Medienkritik

Immer auf Sendung

Ein Symbolbild des Schreckens: Die zerstörte Front des Lkw am Breitscheidplatz in Berlin, mit dem das Attentat ausgeführt wurde.
Ein Symbolbild des Schreckens: Die zerstörte Front des Lkw am Breitscheidplatz in Berlin, mit dem das Attentat ausgeführt wurde. © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Von Martin Tschechne · 12.01.2017
Wie arbeiten die Netzwerke des Terrors? Ihr Ziel ist die Verunsicherung der Öffentlichkeit. Deshalb müssen Bilder her – und die Medien machen sich zum Instrument des Terrors, meint der Psychologe und Publizist Martin Tschechne.
Bestimmt hat auch Anis Amri diese Bilder gesehen. Immer wieder, man konnte sich ihnen ja nicht entziehen damals, am 14. Juli vergangenen Jahres: ein weißer Lastwagen, der langsam auf die Strandpromenade von Nizza zurollt, dann beschleunigt und in die Menge rast. Ein deutscher Journalist war mit seinem Video vom Balkon eines Hotels auf Sendung, noch während auf der Straße die Sterbenden versorgt wurden. Reporterglück. 86 Menschen fanden den Tod. Sie waren an die Cote d'Azur gekommen, um das Feuerwerk zum französischen Nationalfeiertag zu erleben.
Ein halbes Jahr später war es eben dieser Tunesier Amri, der einen Lastzug mitten in den Berliner Weihnachtsmarkt lenkte und zwölf Menschen tötete. Dass er den Attentäter von Nizza, einen Landsmann, bis ins Kleinste kopieren wollte, das gab er mehr als deutlich zu erkennen.

Ungeprüft in Umlauf gebracht

Was für ein beklemmender Gedanke! Die Bilder grausamer Anschläge als perfekte Blaupause für neuerliche Verbrechen. Willige Publikationshelfer lauern schon auf ihre Sensation: Ein Smart Phone ist schnell gezückt, ein soziales Netzwerk schnell in Hysterie versetzt. Und auch etablierte Medien liefern, möglichst in Echtzeit, und wiederholen die Bilder dann, bis jedes Detail sein Ziel erreicht hat.
Dabei ist längst klar: Die blutenden Opfer auf der Straße sind nicht das Ziel der Terroristen – sie sind ihr Mittel! Ziel ist die Öffentlichkeit, ihre Verunsicherung und alles, was einem im Zustand der Panik so durch den Kopf schießt. Deshalb müssen Bilder her – vom Tod auf der Strandpromenade, im Einkaufszentrum, auf dem Weihnachtsmarkt. Zwei, drei Tage später drängen sich die Kommentatoren vor den Kameras und fordern, zur Sicherheit doch lieber auf ein paar Grundrechte zu verzichten. So schlägt man ein System mit seinen eigenen Mitteln. Jeder spielt die Rolle, die ihm zugewiesen ist.
Und so arbeiten die Netzwerke des Terrors. Ein kleiner Anstoß genügt, eine Hasspredigt, eine Fatwa; der Rest entfaltet sich von selbst. Es ist der Mechanismus der Ermächtigung, durch den labile, zornige, vielleicht auch nur gestörte oder gelangweilte Täter an jedem Ort der Welt von der Leine gelassen werden, ohne Plan, ohne speziellen Befehl und oft wohl sogar ohne Wissen des Auftraggebers – die in jeder Hinsicht billigste Methode, Gewalt auszuüben. Ein paar Stunden, dann hat die Nachricht sich bis in den letzten Winkel verbreitet. Wenn der erste Schock abklingt, folgt die Meldung: "Wir waren es!", ebenso ungeprüft und ebenso dienstbar in Umlauf gebracht wie zuvor die sich überstürzenden Meldungen zur Tat. Und dann das Staunen: "Wie mächtig müssen die sein! Und wie wütend bin ich selbst!" Es ist ein ewiger Kreislauf.

Journalisten sollten professionell zaudern

Zwei Gedanken dazu, einer aus Idealismus und einer aus Enttäuschung. Wie wäre es, erstens, wenn professionelle Journalisten sich einen Moment des Zauderns auferlegten, ganz automatisch, bevor sie eine Nachricht verbreiten? Schnelligkeit war in ihrem Gewerbe mal eine Tugend, heute liegt genau darin Schwäche. Schnell sind die anderen, die Einzelkämpfer; Profis dagegen denken und handeln in Netzwerken. Sie fragen: Wem nützt diese Information? Wer hat etwas davon? Trage ich durch Verbreitung zu einer Lösung bei? Oder mache ich mich zum Handlanger fremder Pläne? Der zweite Gedanke allerdings: Wer ist schon souverän genug, solche Folgen zu überdenken, wenn vermeintliche Konkurrenz längst das Feuer schürt?
Der Wiener Journalist und Zeitkritiker Karl Kraus prägte den Satz: "Im Anfang war die Presse, und dann erschien die Welt." Später korrigierte ihn der Philosoph Günther Anders: "Im Anfang war die Sendung, für sie geschieht die Welt!" Auch diese Erkenntnis ist alt. Das Buch, in dem sie 1956 erschien, heißt "Die Antiquiertheit des Menschen". Und für alle, die einen verantwortungsvollen Umgang mit Nachrichten anstreben, liegt darin auch eine Ermutigung: Am Prinzip hat sich ja nichts geändert.

Martin Tschechne ist promovierte Psychologe, arbeitet als Journalist und lebt in Hamburg. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie DGPs zeichnete ihn kürzlich mit ihrem Preis für Wissenschaftspublizistik aus. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).

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