Medienabhängigkeit

"Man verliert die Kontrolle über sein Verhalten"

Ein Teilnehmer des 30. Chaos Communication Congress (30C3) des Chaos Computer Clubs (CCC) sitzt in Hamburg mit seinem Laptop in einem Becken mit weichem Verpackungsmaterial.
Die Verwendung bestimmter Online-Anwendungen kann abhängig machen. © picture-alliance / dpa / Bodo Marks
Kai Müller im Gespräch mit Joachim Scholl · 28.04.2014
Rund ein Prozent der Bevölkerung sind hierzulande süchtig nach Online-Computerspielen, sozialen Netzwerken oder Internet-Glücksspielen, sagt Kai Müller. Der Psychologe setzt sich dafür ein, diese Abhängigkeit als eigenständige Erkrankung anzuerkennen.
Joachim Scholl: Den Fachverband Medienabhängigkeit gibt es seit 2008. In ihm haben sich Mediziner, Psychologen, Therapeuten aus ganz Deutschland zusammengeschlossen, die auf dem Feld von Sucht und Abhängigkeit arbeiten. Und der Name des Verbandes verweist schon auf die Gefahr, gegen die man vorgehen will, die Abhängigkeit vom Internet, vom Computerspielen, von den Neuen Medien. Der Fachverband fordert nun, solcherlei Medienabhängigkeit als eigenständige Erkrankung anzuerkennen. Am Telefon begrüße ich jetzt Kai Müller, Diplompsychologe an der Uni Mainz und Vorstandsmitglied im Fachverband, guten Tag, Herr Müller!
Kai Müller: Ja, schönen guten Tag!
Scholl: Seit längerer Zeit warnen Experten wie Sie vor den Suchtgefahren, die das Internet birgt, immer wieder liest man vor allem von eklatanten Beispielen bei Computerspielsucht. Wieso fordern Sie gerade jetzt, dass man solches Verhalten als Krankheit anerkennt?
Müller: Wir fordern das eigentlich schon seit einer ganzen Weile, und die Forderungen sind jetzt nur noch mal verstärkt in den Vordergrund getreten, weil in den USA, wo ein bisschen ein anderes Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen vorherrscht, seit letztem Jahr die Internet-Computerspielsucht als vorläufiges Störungsbild aufgenommen wurde. Und wir möchte natürlich beitragen, dass eine ähnliche Entwicklung auch für den europäischen Raum ins Auge gefasst wird.
Scholl: Was genau ist in Ihrem Sinn Medienabhängigkeit, wie definieren Sie das?
Müller: Medienabhängigkeit ist ein bisschen ein sehr breiter Begriff. Wir sprechen hier vor allen Dingen von einer suchtartigen Internetnutzung, die sich auf eine unkontrollierte, ausufernde Nutzung von verschiedenen im Internet zur Verfügung stehenden Anwendungen beziehen kann. Also beispielsweise Online-Computerspiele, aber eben auch soziale Netzwerke, Online-Glücksspiele und so weiter und so fort. Definiert ist das eben darüber, dass der Betroffene die Kontrolle über sein Nutzungsverhalten verliert, sich aus anderen Lebensbereichen, die ihm vorher eigentlich wichtig waren, komplett zurückzieht, also nicht nur Pflichten vernachlässigt – da hat man ja immer ein Auge drauf –, sondern eben auch schöne, angenehme Dinge nicht mehr wahrnimmt und sozusagen sich dann die aktiven Nutzungszeiten bis zu einem Maß steigern, wo man eigentlich auch nicht mehr von einem wirklichen Leben sprechen kann.
Scholl: Gibt es da schon belastbare Zahlen, Statistiken, also, wie viele auf diese Weise Abhängige, Internetsüchtige schätzt man, dass es in Deutschland gibt?
Müller: Ja, gibt es tatsächlich von Kollegen aus der Uni Lübeck und Greifswald, die haben da eine schöne Studie durchgeführt: Man schätzt die Auftretenshäufigkeit, die sogenannte Prävalenz von Internetsucht in Deutschland in der allgemeinen Bevölkerung auf etwa ein Prozent. Ein Prozent hört sich jetzt erst mal nicht so überragend an, ist ja einerseits auch ganz gut, andererseits bewegen wir uns hier im Rahmen von psychischen Störungen wie Schizophrenie, die auch ungefähr mit einer Auftretenshäufigkeit von einem Prozent vorhanden sind.
Scholl: Also, bei Computerspielsucht ist es, glaube ich, sofort einsichtig, dass man sagt, ja, man kann nicht aufhören, man verliert die Kontrolle über sein Verhalten. Wie ist es dann aber bei einem Smartphone? Also, wenn ich morgens aufstehe, das Smartphone einschalte und den ganzen Tag über ständig drauf gucke, ist das schon eine Abhängigkeit?
Beim Smartphone gibt es "Unterbrechermomente"
Müller: Ja, da scheiden sich so ein bisschen die Geister. Also, sicherlich haben Smartphones das Potenzial, eine hohe Nutzerbindung zu erzeugen. Sprich, man checkt häufiger, ob man irgendeine Nachricht neu hat, guckt im Internet kurz was nach und so weiter. Aber im Unterschied zu einer, ich nenne es jetzt mal, klassischen Internet- oder Computerspielsucht ist es beim Smartphone eben doch in der Regel so, dass immer noch so Unterbrechermomente da sind, man ist nicht die ganze Zeit mit allen Sinnen im Smartphone versunken. Dieses Phänomen haben wir sehr wohl bei so einer klassischen Internetsucht, wo die Betroffenen sich eben anfangen, vor dem eigenen heimischen PC zu verschanzen und in gravierenden Fällen eben auch das Haus nur noch sehr selten verlassen.
Scholl: Sind Jugendliche da besonders gefährdet?
Müller: Ja, nach ersten Ansichten, nach ersten Forschungsergebnissen auch ist die Prävalenz unter Jugendlichen leicht höher, wobei man sagen muss ein bisschen relativierend, im Jugendalter sind so eine ganze Reihe von Problemverhaltensweisen häufiger oder breiter ausgeprägt als im Erwachsenenalter und man geht davon aus, dass sich in vielen Fällen so ein Problemverhalten auch mit einer zunehmenden Reife auswächst.
Scholl: Noch mal Stichwort Computerspielsucht, Herr Müller: Das ist Ihr Spezialgebiet, also, Spielsucht ist Ihr therapeutisches Spezialgebiet. Das kann man eben therapeutisch gut behandeln, weil es ja auch als Krankheit schon anerkannt ist. Was ist denn da jetzt der Unterschied?
Müller: Es ist ein gewisser Unterschied, kein großer. Man geht bei beiden Phänomenen davon aus, dass es eine sogenannte substanzungebundene Suchterkrankung ist, sprich, dass es ein Verhalten ist, das infolge des zunehmenden Konsums außer Kontrolle gerät und ganz ähnliche Phänomene oder Effekte auf den Betroffenen ausübt wie eine klassische Suchterkrankung. Von daher gibt es da schon sehr große Parallelen, das ist auf jeden Fall richtig.
Scholl: Medienabhängigkeit als anerkannte Krankheit, das fordert Kai Müller vom Fachverband Medienabhängigkeit hier im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Was, Herr Müller, bringt nun die Anerkennung als Krankheit, warum wäre das so wichtig?
Müller: Na, einerseits wäre es wichtig, dass man einfach stärker in der Allgemeinbevölkerung auf die Schwere dieses Störungsbildes hinweist. Ein anderer Punkt ist eher praktischer Natur, es sieht so aus, dass momentan noch vergleichsweise wenige Spezialbehandlungseinrichtungen in Deutschland zur Verfügung stehen, an die sich Betroffene mit einer Internet-, mit einer Computerspielsucht wenden können. Und natürlich würde sich das Hilfenetz weiter ausdifferenzieren, wenn man sicher sein könnte, hoppla, das ist ja eine Störung, deren Behandlung eben auch entsprechend von den Kostenträgern dann bezahlt wird. Das würde also beispielsweise niedergelassenen Psychotherapeuten die Möglichkeit einräumen, auch zunehmend Patienten anzunehmen, die eben eine Internetsucht haben, und gleichzeitig zu wissen, sie arbeiten auch wirtschaftlich.
Scholl: Warum ist denn dann die Haltung demgemäß so zögerlich, also vonseiten der Ministerien, der Politik, auch der Krankenkassen eventuell? Weil es eben dann teuer wird?
"Jetzt haben wir eben eine ausreichend große Datenlage"
Müller: Na ja, das könnte natürlich ein Grund sein. Ein anderer Grund ist natürlich – und das muss man dann den Entscheidungsträgern auch ein bisschen zugutehalten –, es treten ja immer so mal wellenmäßig irgendwelche Phänomene auf, die plötzlich als krankhaft, als schwerwiegende Störung transportiert werden und aber eigentlich nicht so wirklich Gehalt haben. Und deswegen ist es immer so ein bisschen auch im Sinne der Qualitätssicherung notwendig, dass man natürlich eine valide Entscheidungsbasis hat, um zu sagen, okay, dieses Störungsbild, das ist wirklich etwas Eigenständiges, es ist wirklich etwas, was Leiden verursacht, und dafür müssen Finanzen bereitgestellt werden. Und bei der Internetsucht ist es eben so, es ist ein relativ junges Phänomen, das erst seit gut fünf, sechs Jahren systematisch beforscht wird. Und erst jetzt haben wir eben eine ausreichend große Datenlage, dass man sagen kann, das ist wirklich ein Problem, dem man sich annehmen sollte.
Scholl: Welche Möglichkeiten hat denn zurzeit ein Mensch, der ein solches Abhängigkeitsverhalten bei sich oder bei einem Angehörigen feststellt? Gibt es da so Selbsthilfegruppen, Meetings, wie für Alkoholiker, Drogen- und Spielsüchtige?
Müller: Gibt es zum Teil auch schon, also, wie gesagt, das differenziert sich erst sehr, sehr langsam aus, weil es einfach schwierig ist, ohne Finanzen da entsprechende Strukturen zu implementieren. Es gibt mittlerweile die Möglichkeit, sich an einzelne Fachkliniken zu wenden, die ein provisorisches Angebot, ein vorläufiges Angebot zur Behandlung von Betroffenen vorhält, es gibt auch die Möglichkeit, sich über Beratungsstellen, Hilfestellen, Anlaufstellen am jeweiligen Wohnort zu informieren, da gibt es beispielsweise eine zentrale Hotline der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, und auch die Ambulanz für Spielsucht in Mainz hat so ein umfassendes Datenarchiv, also, da kann man sozusagen Adressen erfragen.
Scholl: Bei Alkohol-, Drogen- und Spielsucht heißt es ja, man wird sie nicht mehr los, man muss mit ihr lernen zu leben, ein Rückfall heißt, sofort wieder an der Nadel zu sein. Wenn das jetzt bei dieser Medienabhängigkeit genauso wäre, hieße das ja, Herr Müller, ein Leben lang keinen Computer mehr einschalten. Wie soll das denn gehen?
"Nicht von allem, was im Internet zur Verfügung steht, gleich abhängig"
Müller: Ja, da muss man wieder ein bisschen den Begriff spezifischer fassen. Also, jemand, der internetsüchtig ist, der ist nicht vom Internet per se süchtig, das muss man dazu sagen, auch nicht vom PC selbst. Natürlich stellt der PC und das Internet immer eine gewisse Verführungskomponente für ihn dar, was auch einen Rückfall natürlich provozieren kann, aber in der Regel ist zum Beispiel jemand mit einer Online-Computerspielsucht, der ist in der Regel komplett dazu befähigt, ganz kontrolliert Social Networking Sites oder auch Online-Glücksspiele von mir aus ganz kontrolliert oder gezügelt zu nutzen. Der ist nicht von allem, was im Internet so zur Verfügung steht, gleich abhängig, sondern hat so einen Spezialsektor. Und in Bezug auf diesen Spezialsektor ist es natürlich so – das ist Ziel der meisten therapeutischen Interventionen –, dass man da eine Abstinenz versucht zu etablieren beziehungsweise bessere Kontrollmechanismen beim Betroffenen versucht zurück zu implementieren.
Scholl: Wann, würden Sie sagen, soll man aufpassen? Also, ich kann mich erinnern, als die Computer aufkamen, habe ich stundenlang am Tag Mohrhühner abgeschossen, kennen Sie bestimmt noch.
Müller: Ja.
Scholl: Bis ich irgendwann gesagt habe, das verhindert meine Arbeit, und habe das Ding gelöscht, habe es nie vermisst. Bin ich gerade noch mal losgekommen?
Müller: Na ja, gerade noch mal ist schwer, zu sagen, aber es war auf jeden Fall eine sehr reflektierte Entscheidung von Ihnen damals, also, da ist genau der Punkt: Wenn man merkt, dass der Internetkonsum ausufert, dass der plötzlich mit anderen Lebensbereichen in Konflikt steht. Und hier ist das Wichtige eben, nicht nur mit lästigen Pflichten in Konflikt steht, sondern auch mit angenehmen Sachen, mit schönen Sachen. Wenn man anfängt, beispielsweise Hobbys, die jetzt nichts mit dem Internet zu tun haben, über Bord zu werfen, weil man zunehmend den Drang verspürt, online sein zu müssen.
Scholl: Oder eine Verabredung mit einem Freund oder einer Freundin absagt, weil man irgendwie gerade auf den nächsten Level kommt oder so.
Müller: Genau, zum Beispiel, und wenn das eben nicht nur ein einmaliges Ereignis ist, sondern schon einen gewissen Wiederholungscharakter mit sich bringt, dann sollte man schon gucken, dass man ein Stück weit versucht, beispielsweise einen medienfreien Tag in der Woche einzuführen, wo man sagt, okay, an dem Tag gewöhne ich mir an, dass ich den PC jetzt nicht für private Angelegenheiten nutze, sondern nur eben für das, was obligatorisch ist, Job, Schule oder sonst irgendwas.
Scholl: Medienabhängigkeit, Internetsucht als Krankheit anzuerkennen, dafür plädiert der Fachverband Medienabhängigkeit. Im Vorstand ist der Diplompsychologe Kai Müller von der Universität Mainz. Herzlichen Dank Ihnen für das Gespräch!
Müller: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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