Megaevent mit vielen Talenten

Katja Nicodemus im Gespräch mit Frank Meyer · 09.02.2012
Unter der Regie von Dieter Kosslick hat sich die Berlinale zu einem Megaevent entwickelt, das den Vergleich mit Cannes und Venedig nicht zu scheuen braucht, sagt Katja Nicodemus. Auch in diesem Jahr würden die Filmfestspiele wieder Regisseure präsentieren, die gerade "im Kommen sind".
Frank Meyer: Mit einem Kostümfilm wird heute Abend die Berlinale eröffnet, mit dem Film "Les adieux à la reine" von Benoît Jacquot. Über die kommende Berlinale, eines der größten Kulturereignisse in Deutschland, reden wir mit Katja Nicodemus, Filmkritikerin bei der Wochenzeitung "Die Zeit", seien Sie willkommen, Frau Nicodemus!

Katja Nicodemus: Hallo!

Meyer: Was halten Sie von dem Eröffnungsfilm, also, von dem Genre, ein Kostümfilm zum Berlinale-Auftakt?

Nicodemus: Ich finde das eigentlich ganz schön, weil, Kostümfilme, gibt es ja immer ordentlich was zu schauen, und das machen ja Cannes und Venedig auch. Also, das hat eine gewisse Tradition, muss man sagen.

Meyer: Es werden insgesamt 400 Filme gezeigt. Geschrieben, gestritten wird meistens über die Filme im Wettbewerb. Das ist eigentlich nur ein schmaler Ausschnitt, 18 Stück laufen da in der Konkurrenz, außer Konkurrenz noch einmal fünf Filme. Die Regisseurin Doris Dörrie hat die Auswahl für diesen Wettbewerb gerade kritisiert, weil sie meint, da würden Filme fast gegen das Publikum gezeigt. Was halten Sie denn von der Kritik?

Nicodemus: Na, ich muss sagen, vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass Doris Dörrie nicht im Wettbewerb läuft, und vielleicht war sie ja auch enttäuscht, dass einer ihrer letzten Filme, der dann lief, nichts gewonnen hat. Gegen das Publikum, das verstehe ich überhaupt nicht. Ich meine, die Berlinale verkauft, Sie haben es, glaube ich, schon gesagt, 300.000 Karten. Die Leute – ich war ja heute Morgen am Potsdamer Platz – stehen an wie Bolle. Also, das kann ich überhaupt nicht verstehen. Also, ich kann verstehen, dass mancher die Filme, die auf der Berlinale laufen, manchmal etwas zu klein findet. Aber das ist natürlich auch einer sich verändernden Produktionslandschaft geschuldet, dass es vielleicht nicht mehr so viele opulente, große Filme gibt, dass das digitale Kino hereinbricht und so weiter. Also, das finde ich, wenn man das so sachlich diskutieren würde. Aber gegen das Publikum, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.

Meyer: Sie meint damit vielleicht auch Effekte, die der Berliner "Tagesspiegel" gerade gestern beschrieben hat, nämlich, dass die Filme, die in Cannes und in Venedig im Wettbewerb laufen, in aller Regel dann auch im Kino zu sehen, also ein größeres Publikum finden können, dass aber die Wettbewerbsfilme der Berlinale ganz häufig nicht ins Kino kommen, also nicht zum Publikum kommen. Ist da nicht tatsächlich was dran?

Nicodemus: Eigentlich nicht, also jedenfalls nicht in den letzten Jahren. Es mag ja zwischendurch mal so ein Durcheinander gegeben haben. Man muss natürlich auch schauen, wie prozentual sieht man das. Aber jetzt zum Beispiel im letzten Jahr, da lief ja "Pina", der ist jetzt für den Oscar nominiert, war ein Riesenerfolg, Asghar Farhadis Film "Nader und Simin" hatte gewonnen, das war auch ein Riesenerfolg, also … Dass sozusagen die Berlinale-Sieger dann eben auch ins Kino kommen und die Wettbewerbsfilme und auch die großen Preise, das, finde ich, ist eigentlich überhaupt nicht zur … Da kann man nicht widersprechen. Es kann natürlich sein, dass dann eine kleine koreanische Koproduktion oder im letzten Fall ein argentinischer Wettbewerbsbeitrag, dass der dann auch mal nicht läuft, aber dafür ist ein Festival eben auch da, nicht nur Filme zu zeigen, die auf jeden Fall in die Kinos, in die Multiplexe drängen, sondern vielleicht auch mal Filme zu zeigen, die so radikal sind, dass man sagen kann, okay, hier verständigt sich eine Kunstform über sich selbst und das ist auch wichtig, dass dann eben 4000 Journalisten und so und so viel Festival-Besucher so einen Film sehen. Und ich meine, der vorletzte Godard oder so was, die kamen eben auch nicht mehr ins Kino. Aber warum sollte dann Cannes diese Filme nicht zeigen?

Meyer: Wenn Sie sich die diesjährige Auswahl für Berlin anschauen, sehen Sie da irgendein Profil, sehen Sie da eine Richtung, in die sich die Berlinale bewegt?

Nicodemus: Na, ich finde schon. Also, man könnte schon sagen, dass es so eine Art Tendenz zum Autorenfilm gibt mit starker Handschrift, mit Filmemachern, die auf Festivals entdeckt wurden und die jetzt nun die Plattform eines internationalen Wettbewerbs zum ersten Mal betreten.

Meyer: Das heißt, junge Filmemacher?

Nicodemus: Ja, Nachwuchs oder sozusagen zweite Generation. Also, ich könnte so ein paar Beispiel nennen, zum Beispiel "Postcards From The Zoo" von dem indonesischen Filmemacher Edwin, das ist so einer der neuen Stars am Autorenhimmel, der lief in Cannes, der lief in Venedig in Nebensektionen und kriegt jetzt hier einen großen Auftritt. Oder zum Beispiel ein Film der Schweizerin Ursula Meier, die hat einen Film gedreht, ihren Debütfilm, der hieß "Home", mit Isabelle Huppert. Der wurde begeistert gefeiert, der hat wirklich eine Karriere rund um die Welt gemacht. Aber irgendwie waren alle Festivals zu lahm, um diesen Film in den Wettbewerb zu nehmen. Und deren neuer Film läuft jetzt hier im Wettbewerb der Berlinale. Also, das finde ich dann eben schon auch einen ganz guten Reflex. Oder zum Beispiel der neue Film des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza, eben auch ein Star unter den Autorenfilmern, der lief eben auch in Venedig, in Cannes und so weiter, der hat jetzt zum ersten Mal einen Film mit einem großen Star gedreht, mit Isabelle Huppert, "Captive" heißt der. Und der läuft jetzt hier. Also, das ist dann schon so eine Bewegung, die Leute zu nehmen, die jetzt im Kommen sind oder jetzt gerade dabei sind, sich zu etablieren, oder die halb Etablierten, die jetzt mit großen Stars was machen.

Meyer: Also, die Leute, die im Kommen sind, finden den Weg nach Berlin. Aber es fällt ja doch auf – Sie haben es auch schon gesagt –, dass die großen Autorennamen, dass die fehlen, dass die dann doch eher in Cannes ihre Filme zeigen oder in Venedig vielleicht. Woran liegt das denn?

Nicodemus: Na, man muss sich jetzt mal die Namen anschauen. Wenn Sie sagen, groß – sagen wir jetzt mal, Haneke, Lars von Trier, Almodóvar, Kaurismäki –, und viele dieser Filme haben nun mal französische Koproduktionen und die wandern automatisch nach Cannes. Da kann man nichts rütteln, da kann man sich hier auf den Kopf stellen und tanzen und … Das geht einfach so. Da steht dann in den Ablieferungsverträgen: Fertigstellungsdatum 2. Mai und der Produzent ist ein Franzose und das ist nun mal eine Produktionsrealität. Da kann man nichts dran ändern. Zum anderen, muss man sagen, treffen eben die Filme, egal welche, die im Wettbewerb laufen, in Frankreich nun mal auf einen anderen kulturellen Hintergrund. Also, es wird ja immer wieder geschrieben, ja, der große Berlinale-Sieger Asghar Farhadis "Nader und Simin", der hat hier in Deutschland 150.000 Zuschauer und in Frankreich hatte er, na ja, zehnmal so viel, fast 1,2 Millionen. Und das ist das eine. Aber es gibt eben in Frankreich auch von den Produzenten her wirklich eine andere Offenheit für Welt- und Autorenkino und die französischen Produzenten – das ist eigentlich ein ganz gutes Beispiel –, die haben sich eben um Asghar Farhadi geschlagen, der ja jetzt mit seinem Film auch für den Oscar nominiert ist. Und jetzt schreibt er halt in Paris ein Drehbuch zusammen mit Yasmina Reza, weil die französischen Produzenten ihm diese Chance gegeben haben. Jetzt können Sie sagen, drei Mal darf man raten, in welchem Festival wird dieser Film laufen: Wahrscheinlich in Cannes. Aber das ist dann eher ein Symptom, als dass man das der Berlinale dann vorwerfen kann. Jedenfalls kann man ihr nicht alles vorwerfen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden mit der Filmkritikerin Katja Nicodemus über die heute beginnende Berlinale. Schauen wir mal auf die deutschen Regisseure im Wettbewerb: Da sagen nun die Lästerer, auch da gibt es welche, immer wenn Christian Petzold, Hans-Christian Schmid oder Matthias Glasner einen neuen Film machen, dann landet der auch im Wettbewerb der Berlinale, immer die gleichen drei! Finden Sie das falsch, richtig, wie finden Sie das?

Nicodemus: Ja gut, es tut mir leid, dass ich mich jetzt in den letzten zwei Fragen als Berlinale-Anwältin aufspielen muss, aber das muss ich in dem Fall wirklich, weil, Schmid, Petzold und Glasner, die gehören jetzt nun mal mit Fatih Akin und Tom Tykwer zu den renommiertesten international bekannten deutschen Autorenfilmern. Also, ihre Filme liefen eben auch in Cannes und in Venedig. Und wenn ich jetzt allein schon mir diese Regie-Schauspieler-Kombination dieser drei Filme anschaue – also Petzold und Nina Hoss, Hans-Christian Schmid und Corinna Harfouch, Matthias Glasner und Birgit Minichmayr –, also das wäre ja nachgerade absurd, wenn die Berlinale jetzt diese Filme, wenn sie gut sind und wenn sie fertig sind, nicht zeigen würde. Also, Minichmayr und Hoss, die haben ja hier auch auf diesem Festival Silberne Bären als beste Schauspielerinnen gewonnen. Die haben sie sich ja nicht gekauft, sondern … Die hat ihnen auch nicht Dieter Kosslick geschenkt, sondern die haben ihnen internationale Jurys gewonnen. Also, ich fände das fast so, als wenn man sagen würde, ja, mein Gott, in Cannes, da zeigt man ja schon wieder einen Film von Jacques Rivette oder Arnaud Desplechins oder Jean-Luc Godard! – Da kann ich nur sagen: Ja, in Gottes Namen! Wenn es gute Filme sind, bitte!

Meyer: Sie haben es gerade selbst benannt, dass Sie sich hier als Berlinale-Anwältin aufspielen. Alles in Ordnung mit der Berlinale oder gibt es doch Punkte, wo Sie sagen, da müsste mal was passieren?

Nicodemus: Na gut, es gibt ja in den letzten Wochen oder Monaten, geistert ja in den Medien dieses Stichwort vom künstlerischen Leiter herum, der eine Option sein könnte neben Dieter Kosslick. Und die Berlinale ist ja nun mal unter Dieter Kosslick ein Riesenevent geworden, also wirklich das größte Publikumsfestival der Welt, ein Ereignis für die Stadt. Und er hat das Budget, der Kosslick, eben auch wirklich verdoppelt, das muss man sich mal vorstellen! Sie war schon immer groß und sie ist jetzt ein Megaevent geworden. Ich denke, man sollte das zum Beispiel mit dem künstlerischen Leiter eben nicht als Sanktion für den Geschäftsführer Dieter Kosslick dann ins Spiel bringen, sondern es könnte eben auch eine Entlastung sein. Und angesichts der Riesenhaftigkeit dieses Festivals eben vielleicht auch irgendwann eine Notwendigkeit – oder auch sehr bald.

Meyer: Jetzt beginnen die Filmfestspiele heute Abend. Worauf freuen Sie sich ganz besonders, worauf sind Sie so richtig gespannt, als professionelle Filmanschauerin?

Nicodemus: Ich freue mich eigentlich … Ich bin eigentlich eher traurig, dass ich von diesen 400 Filmen nur 50, 60 sehen kann, und ich freue mich eigentlich auf all diese Filme, die ich hier genannt habe, und ich freue mich auch zum Beispiel, dass ich heute Abend den Eröffnungsfilm noch mal richtig im großen Kino sehen kann. Eben habe ich ihn ja in der Pressevorführung gesehen und ich finde es schon toll, dann so einen etwas anderen Kostümfilm – der Film von Benoît Jacquot, der zeigt ja die französische Revolution aus der Perspektive einer Zofe, der Vorleserin von Marie Antoinette –, dass ich diesen Film dann noch mal mit dem großen Publikum sehen kann und mit rotem Teppich und so weiter. Das ist dann doch richtig Kino!

Meyer: Katja Nicodemus, apropos richtig Kino: Wir wollen in dieser Stunde noch von unseren Hörern erfahren, welcher Kinofilm der letzten Zeit für Sie ein besonderes Fest war. Wie ist das bei Ihnen, welcher Film hat Sie zuletzt so richtig begeistert, welcher Kinofilm?

Nicodemus: Ich muss sagen, das war für mich "Hugo Cabret" von Martin Scorsese, der jetzt ins Kino kommt an diesem Donnerstag. Das ist wirklich, große Verbeugung vor George Méliès, die leidenschaftliche Verbeugung eines Filmemachers vor einem Kinopionier, vor der Leidenschaft des Kinomachens. Und das war jetzt einfach ein Film, den ich ganz toll fand. Und ich würde ihm wirklich alle, alle Chancen für den Oscar wünschen!

Meyer: Sagt die Filmkritikerin Katja Nicodemus. Wir haben über die heute beginnende Berlinale gesprochen, besten Dank für das Gespräch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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