noch verfügbar.

Und weil diese alte Nutzpflanze von ganz alleine in freier Wildbahn in dichten Beständen gedeiht, werden ihre Wurzelstöcke bis heute genutzt, beispielsweise in Australien von den Aborigines. Reisende haben berichtet, dass Rohrkolben für die Ureinwohner früher die gleiche Bedeutung hatten wie für uns das tägliche Brot. Die Ähnlichkeit im Nährwert ist frappierend: Das Mehl, das sich aus den Rhizomen gewinnen lässt, besteht zu 80 Prozent aus Stärke und zu 7 Prozent aus Eiweiß. Auch die jungen Schößlinge liefern ein vorzügliches Gemüse. Sie sollen delikat schmecken, ähnlich wie unserer Spargel, nur etwas knuspriger.

Damit ist die populäre Frage, ob unsere Vorfahren lieber Bären zu Wurst verarbeitet haben oder eher Pilze sammelten, noch nicht beantwortet. Die Lösung ist viel simpler: Die Menschen haben immer das gegessen, was nahrhaft war und was für sie erreichbar war. Mal sind das Maden und Käfer, mal Knollen und Wurzeln, mal Robbenspeck und Waltran, mal Milch und Fleisch und auch mal Wildfrüchte. Es gibt sie nicht, die typische Kost des Naturmenschen, die für uns als Vorbild dienen könnte.
Aus archäologischen Funden war bereits bekannt, dass in der Steinzeit viele Stärke liefernde Pflanzen auf dem Speiseplan standen. Neu ist hingegen der Nachweis, dass sie vorher vom Ur-Homo sapiens gründlich verarbeitet wurden - wie weise vom Sapiens! Zur Herstellung von Mehl musste er die Wurzeln der Kolben zunächst schälen, dann trocknen, damit er sie verreiben konnte. Dann rührte er einen Brei an, den ließ er noch ein wenig gären, und dann goss er ihn auf heiße Steine. Und fertig waren die duftenden und knusprigen Rohrkolben-Fladen. Das bestätigen auch völkerkundliche Beobachtungen: Egal wie zivilisationsfern die Kulturen auf dem Globus lebten, die genannten Verfahren sind zur Zubereitung von Nahrung weit verbreitet.

Das hilft uns zu verstehen, warum wir heute Getreide auf unserem Speiseplan haben. Denn das ist höchst merkwürdig. Die Wildgetreide, das waren ja Gräser, die hatten nur wenige Körner, der Ertrag war minimal, im Grunde lohnte das überhaupt nicht. Aber wenn die Nahrung knapp wurde, dann waren Körner besser als nichts. Lieber ins Gras beißen als verhungern. Aufgrund ihrer harten Schale waren die kleinen Körner in roher Form auch für den Steinzeitjäger- und sammler ungenießbar. Aber wenn man Mahlsteine hat, wenn man Siebe hat, um die Schalen zu entfernen, wenn das Fermentieren und das Backen von Fladen bekannt ist, dann kann auch schon mal Urgetreide essen.

Das was den Urmenschen von seinen tierischen Vorfahren unterscheidet, ist die Zubereitung seiner Nahrung. Das ist die naturgemäße Kost des Menschen. Die Herstellung von feinem Mehl ist keine Erfindung unserer Großmühlen – sie ist nichts anderes als eine der ältesten Technologien mit modernen Mitteln. Mahlzeit!


Literatur:
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