Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg

Die "Lange Tafel" außerhalb von Berlin

Zahlreiche Menschen speisen am 17.08.2013 beim "Weißen Dinner" in Hamburg ganz in weiß gekleidet rund um das Hafenbecken an der Ericusspitze.
Zahlreiche Menschen speisen am 17.08.2013 beim "Weißen Dinner" in Hamburg ganz in weiß gekleidet rund um das Hafenbecken an der Ericusspitze. © dpa / picture alliance / Sven Hoppe
Von Silke Hasselmann und Axel Schröder · 09.07.2015
Erstmals lud eine "Lange Tafel" vor zehn Jahren in Berlin die Öffentlichkeit an einen 100 Meter langen Tisch. Die kleine vorpommersche Landstadt setzt nach einem "Tafel"-Versuch nun mehr auf Festivals. Und Hamburg orientiert sich beim öffentlichen Essen an Paris.

Lange Tafel Hamburg

Seit 2009 gibt es in Hamburg eine besonders gediegene Tafelrunde. Seitdem nehmen einmal im Jahr viele hundert 300 Menschen am so genannten Weißen Dinner teil. Frauen und Männer, in weißen Jeans, weißen Kleidern, weißes T-Shirts oder Hemden, saßen im letzten Jahr an großen und kleinen Tischen, kreuz und quer in einer abgesperrten Seitenstraße in Hamburg-Altona. Und die Veranstalterin Manon Dunkel, mit weißer Blume im Haar, war begeistert:
"Es war ein gewisser Aufwand. Aber wirklich schwierig war es nicht. Ich musste das beim Bezirksamt vorstellen und auch bei er Polizei. Aber auch dort war man ganz schnell von der Idee angetan. Und dann habe ich das einfach im Viertel hier bekannt gemacht und es ist hervorragend, wie es gelaufen ist."
In diesem Jahr organisiert das Dinner Lale Ünlü zusammen mit einer Freundin. Lale Ünlü nimmt einen Schluck aus ihrer Apfelschorle, lehnt an einem Stehtisch im "Brauhaus", in der Hamburger Innenstadt. Am 29. August, um 17 Uhr soll es in diesem Jahr losgehen.
"Wir haben das Glück, dass wir direkt an der Elbe sitzen, auf der Promenade. Und den Schiffen zuwinken können und die können zurücktuten. Aber ansonsten ist das auch mal mitten auf der Straße. Und der Reiz daran ist eigentlich, dass man mit vielen verschiedenen Menschen, die man noch gar nicht kennt, zusammenkommt. Einen schönen Abend verbringt, Leute kennenlernt, mit Freunden oder der Familie einen schönen Abend verbringt. Und das läuft alles immer sehr harmonisch ab. Und deswegen ist es auch sehr reizvoll und einfach immer ein sehr schöner Abend."
Ein bisschen snobistisch
Entstanden ist die Idee in Paris. Dort fand das erste diner en blanc statt. In Hamburg beteiligen sich in diesem Sommer gleich neun Bezirke. Der Eintritt ist frei, einzige Zugangsvoraussetzung - na klar: die weiße Kleidung. Nur bei den Schuhen machen die Veranstalter eine Ausnahme:
"Ansonsten bringst du deinen Tisch und deinen Stuhl mit, das Essen und Trinken, was du an dem Abend verspeisen möchtest. Man kann sich natürlich auch in einer Gruppe zusammentun und die Aufgaben ein bisschen verteilen. Die einen bringen das Mobiliar mit, die anderen machen dann die Vorspeise, die Nachspeise oder den Hauptgang, einer ist zuständig für die Getränke, adere für die Deko. Genau."
Und dann wird gegessen, getrunken und parliert. Das Gesamtbild: ein Meer von Weiß, von Gediegenheit. Ein bisschen snobistisch.
"Ja. Das ist richtig. Hat so einen Touch von... Aber im Grunde genommen zählt das Beisammensein. Es ist gar nicht so wichtig, dass es dieses Elitäre irgendwie hat. Man könnte auch das schwarze Dinner oder das bunte Dinner oder das graue oder grüne oder sonst irgendwas machen. Wie gesagt: Es kommt aus Frankreich und da war es das Weiße Dinner und das wurde einfach adaptiert."
Und unterm Strich, so Lale Ünlü, entsteht durch den strengen Dresscode einfach ein Stück Gemeinsamkeit, ein bisschen Gemeinschaft. Darum geht es. Und keineswegs um Politik, betont Lale Ünlü. "Reclaim the Streets", "Erobert die Straßen!" - darum geht es ausdrücklich nicht. Jedenfalls nicht in Hamburg. Etwas weiter südlich sah das Mitte Juni anders aus: im Landkreis Harburg protestierten Anwohner gegen die Planungen einer neuen Schienenstrecke. Mit einem Weißen Dinner. Etwa weniger gediegen, aber dafür laut und politisch.

Lange Tafel Loitz

Loitz beherbergt 4300 Menschen und jede Menge Frösche. Denn Loitz liegt an der Peene. Ein wunderschöner Flecken Erde, wo gut und zufrieden lebt, wer die Ruhe liebt und die Natur.
Dass der West-Berliner Künstler Peter Tucholski seit Anfang der 90er-Jahren hier lebt, hat auch damit zu tun. Vor allem aber damit, dass sein Elternhaus auf eine Rückübertragung wartete.
"Ich bin hier 1952 geboren, und meine Eltern sind 1953, als ich ein ganz kleines Kind war, aus politischen Gründen in den Westen gegangen. Sie haben ihre Sehnsucht und ihren Schmerz mitgenommen, so dass ich dann immer diesen Phantomschmerz hatte. Bis nach der Wende, als ich das hier sah, da habe ich gedacht: Ok, das isses."
Es ist nämlich kein gewöhnliches Wohnhaus, sondern ein ehemaliges Gasthaus mit angeschlossenem Ballsaal und allerlei Nebengelass direkt am Fluss. Hier hat Peter Tucholski genügend Platz für all seine experimentellen Klanginstrumente. Etwa für das mit Saiten bespannte Holzsegelboot aus Berlin-Grünau, das bei den Olympischen Sommerspielen 1936 im Einsatz gewesen war und nun bei gutem Sommerwetter auf der Peene zauberhafte Klänge ermöglicht. Tucholskis Traum: hier in der Gegend bald Gastgeber für Norddeutschlands erstes und bisher einziges Festival experimenteller Musik zu sein. Was das mit der "Langen Tafel" zu tun hat? Nun, erzählen wir der Reihe nach.
Peter Tucholski ist mit der Erfinderin der "Langen Tafel", Isabella Mamatis, befreundet. Warum das Ganze nicht auch in einer Kleinstadt wie Loitz probieren, wo sich Künstler aus der Region und von weiter in einem Kunstverein zusammengeschlossen hatten? Gedacht, getan, so Peter Tucholski:
"Wir hatten ein Projekt 'Kunst im Kontext', in dem wir Künstler eingeladen hatten, die sich mit den örtlichen Vereinen kreativ befassten und das dann in künstlerische Arbeiten übersetzten. In diesem Zusammenhang war auch die 'Lange Tafel' aus Berlin eingeladen, die hier mit dem Konzept insbesondere von Isabella Mamatis kreiert das dann umgesetzt hat."
Festivals statt "Lange Tafel"
Auch in Loitz ging es um ein großes Thema – einmal "Natur", im folgenden Jahr um "Geld".
"Also mit der örtlichen Regionalschule haben wir dann ein Thema bearbeitet, und diese Schüler haben dann als Tutoren ihre Eltern, ihre Großeltern eingeladen und die dann auch an dieser Tafel versorgt hier in der Langen Reihe. Das ist eine langgezogene Straße hier im Ort. Die Tische wurden weiß eingedeckt und dazu gab es Spaghetti-Essen. Wir hatten noch 'ne zweite 'Lange Tafel" auf dem Rathausplatz. Das waren auch hundert Meter und 200, 300 Leute, die zusammenkamen."
Frage: "Kam DER Loitzer?"
"Naja, in dem Fall kam DER Loitzer, weil wir mit dem Projekt die Vereine angesprochen hatten. Dazu muss man wissen, Loitz hat 40 Vereine. Dadurch war so 'ne gewisse Scheu genommen. Man stand in Kontakt und der eine Verein wollte auch wissen, was der andere macht. So hatten wir die Situation, dass es einfach gut besucht war."
Daran kann sich auch der heutige Bürgermeister Michael Sack noch erinnern.
"Das war 'ne schöne Sache gewesen, denn eine Forderung habe ich immer aufgemacht: Als Kunstverein in der Stadt müsst ihr euch hier auch verwurzeln. Es kann nicht sein, dass die Künstler von außen kommen. Die machen tolle Projekte, die aber der normalsterbliche Loitzer gar nicht versteht. Und naja, Leute zusammenzubringen, egal in welcher Form, ist immer 'ne gute Sache. Das regt zu Gesprächen an auch über die Tafel hinaus".
Warum es heute keine "Lange Tafel" mehr in der kleinen Peenetal-Stadt gibt? Weil diese Inszenierung aufwendig ist, weil sie kein Dauerprojekt an einem Ort sein muss und weil sich die Mitglieder über die eigene Ausrichtung des Kunstvereins zerstritten hatten. Doch daraus hervorgegangen ist zum Einen der "Kulturkonsum" für alle Bürger. Zum Anderen, so Klangkünstler Peter Tucholski:
"Der Kunstverein existiert noch, geht aber gerade durch einen Strukturwandel weg von dieser Gegenwartskunst, die wir nicht mehr aus eigenen Mitteln finanzieren konnten, hin zu experimenteller Musik. Wir werden mehr Festivals organisieren, auch für experimentelle Musik. Denn im Norden gibt es so etwas noch nicht."
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