Mauritius - Die Insel der aussterbenden Arten

Von Dirk Asendorpf · 08.04.2012
Mauritius ist ein abgelegener kleiner Inselstaat mitten im Indischen Ozean. Doch beim Artenschutz steht Mauritius im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Nirgendwo sind bereits mehr Tier- und Pflanzenarten verloren gegangen als hier.
Jetzt wollen Naturschützer zumindest das retten, was noch übrig ist. Dafür haben sie sich auf eine heikle Kooperation eingelassen; Ausgerechnet der Export von Laboraffen für Tierversuche soll das nötige Geld und die praktische Unterstützung für den Erhalt der mauritischen Biodiversität bereitstellen.

Pricila Iranah ist in ihrem Element. Flott steigt die junge Biologin den steilen Hang des Ferney-Tals hinauf, ein 200 Hektar großes Naturschutzgebiet im Osten von Mauritius. Links und rechts des Pfads wuchert tropische Vegetation in allen Grüntönen, darüber segelt – hellbraun vor weißen Wolkenbergen – ein Flughund.

"Was für eine entzückende Fledermaus da oben. Die letzte Säugetierart, die noch übrig ist in Mauritius. Und auch die wurde von der Internationalen Artenschutzunion als bedroht eingestuft. Trotzdem werden Flughunde noch gejagt, denn die Leute glauben, dass sie das Obst in ihren Gärten fressen würden. Was sie aber nicht wissen ist, dass der Flughund eine zentrale Rolle bei der Fortpflanzung einheimischer Pflanzen spielt. Wenn er verschwindet, dann ist die gesamte Waldstruktur davon betroffen."

Nirgends sind mehr Arten ausgestorben als in Mauritius
In keinem Land der Erde sind mehr Arten ausgestorben als in Mauritius, einem kleinen Inselstaat mitten im Indischen Ozean. Fast die Hälfte der ursprünglich dort heimischen Flora und Fauna war endemisch, kam also nirgendwo sonst auf der Erde vor. Jede zehnte dieser Pflanzenarten und fast jede zweite Tierart sind seit dem Beginn der Besiedlung durch Menschen vor knapp 400 Jahren ausgestorben. Die unbekannte Pyramiden-Spiralpalme gehört ebenso dazu wie der weltberühmte Dodo, der fleischige Vogel, der, weil flugunfähig, zur leichten Beute hungriger Seeleute wurde.

Und von dem, was an Biodiversität noch übrig ist, steht vieles auf der roten Liste bedrohter Arten. Zum Beispiel der Nail Tree. Ein Exemplar des Baumes steht direkt am Ufer des Wildbachs, der das Ferney-Tal durchquert.

"Der galt schon als ausgestorben, aber dann wurde er hier im Ferney-Tal bei der Umweltverträglichkeitsstudie für ein inzwischen aufgegebenes Straßenbauprojekt wiederentdeckt. Es ist eine Kauliflorie, das heißt die Blüten und Früchte wachsen direkt aus dem Stamm und nicht wie sonst an der Spitze der Äste. In Ferney sind noch vier Exemplare bekannt und 15 bis 20 weitere in den benachbarten Bergen. Auf der ganzen Welt gibt es weniger als 50, die heute noch überleben, und alle stehen hier im Südosten von Mauritius, nirgendwo sonst. Das macht den Nail Tree zu einem ziemlich Star und er ist definitiv schutzwürdig."

Auf kleinen Inseln ist die Artenvielfalt besonders gefährdet, denn wenn Landwirtschaft und Siedlungsbau immer mehr Fläche einnehmen, findet die Natur keinen Rückzugsraum. Mauritius war einst vollständig mit Regenwald bedeckt, heute sind davon nur noch letzte zerfetzte Stückchen übrig – vor allem an steilen Hängen, die für den Zuckerrohranbau ungeeignet sind. Doch dort finden sich noch immer Überreste einer erstaunlichen Artenvielfalt.

"Auf einem Hektar wachsen in Mauritius mehr Baumarten als in ganz Europa."

Claudia Baider leitet das mauritische Herbarium. Dort verwahrt sie in den Metallschränken eines dunklen, gut gekühlten Raums 30.000 Samen, getrocknete Blüten und Blätter, Rinden- und Holzproben. Die Biologin stammt aus Brasilien, dort hatte sie im Amazonasregenwald geforscht bevor die Liebe sie nach Mauritius brachte. Den Umzug hat sie nicht bereut.

"Man kann ja nicht alles haben. In Amazonien reist man tagelang und findet riesige Gebiete fast intakten Waldes. Hier ist alles klein. In einer Stunde Fahrzeit ist man da, kann im Wald arbeiten und abends zu Hause schlafen. Am Amazonas kratzt man immer nur an der Oberfläche, immer gibt es viel mehr offene als beantwortete Fragen. Aber wenn man hier in Mauritius arbeitet, kann man das Zusammenspiel der verschiedenen Arten und Waldtypen sehr gut verstehen. Und man arbeitet nicht nur akademisch, sondern leistet tatsächlich einen Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt."

Das Herbarium befindet sich direkt neben der Universität von Mauritius. Dort lehrt Claudia Baiders Ehemann, der Biologe Vincent Florens, Umweltwissenschaften. Er untersucht die Ursachen für den Verlust der Artenvielfalt.
Landwirtschaft zerstört Lebensräume
"Der wichtigste Faktor in Mauritius ist die extreme Zerstörung von Lebensräumen, vor allem durch die Landwirtschaft. Es ist der Wirtschafts-Extremismus der Zuckerrohrplantagen. 95 Prozent unserer ursprünglichen Lebensräume sind zerstört. Das hat die erste Welle des Artensterbens verursacht. Und dann kamen die invasiven Arten."

In den letzten Wäldern verdrängt ein aus Madagaskar eingeschlepptes baumhohes Streliziengewächs, der sogenannte Baum der Reisenden, die ursprüngliche Vegetation. Doch die größten Sorgen machen dem Biologen die aus Indien importierten Langschwanzmakaken.

"Die Affen haben hier keine natürlichen Feinde und setzen der heimischen Flora und Fauna erheblich zu. Ohne Frage haben sie das Aussterben vieler Arten verursacht, viele Vögel. Ebenholz zum Beispiel kann sich nicht mehr fortpflanzen, weil die Affen fast alle Früchte zerstören bevor sie reif sind. Sie richten massiven Schaden im Wald an. 40 Prozent unserer Orchideenarten sind bereits ausgestorben, vor allem weil die Affen sie herausreißen und darauf herumkauen."

Um der Affenplage Herr zu werden, hat sich Vincent Florens ungewöhnliche Verbündete gesucht. Auf Mauritius gibt es fünf Unternehmen, die Affen züchten und als Versuchstiere in alle Welt, auch nach Deutschland, verkaufen. Mit 10.000 exportierten Tieren pro Jahr ist Mauritius nach China die Nummer zwei im weltweiten Handel mit Laboraffen. Wildtiere dürfen zwar nicht direkt verkauft werden, sind für eine hohe Zuchtqualität jedoch unentbehrlich. Vincent Florens bittet die Unternehmen, ihre Fallen in den am stärksten bedrohten Waldresten aufzustellen.

"Das ist eine heikle Angelegenheit, denn Tierversuche sind natürlich äußerst umstritten. Aber wenn man das Problem aus Sicht des nationalen Erbes und der Biodiversität anschaut, das ist es eine echte win-win-Situation für den Naturschutz."

Und das auch deshalb, weil die mauritische Regierung auf den Export jedes Laboraffen eine Gebühr erhebt. Eine knappe Million Dollar kommt dabei im Jahr zusammen, die ausschließlich für Naturschutzmaßnahmen im größten Nationalpark des Landes ausgegeben werden darf. Doch dieses Koppelgeschäft ist umstritten. Der Tierschützer Paigam Rantu (Name von der Red. geändert) hat eine Kampagne dagegen gestartet.

"Der Handel mit mauritischen Affen wird damit gerechtfertigt, dass sie nicht heimisch, sondern eine Plage seien. Aber eigentlich geht es um ein großes Geschäft. Die Affen werden gefangen, in Käfigen mit Betonboden gehalten und ihrer üppigen Umwelt beraubt, an die sie gewohnt waren. Das ist Tierquälerei. Sie werden in kleinen Boxen transportiert und das ist alles ethisch wirklich nicht vertretbar. Mauritius hat das Image einer paradiesischen Insel, Leute verbringen ihren Urlaub hier. Aber hinter der paradiesischen Fassade von blauem Meer und Sand verbirgt sich etwas sehr düsteres, nämlich der Affenhandel."

Naturschutz auf Kosten eingeschleppter Arten? Für den Tierschützer steht das im völligen Widerspruch zur Tradition seines Landes. Denn auch die Menschen, die in Mauritius leben, sind eingewandert - aus Europa, aus Asien, aus Afrika.

"Mauritius ist ein Schmelztiegel all dieser verschiedenen Kulturen aus Frankreich, England, all der Religionen, Hinduismus, Christentum, Islam, Buddhismus. Wir leben alle in Harmonie zusammen. Der grausame Affenhandel geht total gegen diese spirituelle Natur unserer Insel. Wir verehren den Affengott Hanuman und beten zu ihm. Ich glaube, Mauritius wäre auf einem besseren Weg des Naturschutzes, wenn wir den Affenexport stoppen und die Tiere in die Wildnis entlassen würden, wo die Väter, Mütter und Babies als Familien zusammenleben könnten. Das würde den Naturschutz auf ein höheres Niveau heben."

Pricila Iranah hält diese Sicht für reine Bambi-Romantik. Aus eigener Erfahrung weiß sie, welches Unheil die Affen für den Artenschutz im Ferney-Tal bedeuten.

"Affen sind eine Plage, es sollte sie hier gar nicht geben. Die heimischen Pflanzen, die Insekten und das einzige Säugetier, das hier noch übrig ist, sie haben doch auch ein Recht zu überleben. Wer kämpft denn für sie?"

Manchmal verzweifelt die Biologin an den Herausforderungen, die sie in dem kleinen privaten Naturschutzgebiet ganz alleine schultern muss. Kollegen hat sie dort nicht und das Geld, das ihr für externe Arbeitskräfte zur Verfügung steht, ist äußerst knapp. Doch es gibt auch Fortschritte. Zumindest auf dem Papier hat sich die Regierung des Inselstaats in den letzten Jahren zum Erhalt der bedrohten Artenvielfalt bekannt.

"Mauritius hat genug Umweltschutzgesetze, was fehlt ist ihre Durchsetzung. Wir haben keine politische Partei, die den Artenschutz zu ihrem Anliegen machen würde. Und leider gibt es auch aus Übersee kaum Druck auf unser Land, die Artenschutzziele umzusetzen, auf die wir uns in internationalen Verträgen verpflichtet haben."

Doch das kann sich schnell ändern, hofft Vincent Florens. Schon leichter Druck der Tourismusbranche hätte enormen Einfluss auf die Regierung seines Landes. Die Globalisierung hat die Artenvielfalt stark reduziert, jetzt, so hofft der Umweltwissenschaftler, könnte die globale Vernetzung helfen, das zu retten, was noch übrig ist.

"Ich glaube schon, dass das den Ministerien so peinlich wäre, dass sie sich in die richtige Richtung bewegen würden. Wir sind doch inzwischen ein globales Dorf. Wir leben nicht mehr isoliert in unserem entlegenen Winkel der Welt. Wir hängen von Menschen aus aller Welt ab."
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