Meeresbiologe: Eitelkeiten und Prinzipienreiterei

Stephan Lutter im Gespräch mit Dieter Kassel · 31.08.2010
Ein "einheitlicheres Regime für Tiefseeaktivitäten" wünscht sich Stephan Lutter, Experte für die Tiefsee bei der Naturschutzorganisation WWF. Viele Staaten beantragen über die Seebodenbehörde ISA Zugang zu den Bodenschätzen der Weltmeere. Die OSPAR - eine internationale Vereinigung zum Schutz der Nordsee und des Nordostatlantiks - tagt vom 20. bis 24. September 2010 im norwegischen Bergen.
Dieter Kassel: Die Rohstoffvorräte an Land gehen zu Ende, und deshalb interessieren sich immer mehr Staaten für die Rohstoffe, die sich tief unter dem Meer befinden, in der Tiefsee, in internationalen Gewässern. Ich begrüße jetzt im Studio von den Kollegen des NDR in Hamburg den Meeresbiologen Stephan Lutter. Er ist Experte für den Lebensraum Tiefsee bei der Naturschutzorganisation WWF. Schönen guten Tag, Herr Lutter!

Stephan Lutter: Hallo aus Hamburg!

Kassel: Sehen Sie das genauso wie Sarah Zierul, ist die ISA mit ihrer Aufgabe überfordert?

Lutter: Ja, ich kann Frau Zierul da nur beipflichten, sicher, trotzdem ist es gut, dass wir eine Behörde haben, die weltweit gleiche Standards anwendet auf die Ausbeutung oder die Nichtausbeutung von Tiefseeressourcen. Das ist ja nicht überall der Fall, nicht in allen Sektoren. Zum Beispiel haben wir weltweit keine Behörde, die die Offshore-, Öl- und Gasindustrie regelt, also um mal das dagegenzusetzen – wir haben es für die Schifffahrt und wir haben es für den Seeboden.

Kassel: Aber wie funktioniert das genau? Die Bundesrepublik Deutschland hat sich über die ISA in Jamaica ja auch schon ein Gelände im Pazifik gesichert, ungefähr so groß wie Nordwestdeutschland, also Niedersachsen und Schleswig-Holstein zusammen. Was heißt denn das, geht man als Staat da hin, nennt Längen- und Breitengrad, sagt, das will ich haben, und dann wird das einfach irgendwo eingetragen?

Lutter: Es müssen Anträge gestellt werden, es geht auch Geld über den Tisch für solche Lizenzen, die zunächst Explorationslizenzen sind, aber wie auch bei Öl und Gas, vor der Ausbeutung kommt nun mal die Exploration. Und was die ISA auch tut, ist, dann in solchen größeren Lizenzgebieten, Referenzgebiete auszuweisen, das heißt, die nicht berührt werden dürfen, damit man sieht, wie sich die Natur selbstständig weiterentwickelt – man könnte sagen Schutzgebiete.

Kassel: Ist denn die ISA wirklich für die ganze Welt zuständig, es müssen ja Verträge unterschrieben werden, und die USA haben ja zum Beispiel die entsprechenden Abkommen noch immer nicht unterzeichnet.

Lutter: Das ist richtig. Die Staaten, die nicht an das UN-Abkommen, Seerechtsabkommen gebunden sind, sind daran auch nicht gebunden. Das Problem haben wir allgemein im Völkerrecht. Trotzdem, die ISA macht auch Umweltauflagen nicht nur für die berühmten Manganknollen, die in den tiefen Becken des Pazifik zum Beispiel locken, wenn die Metallpreise auf dem Weltmarkt entsprechend sind, sondern auch für die sehr empfindlichen Kobaltkrustengebiete an den Seebergen – die Seeberge sind wichtige Ökosysteme, und oben gibt es wertvolle Kobaltkrusten zu holen, das ist fast wie so eine zahnärztliche, chirurgische Operation, also kein großflächiger Abbau, aber gefährlich für das Ökosystem. Und dann gibt es noch die metallhaltigen Schwefelverbindungen überall dort, wo vulkanische Aktivitäten waren. Auch das ist interessant für manche Firmen und Staaten.

Kassel: Aber wie genau – und da stellt sich natürlich auch die Frage, wie kann das die ISA kontrollieren – wie genau weiß man denn, ob diese Explorationen, die letzten Endes ja, Sie haben schon gesagt, die Vorstufe zur Ausbeutung der entsprechenden Rohstoffvorräte sein sollen, wie sehr die wirklich in das Ökosystem Tiefsee eingreifen.

Lutter: Dazu gibt es durchaus Begleitstudien schon, und die ISA hat auch Standards aufgestellt für die Methoden, mit denen abgebaut werden darf. Also ich halte das schon für einen Vorteil, dass wir eine weltweite Regelung haben. Ich sehe eher die Gefahr des Wildwuchses und der fehlenden Kontrolle dort, wo Einzelstaaten, wie schon gesagt, ihren Festlandsockel erweitern auf bis zu 350 Seemeilen raus und dann machen können, was sie wollen.

Kassel: Mit welcher Begründung geschieht das eigentlich? Also man muss es erklären, bis 200 Seemeilen ist normalerweise ohnehin noch nationales Gewässer, von der Küste aus gesehen, und dann ist Schluss. Aber mit welcher Begründung kann ein Staat jetzt sagen, nein, aus meiner Sicht ist das nationale Gewässer doch noch etwas größer?

Lutter: Das Gewässer bleibt ja international, also der Wasserkörper bleibt hohe See, nur der Meeresboden und auch Lebensgemeinschaften, die dort eventuell im Boden hausen, also auch lebendige Ressourcen, dürfen von einem Staat genutzt werden, wenn er beweisen kann, dass sein Kontinentalsockel geologisch gesehen weiter reicht als die 200 Seemeilen.

Kassel: Aber mit welcher Begründung, selbst wenn er das beweisen kann, ich meine, sagen die Staaten ganz offen, wir wollen ein größeres Gebiet, weil wir da Rohstoffvorkommen vermuten, oder wird das in der Regel anders begründet?

Lutter: Also ganz platt gesagt, steckt bei allen solchen Ausdehnungen, die ich bisher kenne, dahinter – jetzt zum Beispiel vor den britischen Inseln, Irland macht das, UK, Vereinigtes Königreich, macht das, die Färöer werden es vielleicht machen –, also da steckt das Interesse von fossilen Energiereserven dahinter, Öl und Gas.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Stephan Lutter, Experte für die Tiefsee bei der Naturschutzorganisation WWF. Jetzt haben Sie schon ein paar Länder, die ja Nordatlantikanrainer sind, erwähnt. Gehen wir mal weg von dieser großen, weltweiten Organisation. In Jamaica zum Beispiel, für den Nordatlantik, gibt es ja durchaus multinationale Abkommen zum Schutz auch der Tiefsee. Funktionieren denn solche Abkommen besser als die internationalen UN-Vereinbarungen?

Lutter: Es gibt im Nordatlantik, im Nordostatlantik, das OSPAR-Abkommen zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantik aus 15 Vertragsstaaten und der EU, reicht also von Island runter bis Portugal und auch die Nordseeanrainer sind eingeschlossen. Dort werden sehr anspruchsvolle Beschlüsse erwartet, auch jetzt in drei Wochen bei deren Ministertreffen zum Schutz der Tiefsee und zur Einrichtung von Hohe-See-Schutzgebieten.

Kassel: Wie sieht denn ein Hohes-See-Schutzgebiet aus, was bedeutet denn das? Heißt das, da darf zum Beispiel für alle Zeit nicht weiter geforscht werden nach Rohstoffen?

Lutter: Ja, genau das muss dann das regionale Abkommen, wenn es einmal eine solche Ausweisung gemacht hat, eben mit der ISA verhandeln, und auch, wenn es um Einschränkungen für die Schifffahrt geht, mit der IMO, die UN-Organisation für die Schifffahrt ist, und mit der Fischereiorganisation des Nordostatlantik, alles UN-Einrichtungen – das ist dann auszuhandeln. OSPAR selbst kann es nicht.

Kassel: Wie sehen Sie denn die Zukunft solcher Vereinbarungen? Ich glaube, da gab es ja eine Weile großen Optimismus, inzwischen scheint es aber doch so auszusehen, als ob in drei Wochen in Bergen bei den Verhandlungen doch einiges noch nicht zustande kommen wird, weil die nationalen Interessen wieder zu groß sind.

Lutter: Ja, wir sind sehr besorgt, denn eigentlich stehen sechs Hohe-See-Schutzgebiete fest, die insgesamt – man höre und staune – 450.000 Quadratkilometer umfassen, das größte auf dem mittelatlantischen Rücken, das sogenannte Charlie-Gibbs-Bruchzonengebiet, ökologisch sehr wertvoll und schützenswert. Und nun tun sich die Staaten hervor, die grundsätzlich Bedenken haben, weil sie einen erweiterten Festlandsockel beanspruchen, zwar nicht in dem Gebiet, mit Ausnahme von Island, das betroffen ist, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen, man möge also da nicht eingreifen, sodass die hohe See dort überhaupt nicht geschützt werden kann. Das sind die Staaten Island, Irland, Vereinigtes Königreich, Dänemark und Norwegen, der Veranstalter selbst von dieser Konferenz.

Kassel: Ist das denn nun wirklich schon dieser Kampf um die Rohstoffe in der Tiefsee, von dem manche reden, oder sind das erst mal nur nationale Eitelkeiten?

Lutter: Na ja, das sind Eitelkeiten und ist Prinzipienreiterei, aber es steckt schon dahinter, wenn zum Beispiel Dänemark diesen Vorbehalt hat, dann spricht es hauptsächlich für Grönland oder für die Färöer immer noch außenpolitisch, dass man dort tatsächlich solche Erwägungen auch hat, zum Beispiel Öl und Gas auch auszubeuten in der Arktis auf erweiterten Kontinentalsockeln und sich nicht hereinreden lassen will von irgendeiner internationalen Organisation, die die biologische Vielfalt schützen will.

Kassel: Nun denken wahrscheinlich die meisten Menschen, wenn sie an Ausbeutung von Rohstoffen in den Meeren, an die Gefahren denken, eher an den Golf von Mexiko, wo es den katastrophalen Unfall bei den Ölbohrungen angeht, da sind natürlich noch nationale Gewässer der USA gewesen, da ist weder Kingston noch sonst irgendein Abkommen für zuständig. Wird denn die größte Gefahr für die Umwelt schon sehr bald wirklich von den Vorhaben in der echten Tiefsee ausgehen oder nicht doch eher von den Öl- und Gasbohrungen in noch relativ küstennahen Gewässern?

Lutter: Ja, auch da sind ja selbst in Europa Tiefseebohrungen schon im Schwange, also vor den Shetlands, also auf diesen erweiterten Gebieten, die bald beansprucht werden von britischen Inselstaaten, und Irland hat auch seine Lizenzen freigegeben, die Färöer tun das auch, also da haben wir dasselbe Risiko der Technik, wie wir es im Golf von Mexiko erlebt haben. Ich denke aber schon, dass ein Eingriff in die Bodenschätze der Tiefsee, die nicht Öl und Gas sind, also die nicht fossilen, die mineralischen, ein wesentlicher Störfaktor sein können für die Kaltwasserkorallenriffe, für die Seeberge und für die Schwammformationen und alles, was es dort draußen zum Beispiel am mittelatlantischen Rücken gibt.

Kassel: Zum Schluss noch mal zur ISA, eine Behörde, wir haben es ja gehört, in Kingston, mit übrigens, ich glaube, rund 40 Mitarbeitern – immerhin –, aber wenn man an andere UNO-Behörden denkt, ist das immer noch winzig klein. Es geht um große Gebiete, die immer wichtiger werden für den Naturschutz, genauso wie für wirtschaftliche Interessen. Wird denn diese Organisation in Kingston in nächster Zeit wachsen? – Das können Sie nun nicht wissen, aber würden Sie sich das wünschen, halten Sie das für realistisch?

Lutter: Ja, ich würde mir das wünschen, ich würde mir vor allem auch ein einheitlicheres Regime für Tiefseeaktivitäten wünschen – es gibt ja noch mehr, was dräut, also zum Beispiel die Ausbeutung von biologischen Ressourcen für pharmazeutische Zwecke. Zum Beispiel Schwämme sind unheimlich interessant dafür und auch die Bakterien an den heißen Tiefseequellen, auch damit kann man an diesen Lebensräumen ganz viel anrichten, wenn man groß eingreift. Und dafür ist die ISA offiziell zurzeit nicht zuständig, dafür ist aber niemand zuständig.

Kassel: … sagt Stephan Lutter, Tiefseeexperte von der Naturschutzorganisation WWF. Herr Lutter, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen viel Erfolg dann in drei Wochen in Bergen bei den Gesprächen!

Lutter: Danke schön!
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