Meditation im Treiben der Großstadt

Von Gunnar Lammert-Türck · 01.09.2012
Vielleicht muss die Musik den Menschen folgen - zum Beispiel beim Wochenendeinkauf. Die Kirche am Berliner Hohenzollernplatz lädt jeden Samstag zum NoonSong ein, zum Mittagslied. Sie knüpft damit an klösterliche Stundengebete der Psalmen an.
Samstagmittag am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf. Während draußen noch der Markt geöffnet hat, hebt in der Kirche mehrstimmiger Gesang an: berückend und besänftigend zugleich. Marktbesucher, Gemeindeglieder und Touristen lassen ihn auf sich wirken.

Jeden Samstag um 12 findet diese musikalische Besinnung in der Kirche am Hohenzollernplatz statt. Nach einem festen Schema tragen vier Sängerinnen und vier Sänger a capella Gebete, Psalmvertonungen und den Lobgesang der Maria, das Magnificat, vor. Sie folgen darin einer alten Tradition, wie ihr Dirigent Stefan Schuck erläutert:

"Die Christenheit beschäftigt sich seit Beginn mit den alttestamentarischen Psalmen, so wie es im Judentum auch schon der Fall war. Es wurde zur frühen Übung, dass man alle 150 Psalmen in einem gewissen regelmäßigen Rhythmus betet. Daraus entstand das Stundengebet der frühen Mönchsgemeinschaften, die sich zur Aufgabe gemacht haben, den ganzen Psalter im Wochenturnus zu beten."

Über den Tag verteilt, wurden die Psalmen zu festgelegten Zeiten gesungen. Diese Tradition pflegten auch die mittelalterlichen Stadtkirchen. Auch in Deutschland gab es sie, selbst im evangelischen Raum, bis in die Barockzeit, dann brach sie ab. Lebendig blieb sie in England, im anglikanischen Abendgebet, dem sogenannten Evensong. Stefan Schuck hat ihn in den Colleges und in den Stadtkirchen in Cambridge erlebt und nach seinem Vorbild in Berlin den NoonSong am Samstag eingerichtet. Nach der Tageszeit, in der er stattfindet, benannt, wurde er in der Kirche am Hohenzollerndamm erstmalig am 1. November 2008 vorgetragen.

Der große Reiz des NoonSongs besteht in seiner strengen liturgischen Form. Er lebt aus der
Spannung immer wiederkehrender Elemente und Texte und ihrer variantenreichen musikalischen Ausformung. Sie werden dadurch besonders intensiv erlebt, wie die Sängerin Andrea Effmert betont:

"So allmählich tropft davon etwas in die Seele. Wenn ich eine Sache einmal höre, ist es gut, wenn ich sie zweimal höre, kann ich vielleicht schon wieder anderes da für mich rausziehen, und wenn ich's gesungen höre, hab ich alle Chancen der Welt, es in mich rein zu lassen."

Bei dem Reichtum des vorgetragenen Repertoires ist das gut vorstellbar. Jeden Samstag wird ein neues Programm vorgetragen, überwiegend Chorstücke der Renaissance und des Barock, aber auch Werke anderer Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Annette Stephani, die regelmäßig zum NoonSong kommt, beschreibt seine Wirkung:

"Ich höre den Klangteppich und höre die verschiedenen Stimmen einzeln heraus. Ich höre nicht nur den Sopran oder den Bass, der relativ leicht zu verfolgen ist, sondern ich folge auch dem Alt oder auch dem Tenor, und durch dieses gezielte Hinhören ist für mich eine völlige Entspannung im Kopf gegeben, eine unglaubliche Ruhe, Entspannung, Gelassenheit. Und die wirkt eigentlich noch den ganzen Samstag nach."

Im Grunde ist der NoonSong eine musikalische Predigt, bei der Gesänge die Psalmen auslegen. Als religiöse Texte spiegeln sie zugleich alle Lebensumstände und Gefühlslagen der Menschen von Verzweiflung und Verlassenheit bis zu Zuversicht und Freude. Deshalb kann der gläubige Mensch hier ebenso eintauchen wie der religiös unbestimmte oder der einfach nur neugierige Gast. Ob er zum vertieften Erleben des eigenen Glaubens oder ganz allgemein zu Meditation und seelischer Entspannung beiträgt – ungerührt bleibt kaum ein Besucher des NoonSong wie Barbara Reier, die die Gäste am Eingang der Kirche begrüßt, erfährt.

"Es kommen ganz viele Menschen, die vom Markt rein kommen und es kommen evangelische, es kommen katholische Menschen rein, es kommen Moslems rein. Es kommen auch viele Touristen. Viele gehen mit Tränen in den Augen raus und die meisten bedanken sich."