Maximaler Minimalist

Von Carsten Probst · 06.09.2012
Mehr als 140 Exponate geben in Wolfsburg einen Überblick über das Schaffen des Künstlers Frank Stella. Im Blickpunkt stand für den US-Amerikaner immer wieder vor allem eines: Die Malerei in den Raum zu verlagern und sie zu einer dynamischen Form werden zu lassen.
Frank Stella ist ein wenig müde, wie er zugibt, von den vielen Würdigungen und Feiern zu seinem 75. Geburtstag im letzten Jahr. Hier in Wolfsburg die Arbeiten aus allen Schaffensphasen versammelt zu sehen, in der vermeintlich größten Retrospektive seit fünfzehn Jahren, bewegt ihn nicht weiter – vermutlich wurde er in den letzen Monaten zu oft an seine heroischen Zeiten erinnert, die 60er- und 70er-Jahre, und er selbst sagt von sich: Diese Arbeiten habe ich schließlich selber gemacht, ich kenne sie doch. Er lächelt, die umstehenden lachen.

Aber jeder, der mit Stella zusammentrifft, muss sich erst daran gewöhnen, dass dieser Künstler, der wie kaum ein anderer zu lebenden Ikone der goldenen Ära amerikanischer Kunst stilisiert wurde, die Bescheidenheit in Person ist. Unmöglich, ihn Dinge zu fragen, auf die er nicht schon oft geantwortet hat. Und doch interessiert immer wieder vor allem eines: Seine ursprüngliche Idee, die Malerei in den Raum zu verlagern, sie aus der Tradition des europäischen Tafelbildes zu lösen, sie zu einer dynamischen Form werden zu lassen. Aber auch da schränkt Frank Stella erst einmal beschwichtigend ein:

"Meine Arbeiten sind natürlich bewegungslos, in dem Sinn, dass sie statisch sind. Andererseits stimmt es natürlich: Sie sollen schon eine überzeugende Vitalität haben, sie sollen ein Gefühl von Bewegung vermitteln. Vielleicht bewegen sie sich innerhalb ihres eigenen Raumes. Aber es gibt noch eine andere Art, diese Art von Bewegung zu denken, wenn Oberflächen mehr als nur eine Dimension haben. Stellen Sie sich diese Arbeiten aus der Sicht eines Insekts vor. Sie bewegen sich über diese ganzen verschlungenen Oberflächen, dann wären Sie ziemlich schnell verwirrt über all die Möglichkeiten, in welche Richtung es gehen kann. Meine Arbeiten haben diese architektonische Dimension der vielen Möglichkeiten, wenn auch zugegebenermaßen eher für Insekten als für Menschen, für die sind sie etwas zu klein."

Die architektonische Dimension ist ein Stichwort, ja fast ein Reizwort, das schon viele Kritiker und Kunsthistoriker herausgefordert hat. Ist Frank Stella eigentlich ein verkappter Architekt, der Malerei und Skulptur, ähnlich wie einst Michelangelo, eigentlich als große dreidimensionale Räume begriffen hat? Die Wolfsburger Ausstellung bietet den Luxus, einige Zeichnungen Stellas im Obergeschoss zu begutachten, in denen er Ideen für seine Arbeiten vorskizziert hat. Die Streifenbilder, die Polygone, die abstrakt-verschlungenen Ornamentarbeiten – abgesehen von den frühesten Malereien vom Ende der 50er-Jahre scheint seit den strengen Streifenbildern der frühen sechziger Jahre tatsächlich ein Architekt eher abstrakte Raumkonzepte entworfen zu haben, denn ein Maler.

"Die Zeichnungen sind im Grunde einfach. Sie können auch sagen: einfältig. Das würde mich auch nicht beleidigen. In gewisser Weise sind sie Diagramme. Sie zeigen, wie ein Bild organisiert werden muss. Sie sind nicht überladen, sondern ein Anfang, ein Plan. Die ersten sind eher Rohmaterial, dann folgen exaktere, sodass ich die Struktur auf die Leinwand übertragen kann und am Ende nichts anderes mehr zu tun habe, als das Bild zu malen."

Wirklich in seinem Element ist Stella, der auch Kunstgeschichte studiert hat, wenn er über die historische Situation spricht, in die er als junger Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg in Amerika hineingeboren wurde. Wer kennt heute noch Alfred Barr, ruft er aus. Alfred Barr, der legendäre Gründungsdirektor des Museum of Modern Art in New York, verhalf nach dem Krieg früh den Protagonisten einer neuen Künstlergeneration wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns oder Jackson Pollock zu internationalem Rang. Stella verbindet wesentliche Einflüsse für sein Werk mit dem Wirken von Barr seit den 50er-Jahren in New York.

"Sein Eintreten für moderne europäische Kunst, vor allem für Picasso und Matisse, vor allem aber seine Sensibilität für den russischen Konstruktivismus und die Abstraktion, allen voran für Malewitsch, Mondrian und Kandinsky – Alfred Barr war vielleicht die einzige Person auf der Welt in den 30er-Jahren, der in der Lage war, diese Kunst ins Leben zurückzuholen. Es war eine wahre Rettungstat, und trug dazu bei, dass diese Kunst von den amerikanischen Künstlern adaptiert wurde. Nach dem Krieg gab es dadurch in den USA eine ganz besondere Situation."

Viele bekannte Künstler der amerikanischen Minimal Art haben stets einen Einfluss europäischer Moderne, vor allem des russischen Konstruktivismus verleugnet, obwohl er formal durchaus naheliegt. Frank Stella ist einen ganz anderen Weg gegangen, vom Minimalismus zum Maximalismus, wie es oft heißt. Seine verräumlichte Malerei, die zur Skulptur, zum Raum und schließlich zu Architektur wird, erinnert mitunter verblüffend an die Tradition des Konstruktivismus, der typografischen und architektonischen Lösungen eines Vladimir Tatlin und seinen Konterreliefs, den architektonischen Gebilden eines El Lissitzky. Stella leugnet dieses übergreifende Element seiner Formen auch nicht. Seine Wirkung auf zahlreiche jüngere Künstlerinnen und Künstler, die sich mit dem Erbe der Moderne auseinandersetzen, allen voran Sarah Morris, unterstreicht dies nur. Auch wenn Stella selbst von sich behauptet, dass er durch die aktuelle Kunst nicht mehr durchsteigt.

"Es gibt da eine Lücke. Ich schaue mir zwar immer noch viele Ausstellungen an. Aber meine Fähigkeit, alles zu verfolgen hat nachgelassen. Ich höre auch nicht mehr so viel von Künstlern, wer was gerade macht, was gut oder interessant ist; die Wege der Kommunikation sind anders geworden. Ich muss zum Beispiel zugeben, dass ich keine große Ahnung habe, was auf der aktuellen documenta passiert. Klar, ich habe viel darüber gelesen. Aber es hat mir nicht allzu viel gesagt."

Frank Stella - Die Retrospektive ist vom 08. September 2012 bis zum 20. Januar 2013 im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen.