Matthew Herbert: "A Nude"

Können Kauen und Schmatzen Musik sein?

Eien Frau beißt in einen Apfel.
Eien Frau beißt in einen Apfel: Das geht nicht ohne ein zartes Krachen. © picture-alliance/ ZB
Von Martin Risel · 30.06.2016
Stöhnen, kacken, essen: Auf Matthew Herberts "A NUDE" gibt es nichts weiter als menschliche Geräusche zu hören. Ist das Kunst? Ist das Musik? Es ist ein radikaler Realismus, der sein Modell entblößt und verhüllt zugleich.
Manche Körper-Klänge sind ziemlich eindeutig zu identifizieren: "Sleeping" heißt das erste, über eine Stunde lange Stück auf "A NUDE (the perfect body)".
Matthew Herbert hat sein Dogma, nur selbst aufgenommene Sounds zu verwenden, noch einmal erweitert. Nach der Vertonung aus dem Leben eines Schweins und zahlreichen Kompositionen aus Alltagsgeräuschen jetzt ebenso alltägliche – und eben menschliche Geräusche, die wir alle von uns zuhause kennen. Aber eben bisher nicht aus der öffentlichen Wahrnehmung, aus der künstlerischen Gestaltung.
Wollen wir das hören? Können wir das ertragen? Ist das Kunst, ist das Musik?
"Es ist definitiv Musik, aber auch noch etwas, für das wir noch keinen Begriff haben. Vieles klingt anders als wir es uns vorstellen. Aber bei 'Coming' ist der tatsächliche Orgasmus natürlich sehr kurz und es gibt ne Menge Vorspiel."

24 Stunden lang mit dem Mikrofon begleitet

Der Versuchsaufbau - ein neutraler Raum wie eine leere Leinwand: Matthew Herbert hat einen Menschen 24 Stunden lang in einem Hotelzimmer aufgenommen mit zwei Mikrofonen in zwei Händen, ohne Mikros am oder im Körper, zu dicht wollte er nicht ran.
"Die Aufnahmen waren eine Herausforderung. Spannender wurde es dann, der Person selbst den Rekorder zu geben. Als ob das Modell den Pinsel führt. Ich fühlte mich dann gar nicht mehr als der Maler - wie am Anfang. Eher als derjenige, der den Rahmen schnitzt, wenn alles fertig ist."
Körperpflege ist zu hören im Stück "Grooming" – ein alltäglicher menschlicher Akt, der noch am ehesten anknüpft an die künstlerische Tradition des menschlichen Aktes aus bildender Kunst und Fotografie. Badende Schönheiten in natürlicher Nacktheit - von griechischen Nymphen zu römischen Knaben bis zu Zilles halbnackten Wannsee-Milieus. Deren dralle Formen waren wieder nah dran an der ersten Nackten der Kunstgeschichte – der überall überrunden Venus von Willendorf aus der Steinzeit. Die war auch für Matthew Herbert so etwas wie das Ur-Rollenmodell für seinen akustischen Akt:
"Ich habe in der Geschichte des Aktes in der visuellen Kunst recherchiert. Und mag diese allererste Venus von Willendorf, die so faszinierend anders aussieht als das Bild der Frau heute. Aber die größte Inspiration waren 'Les Demoiselles d'Avignon' von Picasso. Dabei hatte ich eine klare Vision, wie ich das Album genau nicht machen wollte. Denn das muss ein eigenes Ding sein."
Während Picasso seine berühmten fünf nackten Frauenkörper verfremdet darstellte, setzt Matthew Herbert der Künstlichkeit der schönen Künste einen radikalen Realismus entgegen. Wie die realistische Darstellung der Venus von Willendorf zeigt sein Modell keine oberflächliche Schönheit, sondern alles, was dahinter und darunter liegt. Nur eben als erste akustische Venus der Kunstgeschichte.

Schön im herkömmlichen Sinne?

Können Essgeräusche Musik sein? Zeigen die Funktionen des menschlichen Körpers – gerade in dieser akustischen Form - dessen Schönheit und Perfektion? Ist Matthew Herberts "A NUDE (the perfect body)" die Gegenform zur Jahrtausende alten Kunst der schönen Oberfläche?
"Der Untertitel lautet 'Der perfekte Körper'. Und für mich ist er perfekt. Wir hören: Er lebt und funktioniert. Aber wir wissen nicht, welche Hautfarbe oder ob er alle Arme hat - oder ob er im herkömmlichen Sinn schön oder hässlich ist."
Und dann verrät Matthew Herbert im Gespräch doch noch mehr als er wollte: Die meisten Aufnahmen stammen von einer nicht-weißen Frau, einige sind von einem Mann ergänzt. Aber entscheidend sei die Anonymität des Modells, der Gedanke, jeder, du und ich können es sein.
Und es bleibt uns tatsächlich kein Geräusch erspart: Das eben Gegessene wird vom Modell körperlich weiter verarbeitet.
Spätestens jetzt wird klar, warum dieser akustische Akt nackter ist als die visuell nackten Akte der Kunstgeschichte. Und spätestens hierbei fühlt sich Matthew Herbert, wie er sagt, etwas unwohl in seiner künstlerischen Verantwortung, solche Klänge in die Welt zu bringen, von sehr privaten zu öffentlichen zu machen. Erst recht in seinen Überlegungen, das Ganze im August als Performance in London live aufzuführen. Als ständiges Ausstellungsstück will er es außerdem an ein britisches Museum geben.
Aber zunächst mal ist jetzt dieser akustische Akt in Albumform da. Im umfassenden Sinne eindringlicher als gedacht oder gewünscht. Mit Körper-Klängen als Anti-These zur Pop-Perfektion.
"Bei meinem Akt geht's darum, welche echten Klänge ich durch meine Mikrofone bekomme. Weil: Popmusik kreiert heute eine solche Plastik-Perfektion – mit Autotune und künstlichem Schlagzeug und Photoshop und teuren Videos. Popmusik ist die neue plastische Chirurgie - und deshalb war es für mich wichtig, mit den echten Körperklängen zu spielen."
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