Matthew Herbert

Der Sound der Tätowiernadel wird Musik

Matthew Herbert bei der Arbeit zu "The Recording" in der Deutschen Oper in Berlin
Matthew Herbert bei der Arbeit zu "The Recording" in der Deutschen Oper in Berlin © Deutsche Oper Berlin/Marcus Lieberenz
Von Christoph Reimann · 02.10.2014
Von der Idee bis zur Release-Party: Innerhalb einer Woche hat der Brite Matthew Herbert an der Deutschen Oper Berlin sein Album "The Recording" entwickelt. Das Publikum beteiligte sich aktiv an der Aufnahme, aus Geräuschen entstanden Songs.
Eine majestätische Orgel? Nicht ganz. Ist in Wirklichkeit ein alter Saab.
Es gibt wohl nichts, woraus Matthew Herbert keine Musik machen könnte. Für sein neuestes Projekt ist das nicht weniger gültig: "The Recording" heißt es, an der Deutschen Oper in Berlin findet es statt. Über sieben Tage soll hier ein Album entstehen, an dem die Zuschauer – und darunter auch ich – ständig als Klanglieferanten beteiligt sind.
Matthew Herbert: "I will ask you to record some ..."
Für "The Recording" wurde die Tischlerei der Deutschen Oper zum Open Space umfunktioniert. Wo sonst, trotz des Namens, Symposien stattfinden und Bühnenstücke aufgeführt werden, sind jetzt verschiedene Stationen aufgebaut: vorne links ein Flügel, ein Schlagzeug und ein paar Laptops, rechts daneben eine improvisierte Küche mit Esstisch, wo Matthew Herbert und seine Band abends essen werden, dann ein Schreibtisch zum Komponieren, und hinten eine Werkstatt zum Instrumentenbau.
In der Mitte, auf der Bühne, steht Matthew Herbert. Ein schlanker Mann Anfang 40, mit Halbglatze, dunklen Augenrändern und einer charismatischen Zahnlücke. Für heute bittet er uns, Alarmsignale aufzunehmen. Daher die Orgel aus der Parkgarage.
(Autohupe)
So entstehen die ersten von unzähligen Aufnahmen: Aus dem, was wir so mitbringen, komponiert Matthew Herbert dann die Musik. Anschließend probt der Popmusiker das Stück mit seinen Musikern, die die aufgenommenen Sounds – und wirklich nur die – als Samples auf Schlagzeug, Keyboards und andere Instrumente geladen haben. Dann wird der Raum in rotes Licht getaucht. Achtung! Aufnahme des ersten Songs...
So ähnlich läuft jeder Tag von "The Recording" ab – zumindest im Schnellverfahren. Dazu gibt es jeden Abend Diskussionsrunden mit Gesprächspartnern aus Kultur und Politik. Denn "The Recording" will mehr sein als eine Plattenproduktion vor und mit dem Publikum. Es geht um die Frage, ob wir heute überhaupt noch in der Lage sind, zuzuhören. Wo doch Musik immerzu und massenhaft verfügbar ist.
Matthew Herbert: "Ich denke, dass Musik zu einer Ware geworden ist, genauso wie Wasser oder hochwertiges Essen. Was für eine traurige Ironie, dass die teuersten Produkte in den großen Supermärkten oft die sind, die regional produziert wurden. Dasselbe gilt für Lebensmittel, die nicht chemisch behandelt oder industriell verarbeitet wurden. Ich halte diese Vermarktung unserer Grundbedürfnisse für sehr ungesund."
Mit seinen Kompositionen will Herbert zeigen, dass Musik immer noch eine Botschaft tragen könne. Man müsse nur wissen, warum und mit welchen Mitteln man Musik mache. Deshalb steht am Anfang eines jeden Projekts des Briten ein Manifest:
Bei "The Recording" entscheiden wir gemeinsam über dessen Inhalt. "Sei präzise" ist einer unserer Punkte. Ein weiterer: "Vergegenwärtige Dir die Revolution".
Am zweiten Tag bin ich ein bisschen spät dran. Laura Berman, die Dramaturgin, steht auf der Bühne und diktiert aus einem Smartphone endlose Zahlenreihen, die dann jemand auf eine Flipchart überträgt.
Ein Berliner Tag in Zahlen
Berman diktiert Zahlenreihen. Jeder Tag steht unter einem bestimmten Thema, und laut Programheft ist heute Tools-Day. Es geht ums Hacking und ums Codieren – und um den Bau eines neuen Musikinstruments. Berman erklärt mir, was die Zahlen damit zu tun haben:
"Matthews Idee ist es, diesen Tag in Zahlen festzuhalten. Wie viele Leute heute in Berlin geboren worden sind, wie viele starben, wie viel Zucker konsumiert worden ist, wie viel Fleisch und so weiter. Die Angaben dafür kommen aus dem Internet."
Nicht alle Zahlen schaffen es später auf die Aufnahme. Sonst wären wir einfach nicht präzise genug, findet Matthew Herbert und erinnert an unser Manifest. Die Toten immerhin kommen aus unser Album, dargestellt mit einem letzten Atemzug von Leuten aus dem Publikum.
Von der Bühne gehe ich in die hintere Ecke des Raumes. Hier erfinden Mitglieder von Herberts Band gerade das neue Instrument. Mit Lötkolben, Stichsäge und allerlei Bauteilen.
Das Grundgerüst bildet ein Einkaufswagen, in dem ein paar Cola-Dosen oder auch Sprühsahne liegen, die wahrscheinlich unseren Zuckerkonsum repräsentieren. Die Lebensmittel werden von kleinen Hölzchen rhythmisch angeschlagen, gesteuert durch eine Computer-Tastatur.
Klingt doch ganz gut, oder?
Tag drei: Music for Pleasure. Ist von vornherein mein Lieblingstag. Heute werden nur Dinge aufgenommen, die irgendwie mit Spaß zu tun haben. Stripper zum Beispiel, die hinter einer Schattenwand ihre Kleidung ablegen, aber auch Hunde, die vom Publikum mitgebracht werden sollen. Ich habe ja leider keinen – und der Nachbarshund ist nicht gut auf mich zu sprechen.
Ich gehe die Treppe runter. Nachbarshund bellt.
Geselliger ist Pünktchen. Der Hund: kaum größer als eine Handtasche und selbst dann nicht aus der Ruhe zu bringen, als sich der Raum rot färbt und ihm ein Mikro vor die Nase gehalten wird.
(Hundeschmatzen)
Genüsslich kaut Pünktchen an einem Hundekuchen, gebacken von Herberts Köchin.
Der Musiker selbst steht neben dem Hund und hat mindestens genauso viel Pleasure – also Gefallen – an der Situation wie das kleine Tier. Später erklärt er:
"Der Prozess und der Sound in meiner Arbeit dürfen Spaß machen, aber es bleibt das ernste Anliegen: Hunde essen große Mengen anderer Tiere. Wir müssen uns fragen, ob es ethisch vertretbar ist, einen Hund zu halten."
Matthew Herbert will niemanden bevormunden, er ist kein Gutmensch und auch kein militanter Weltverbesserer. Vielmehr reflektiert er mit seiner Musik den Zustand der Welt, den er als bedenklich einstuft. Zwangsläufig sei seine Musik deshalb politisch, meint Herbert.
Aber was hilft Musik, wenn sie nicht gespielt wird? Am fünften Tag bringt uns Matthew Herbert deshalb eine kleine Melodie bei, die wir gemeinsam einstudieren – so gut es eben geht. Damit sollen wir dann eine Runde um die Oper drehen.
Klar, Musik muss auch aufgeführt werden. Aber nüchtern betrachtet trage ich gerade eine Kinderrassel in der einen Hand und in der anderen eine Fahne aus buntem Tonpapier, die mir zugesteckt wurde. Sieht schon irgendwie blöd aus. Da bin ich ganz froh, dass es draußen regnet und ich mit meinem Aufnahmegerät in der Oper bleiben kann.
Es kommt manchmal vor, dass "The Recording" ein bisschen konfus wirkt. Zum Beispiel frage ich mich, warum noch mal eine Frau mit nacktem Fuß auf einen Teller voll Eierschalen treten musste.
Aber so etwas verzeiht man schnell. Schließlich ist ja nichts geplant. Es entsteht eine Platte, die davon lebt, dass die Leute mitmachen. Und keiner würde hier Matthew hängen lassen. Als er am siebten Tag fragt, ob sich jemand spontan tätowieren lassen würde, melden sich gleich drei Leute aus dem Publikum. Aus dem Sound der Tätowiernadel wird – natürlich – Musik.
Komponieren in einer Stunde? Unmöglich
Auf der Release-Party ist Matthew Herbert dann sichtlich geschafft. 30 Minuten habe er geschlafen, erzählt er, er musste das Album ja noch mastern. Ob er selbst etwas aus dem Projekt gelernt hat?
"Oh, Gott ja! Ich habe viel gelernt. Zum Beispiel musste ich zu meiner Enttäuschung feststellen, dass eine Stunde nicht ausreicht, um Musik zu komponieren. Da kriegt man nichts hin, was etwa mit ,What's going on' von Marvin Gaye mithalten könnte. Aber ich denke, dass unsere Aufnahme einen Wert hat und interessant zu hören ist."
Und da schließe ich mich an. "The Recording" klingt nicht so ausgeklügelt wie viele andere Alben, die Matthew Herbert veröffentlich hat. Aber in erster Linie ging es ja auch darum, mitzumachen und zuzuhören. Und das hat auf alle Fälle geklappt.
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