Meditation über einen Mittelfinger

Warum wir vor einem neuen Zeitalter radikaler Skepsis stehen

Wolfram Eilenberger
Der Philosoph und Chefredakteur des "Philosophie Magazins" Wolfram Eilenberger: Weltumfassendes Misstrauen am Rande des Wahnsinns © picture alliance / dpa
Von Wolfram Eilenberger · 22.03.2015
Die digitalen Dämonen sind los! Echte und manipulierte Aufnahmen lassen sich kaum noch unterscheiden. Wolfram Eilenberger hält unsere – medial vermittelte – Wirklichkeit für einen "postmodernen Alptraum", aus dem wir so schnell nicht wieder erwachen werden.
Zu den wenigen Dingen, ohne die kaum ein Mensch leben will, gehört die sogenannte Wirklichkeit. Dies schließt das Bedürfnis ein, im Zweifelsfall eindeutig ermitteln zu können, ob ein in Frage stehender Sachverhalt tatsächlich der Fall ist – oder nicht. Mit genau diesem Grundbedürfnis nach Faktizität trieb nun vergangenen Mittwoch ein lustiger kleiner Fernsehmoderator namens Jan Böhmermann ein gewitztes Spiel.
Im Mittelpunkt seines Scherzens stand der Mittelfinger des griechischen Finanzministers Yannis Varoufakis und die Frage, ob er diesen bei einer Veranstaltung aus dem Jahre 2013 unter expliziter Nennung der deutschen Regierung zum steif emporgereckten Stinkefinger ausgefahren habe. Es existiert ein Video der Veranstaltung, die den Sachverhalt dokumentiert. Varoufakis hingegen bestreitet den Vorfall und behauptet, das Video sei zu seinen politischen Ungunsten digital nachbearbeitet, manipuliert, also gefaked worden.
Wer wohl hinter solch einer Gemeinheit stecken mag? Nun, zum Beispiel ein Fernsehschelm wie Jan Böhmermann. Behauptete jedenfalls Jan Böhmermann, dokumentierte der Fernsehnation minutiös und äußerst überzeugend jeden einzelnen seiner digitalen Fälschungsschritte und entschuldigte sich darauf reumütig bei allen Betroffenen. Blieb allein die Frage, ob Böhmermanns Enthüllung auch eine echte und aufrichtige war, oder eben ihrerseits nur Satire, also fake. Niemand wusste es zu sagen. Für die kleine mediale Ewigkeit von zwölf Stunden tobte darauf ein Verwirrungssturm durch Deutschland – getragen von politischer Häme, Hohn und wechselseitigen Beschuldigungen.
René Déscartes oder der Zweifel als Grundhaltung
Der existentiell tief verunsichernde Zweifel, nichts von dem, was wir sehen und wahrnehmen, könnte real sein, markiert den Beginn der modernen Philosophie. In seinen "Meditationen" aus dem Jahre 1641 erwog der französische Philosoph René Descartes in denkbar radikaler Weise, ob nicht alles, was seine Sinne wahrnahmen – also die gesamte Realität – in Wahrheit das Werk eines verschlagenen, zu jeder Täuschung befähigten Dämons sein könnte. Und tatsächlich sah sich Descartes zunächst "gezwungen, zuzugestehen, dass an allem, was ich früher für wahr hielt, zu zweifeln möglich ist." Es war eine Diagnose, die ihn in ein weltumfassendes Misstrauen und damit an den Randes des Wahnsinns trieb.
Machen wir im Jahre 2015 die Augen auf! Was zu Descartes Zeiten noch ein reines, metaphysisches Gedankenexperiment war, zeigt sich in unseren vollends digitalisierter Lebenswelten als konkret gelebter Alltagsalptraum. Nicht nur, dass sich unsere Fähigkeit zur maschinellen Simulation ganzer Wirklichkeitssegmente – Mitmenschen eingeschlossen – bis ins Gottgleiche gesteigert hat. Wie es die flüchtige mediale Beschaffenheit des Digitalen will, sind wir mit unseren Erkenntnismitteln zunehmend außer Stande, Originale von Fälschungen, echte Aufnahmen von manipulierten, Takes von Fakes eindeutig zu unterscheiden. Wir blicken mit anderen Worten in einen neuen Abgrund der Skepsis und damit auch des politischen Misstrauens, der unsere gesamte medial vermittelte Wirklichkeit betrifft. Anders als noch bei Descartes wird uns allerdings keine subjektive Denkgewissheit und auch kein Gottesbeweis von dieser Form allumfassender Skepsis befreien können.
Es ist fürwahr ein postmoderner Alptraum. Ob es auch an einer ist, aus dem wir dereinst wieder erwachen können? Ich habe da, so leid es mir tut, meine radikalen Zweifel. Die Anzahl digitaler Dämonen unter uns jedenfalls scheint fast stündlich zu steigen. Und nur die wenigsten von ihnen sind so ehrliche Faker, und Faker-Faker, wie der gute kleine Jan Böhmermann.