Matterhorn-Besteigung

Abenteuer und Albtraum

Ein Traumziel für Bergsteiger: das Matterhorn in der Schweiz.
Ein Traumziel für Bergsteiger: das Matterhorn in der Schweiz. © dpa / picture alliance / Valentin Flauraud
Von Folkert Lenz  · 12.07.2015
Vor 150 Jahren standen der Engländer Edward Whymper und sechs Gefährten als erste Menschen auf dem Matterhorn. Noch heute ist der Gipfel ein Traumziel für Bergsteiger - und eine echte Herausforderung.
Mal wieder: Das Matterhorn ist Schauplatz eines sportlichen Rekordversuches. Vor ein paar Wochen hastet der Urner Alpinist Dani Arnold durch die Nordwand der trutzigen Schweizer Steinpyramide. Mit Eispickeln in den Händen und Steigeisen an den Stiefeln sprintet der Spitzen-Bergsteiger förmlich durch die 1200 Meter hohe, senkrechte Mauer aus Eis, Schnee und Fels.
"Ich bin die ganze Route, von unten bis oben, ohne Pause geklettert. Einmal hatte ich kalte Hände. Da musste ich kurz meine Finger ein bisschen warm machen. Dort habe ich vielleicht 30 Sekunden kurz gerastet und zwei Schlucke getrunken. Und sonst habe ich nie eine Pause gemacht."
So kann Dani Arnold am 4478 Meter hohen Matterhorn-Gipfel auf seiner Stoppuhr eine neue Bestzeit markieren: 1 Stunde, 46 Minuten. So schnell wie an diesem Apriltag hat es vor ihm noch keiner durch die abweisende Nordwand geschafft. Gut trainierte Alpinisten brauchen heutzutage fünf oder sechsmal so lange – mindestens! Früher steckten Seilschaften sogar mehrere Tage in der Wand. Noch vor 150 Jahren galt das Matterhorn an sich als unbezwingbar. Erst am 14. Juli 1865 bewiesen sieben verwegene Männer das Gegenteil.
Genau 30 Stufen. Sie führen geradewegs vom Heute in die Zermatter Vergangenheit. Die Treppen finden sich unter dem Dach einer auffälligen Glaspyramide neben dem Kirchplatz des Walliser Bergstädtchens. Die Szenerie oberhalb von Zermatt wird dominiert vom Matterhorn – dem mächtigen Bergstock, unter dem alles andere im Tal sehr, sehr klein erscheint. Die Stufen in die Tiefe aber bringen einen ins 19. Jahrhundert. Bauernhof und Scheune, Pfarrerswohnung und ein Stall sind hier nachgebaut. Eine Welt, die seinerzeit ziemlich abgeschieden gewesen sein muss.
"Die ersten, die nach Zermatt kamen, waren eigentlich Naturalisten: Menschen, die sich um Pflanzen, Blumen und so weiter gekümmert haben. Ich kann mir das gut vorstellen, wenn da Leute mit einem Schmetterlingsnetz – oder ich weiß nicht was – herumgelaufen sind, dann haben die Einheimischen wahrscheinlich gedacht: Sind die ein bisschen bescheuert, oder was?"
… erzählt Edy Schmid, Leiter des Matterhorn-Museums. So nahm kaum jemand früher Notiz von diesem Zipfel des Wallis, schon gar nicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu schroff waren die Berge ringsherum, zu tief die Täler, zu lang der Anmarsch. Während anderenorts in den Alpen Romantiker, Wissenschaftler oder Abenteurer die Bergwelt erkundeten, gab es in Zermatt noch nicht mal einen Gasthof.
Mit den Fremden ließ sich gutes Geld verdienen
So wurden die Reise-Pioniere von den Alp-Bauern wahrlich nicht mit offenen Armen empfangen. Doch diese lernten schnell, dass sich mit den Fremden gutes Geld verdienen lässt: beim Packesel-Verleih, als Sänftenträger oder mit dem Betrieb eines kleinen Teehäuschens am Wanderpfad. Unter den angereisten Entdeckern – vorwiegend Briten – begann ein Wettlauf: Wer würde als erster die Gletscher-Gipfel ringsherum bezwingen?
"Zu den Einheimischen ist folgendes zu sagen: Das Matterhorn, das haben sie einfach in Ruhe gelassen. Es war eine Art Ehrfurcht einerseits. Auf der anderen Seite: Der Berg, wenn man ihn von dieser Seite her anschaut, diese Pyramide, der wirkt schon furchterregend."
Kein Wunder also, dass zwischen 1857 und 1865 Besteigungsversuche am Matterhorn meist von Italien aus unternommen wurden: 15 waren es insgesamt. Die besten Alpinisten ihrer Zeit bissen sich aber an dem Koloss die Zähne aus. Der Londoner Illustrator und erfahrene Bergsteiger Edward Whymper will im Juli 1865 einen neuen Anlauf wagen. Wieder gemeinsam mit seinem langjährigen Gefährten, dem italienischen Führer Jean-Antoine Carrel. Doch der geht ihm überraschend von der Fahne. Denn Italien erklärt den Sieg über den Grenzgipfel kurzerhand zur nationalen Angelegenheit und schickt Carrel mit einer eigenen Truppe gen Matterhorn, berichtet Museumsleiter Edy Schmid.
"Sie wollten beide miteinander hochgehen, haben 15 Versuche von Italien aus gemacht. Und plötzlich kommt der italienische Staat und sagt: Carrel, impossibile, du darfst nicht mit Whymper hoch. Denn dann haben die Engländer den Triumph."
So steht der Brite Whymper plötzlich führerlos und ohne Begleitung da. Und muss feststellen, dass der ehemalige Kamerad nun sein Konkurrent ist. Denn ein Blick durchs Fernglas zeigt: Carell hat sich heimlich vom italienischen Breuil aus auf den Weg gemacht. Frustriert schreibt der 25-jährige Whymper später in seinem Matterhorn-Klassiker "Der lange Weg zum Gipfel":
"Nun sah ich in einem Augenblick, dass ich an der Nase herumgeführt worden war. Ich war nicht wenig ärgerlich. Meine Pläne waren vereitelt, denn die Italiener waren mir einen Tag voraus. Doch offenbar ließen sich diese Listigen überlisten. Es blieb mir Zeit genug, nach Zermatt zu gehen, mit der Ostseite einen Versuch zu machen."
Der Zufall wollte es, dass Whymper auf die Schnelle noch andere Mitstreiter finden konnte, die zur gleichen Zeit im Tal weilten und mit einem Gipfelgang liebäugelten: Der junge Brite Lord Francis Douglas, der Geistliche Charles Hudson, der legendäre Führer Michel Croz aus dem französischen Chamonix sowie der alpinistisch nicht sehr bewanderte Robert Hadow. Als ortskundige Begleiter konnten sie Vater und Sohn Taugwalder aus Zermatt als Bergführer gewinnen.
"Die haben miteinander darüber gesprochen, mit den Taugwalders von hier aus einen Versuch zu wagen. Wie dann Whymper gehört hat, dass da etwas läuft, da hat er sich der Seilschaft angeschlossen. Er stand ja auch unter großem Druck. Und dann sind die sieben Leute von hier aus gestartet."
Ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Abenteurer allesamt, aber nicht gleichermaßen bergerfahren. Dass diese Tatsache später in einer Tragödie enden sollte, ahnte Whymper da noch nicht.
Wer heutzutage auf das Matterhorn steigen will, der findet sich irgendwann in der Hörnlihütte wieder. Seit über 130 Jahren gibt es am Fuße des Berges dieses Haus für Alpinisten. Es wurde gerade erst umgebaut und modernisiert. So starten die meisten Anwärter ihren Gipfelsturm von hier aus, denn nur ein paar Minuten entfernt beginnt die Kletterei über die leichteste Route, den Hörnligrat. Vom "Normalweg" sprechen die Alpinisten deshalb. Es ist der Weg des geringsten Widerstandes. Einfach ist die fast vertikale Kletterei über Fels und Schnee aber nicht. Deswegen nehmen sich die meisten Anwärter einen Führer, damit das Abenteuer nicht zum Fiasko wird.
Am Vorabend des Starts: Geschäftiges Treiben rund um das Nachtmahl. Die Bergführer treffen sich im Esssaal mit ihren Kunden, die Gäste sind aufgeregt. Alpin-Profis wie Roman Haltinner müssen jetzt erstmal ihre Seilpartner beruhigen, denn nervöse Anhängsel hinten am Strick können sie am nächsten Tag nicht gebrauchen.
"Nachher werden wir uns hier treffen zum Frühstücken. Der Rucksack ist gepackt, die Schuhe sind an, den Klettergurt kannst Du nach dem Frühstücken anziehen. Nach dem Frühstück gehen wir gemeinsam los. Probieren, einen schönen, angenehmen Schritt zu finden. Und nachher steigen wir über diese Fixseile in den Einstieg hinein von diesem Berg."
Wecken um vier Uhr, Aufbruch 20 Minuten später
"Frühstück": Das heißt Wecken um vier Uhr, Aufbruch 20 Minuten später. Und dann wäre da noch der Schnee. Allerorten sind am Hörnligrat weiße Flecken zu sehen, wo eigentlich brauner Fels sein sollte. Das ist ungewöhnlich für die Jahreszeit. Außerdem pfeift ein garstiger Sturm. Der Zermatter Bergführer Roman Haltinner gibt sich trotzdem zuversichtlich, dass der Aufstieg gelingen könnte.
"Also es ist morgen sicher auch ein bisschen selektiv, die Verhältnisse am Berg. Jemand, der wenig Erfahrung mit Steigeisengehen hat, wird wohl nur eine kleine Chance haben, den Gipfel zu sehen. Wenn der Wind uns nicht vom Berg bläst – weil morgen sind viel Wind und viel Kälte vorausgesagt – dann wird es sich zeigen, wie weit wir kommen. Ob es bis zum Gipfel reicht."
Doch was treibt eigentlich über 3000 Menschen im Jahr an, auf dem Matterhorn stehen zu wollen? Man muss sich unten im Tal, in Zermatt, nur auf die kleine Straßenbrücke über die Vispa stellen und nach Südwesten blicken. Da taucht er auf, der Archetyp eines Gipfels. Messerscharf erscheinende Gratkanten ziehen sich zum höchsten Punkt.
"Der Berg ist allein von der Form, von der Art, wie er da alleine steht, sehr eindrücklich. Er wird noch spektakulärer, wenn die Wolken um ihn herumschwirren. Er steht da allein, stark und zeigt eben auch, wie klein wir Menschen sind."
Ist das kitschig? Oder pathetisch? Vielleicht muss Daniel Luggen so etwas sagen, schließlich ist er der Kurdirektor. Seit 15 Jahren lebt er in Zermatt und seitdem kann er das Matterhorn von seinem Bett aus sehen.
"Das Matterhorn ist ein Berg, den jedes kleine Kind nachmalen kann. Es ist eine Pyramide, eine perfekte Pyramide. Vielleicht weiß das kleine Kind nicht, dass es das Matterhorn ist, aber es ist wirklich die Urform des Berges."
Diese Urform ist Gold wert: Auf zwei Millionen Touristenübernachtungen kommt das ehemalige kleine Bergbauerndorf heute. Natürlich ist auch das weltbekannte Skigebiet von Zermatt mit dafür verantwortlich: Schließlich gibt es hier – auf fast 3900 Meter Höhe – am Gobba di Rollin die höchste Skipiste Europas. Und es erscheint nur folgerichtig, dass sich dieser Teil des Pistenareals "Matterhorn Glacier Paradise" nennt. Wie sonst, möchte man fragen.
Auf dem Weg zum Matterhorn.
Auf dem Weg zum Matterhorn.© Folkert Lenz
Während unten im Dorf die Kirchturmuhr den Bewohnern noch etwas Schlaf verspricht, ist oben an der Hörnlihütte schon Hektik ausgebrochen. Bergführer mit verstrubbelten Haaren stopfen voller Appetit Brotkanten mit Marmelade in sich hinein. Manche ihrer Gäste nippen nur müde am Kaffeebecher. Die ersten Kletterer drängeln sich an der Ausgangstür. Stau! Hüttenchef Kurt Lauber achtet genau darauf, dass beim Start alles nach festen Regeln abläuft.
"Das ist fast wie ein Wettrennen morgens. Früher war oft vier Uhr Wecken, fünf nach vier, zehn nach vier waren die ersten schon weg, ohne Frühstück. Und jetzt haben wir das hier entschleunigt. Nun gehen die Führer – das sind meist die Einheimischen, die den Weg kennen – voraus und dann können die anderen hinterher."
In alten Zeiten lief immer der dienstälteste Bergführer vorneweg. Schließlich galt er auch als der Erfahrenste. Heutzutage startet derjenige Zermatter Guide als erstes, der den mutmaßlich flinksten Gast am Seil hat. So bleiben waghalsige Überholmanöver am Berg die Ausnahme. Und ortsunkundige Alpinisten können den anderen keine Steine auf den Kopf werfen – nur, weil sie im Dunklen die Route verfehlen.
"Das Matterhorn ist schon anders. Vor allem wegen der Orientierung. Das ist ein Felsgrat, wie ein Labyrinth. Sobald man wegkommt von der Ideallinie, ist der Fels ziemlich lose. Und da kann man Steine auslösen und dadurch die Nachfolgenden gefährden. Das ist ein bisschen das Übel. Das ist natürlich ein spezieller Berg, ein spezieller Ort, und so gesehen braucht es auch spezielle Regeln, oder?"
Das Wettrennen zum Gipfel beginnt
Klettergurte klimpern, Steinschlaghelme werden am Kopf festgezurrt, Stirnlampen eingeschaltet, dann verschwindet ein Duo nach der anderen. Das Wettrennen zum Gipfel beginnt!
Außerhalb der Hörnlihütte warten Dunkelheit und Kälte. Lampen flackern in der Nacht. Die Lichter reihen sich hintereinander auf und bilden eine Kette. Immer zwei weiße Punkte sind ganz dicht zusammen. Jede Seilschaft will nun möglichst schnell den Einstieg der Route erreichen. Keuchen, Hektik, leise Flüche. Roman Haltinner versucht, Ruhe auszustrahlen.
"Jetzt gehen wir los. Ungefähr im gleichen Tempo weiter. Über den Einstieg drüber, und dann schauen wir, wie es geht. So fünf bis zehn Minuten und nachher kommen die ersten Fixseile. Das sind normale Taue, so zwei bis drei Zentimeter dick. Die gehen gut zum Halten."
Ein eiskalter Wind zwickt jetzt an den Wangen. Die klobigen Bergstiefel stoßen immer wieder an Steine und Geröll. Roman Haltinner klettert mit schlafwandlerischer Sicherheit durch den finsteren Irrgarten mit seinen Schluchten, Felstürmen, Absätzen, Steinblöcken. Immer nur schnell weiter! Das "Japaner-Couloir", das "Gebiss", die "Eseltritte" sind flugs passiert. Merkwürdige Namen für die Landmarken am Matterhorn haben sich die Einheimischen da ausgedacht. Die Gäste hetzen ihren Führern hintendrein: So muss sich ein Esel am Strick fühlen. Nach eineinhalb Stunden dann die erste Schlüsselstelle im Dämmerlicht, die Untere Moseley-Platte: ein ziemlich glatter Felsaufschwung.
"Weil es so kalt ist, kann man nicht ohne Handschuhe klettern. Und dann mit dem Schnee, der da drauf ist, ist es ein bisschen mühsam. Heikel. Man kann zwar ein bisschen sichern, also einen Totalabsturz machen wir nicht. Aber es tut sicher weh, wenn man loslässt."
Für die meisten der Amateur-Gipfelstürmer geht es nur um eins: Einmal ganz oben zu stehen. Der Gipfel ist das Ziel. Doch seit jeher ist das Schweizer Wahrzeichen ein Spielort für Rekordjagden aller Art. Nach der Erstbesteigung 1865 über den Hörnligrat werden auch die anderen drei Rücken – Zmutt-, Lion- und Furggengrat – begangen, allesamt kühne, steile Linien. Erst 1931 kämpfen sich zwei kompromisslose Münchener, Franz und Toni Schmid, durch die Matterhorn-Nordwand. Diese zählte zu den drei "großen Nordwänden" der Alpen. Neben der Grandes-Jorasses- und der legendären Eiger-Nordwand, die als ebenso hoch, schwierig und gefährlich galten. Die Gebrüder Schmid erhielten für ihre Heldentat sogar eine olympische Medaille.
Heute gerät nur noch ins Licht der Öffentlichkeit, wer die schwierigsten und verwegensten Kletterrouten in möglichst kurzer Zeit absolviert – am besten unter Extrem-Bedingungen, zum Beispiel im Winter. Solche Rekordleistungen können nur Profi-Alpinisten erbringen, die dann ohne Kameraden und ohne Seilsicherung unterwegs sind. Wie der Schweizer Ueli Steck, der am 13. Januar 2009 für die Schmid-Route am Matterhorn gerade mal 116 Minuten benötigte. Ein Sprint in der Vertikalen.
"Ich habe mich jetzt drei Jahre lang darauf konzentriert, schnellere Begehungen zu produzieren durch eine bessere Technik. Nur dadurch ist es möglich gewesen. Und nur so wird man mental so stark, dass man es auch wirklich machen kann schlussendlich."
Zuvor hatte Steck auch Speed-Alleingänge an den Grandes Jorasses und am Eiger durchgezogen.
"Angst hat man am Anfang, auch ich hatte welche. Angst ist ja auch eine gute Sache: Sie hält einen davon ab, dass man sich überschätzt, wenn es gefährlich wird. Also, wenn man keine Angst mehr hat, dann wird man respektlos und das ist nicht gut."
Am Matterhorn wurden in den vergangenen Jahren aber auch Bestmarken in den unterschiedlichsten Sportarten gesetzt: Im Mai 1975 fährt der Italiener Toni Valeruz die extrem steile Ostwand auf Skiern ab. Im August 1977 fliegen zwei Österreicher mit einem Deltaschirm vom Berg. Im Mai 2003 springen ein Österreicher und ein Schweizer mit einem Fallschirm vom Gipfel ab.
Der Spanier Kilian Jornet rennt im August 2013 über den Lion-Grat auf das Matterhorn und wieder hinunter: In zwei Stunden und 52 Minuten. Ein halbes Jahr später klettert der italienische Führer Hervè Barmasse alle vier Grate an einem Tag, in nicht mal 17 Stunden. Im Mai 2012 balanciert der Schweizer Ausnahmealpinist Stephan Siegrist auf einer sogenannten Slackline zwischen dem italienischen und dem Schweizer Matterhorngipfel hin und her.
Das gibt es in der Hochsaison fast jeden Tag: Der Rettungshelikopter im Einsatz. In jedem Jahr sterben drei oder vier Alpinisten auf den Routen, jeder tausendste Aspirant überlebt das Abenteuer also nicht. Das Matterhorn – ein Todesberg?
"Es kann ja Unfälle geben, die Pech sind. Steinschlag zum Beispiel und solche Sachen. Aber es gibt einfach zu viele Unfälle, die vermeidbar wären. Wenn man die richtige Seilhandhabung hätte, das Wetter und die Verhältnisse beachten würde, dann könnte man viele vermeiden. Jeder Tote ist einer zu viel ..."
… sagt Bruno Jelk, langjähriger Bergrettungschef von Zermatt. Tausende von Alpinisten hat Jelk vom Berg geflogen – manche tot, sehr viele lebendig. Seit der Erstbesteigung vor 150 Jahren sind rund 600 Menschen am Matterhorn tödlich abgestürzt.
"Das Matterhorn ist so ein bisschen ein Prestigeberg. Es ist kein leichter Berg, es ist konditionell hart. Technisch ist es nicht unbedingt schwierig, aber man muss aufpassen. Es gibt viele Leute, die gehen einfach unangeseilt. Darum haben wir eigentlich viele Einzelne, die abstürzen."
Zurück am Hörnligrat. Höher und höher steigen die Seilschaften. Die Sonne müsste langsam aufgehen, aber es wird nicht richtig hell. Im fahlen Licht ist zu erkennen, wie Wolkenfetzen um die vereisten Felsen sausen. Schließlich kommt ein winziges Holzhaus in Sicht.
"Jetzt sind wir in der Solvayhütte, auf 4000 Meter. Es sind schon ein paar hier von gestern. Es ist eigentlich nicht gedacht, dass man hier geplant übernachtet. Es ist so, dass man – wenn man ins schlechte Wetter kommt oder das Timing aus dem Rahmen läuft – dass man hier übernachten kann, dass man ein bisschen vor dem Wind geschützt ist. Es hat ein paar Decken, aber sonst ist eigentlich nichts da. Vier können hier liegen, vielleicht fünf oder sechs, wenn sie sich liebhaben. Es ist sicher nicht lustig, hier die Nacht zu verbringen."
Eine Notunterkunft eben. Doch bei diesem Wetter will sich jeder, der am Matterhorn unterwegs ist, ein paar Minuten aufwärmen. Alles drängt in den ungastlichen, engen Raum. Auch ein Team aus England ist dabei.
"Kalt und unheimlich ist es draußen. Und das Ganze ist viel härter als ich dachte. Ich war so froh, als es endlich steiler wurde und wir ein bisschen anhalten mussten. Da bin ich endlich wieder zu Atem gekommen. Die Geschwindigkeit? Für mich fühlte es sich rasend schnell an. Aber im Vergleich zu den Bergführern hier bin ich echt langsam."
"Jetzt tun wir die Steigeisen drauf und dann schauen wir mal um die Ecke, wie es ausschaut. Es ist wirklich temperaturtechnisch an der Grenze. Es ist einfach brutal kalt."
Die schwierigste Stelle: eine senkrechte Felswand
Nach der Rast in der Hütte wartet die Obere Moseleyplatte auf die Matterhorn-Bezwinger. Sie gilt als die schwierigste Stelle am Hörnligrat. Eine senkrechte Felswand, etwa 30 Meter hoch. Glatt, abweisend, Eiszapfen wachsen aus den Rissen im Stein. Reif verwandelt die Klippe in eine Rutschbahn ins Bodenlose. Die Finger sind nach wenigen Minuten taub vom Greifen, auch das noch! Schnell ist klar: Ein Weitergehen im Eissturm macht keinen Sinn. Umkehr, zurück in die kleine Nothütte.
"Die Verhältnisse sind so, wie wir es erwartet haben. Es ist windig und kalt. Von der Lufttemperatur wird es vielleicht minus sechs oder acht Grad haben. Also das würde schon gehen. Aber mit dem Wind fühlt sich das an wie minus 15 oder mehr Grad. Und das ist schon einfach kalt. Und wir spüren es ja alle. Heute ist das Matterhorn einfach stärker. Das will uns heute nicht oben haben."
Ganz anders erging es den Erstbesteigern des Matterhorns vor 150 Jahren. Sie waren bei bestem Wetter unterwegs. Die sieben Männer sind selbst fast ein wenig überrascht, als sie schon zehn Stunden nach ihrem Aufbruch in Zermatt den Gipfel erreichen.
Edward Whymper hat detailliert aufgeschrieben, was sich am 14. Juli 1865 auf der 4478 Meter hohen Spitze zugetragen haben soll.
"Nachdem wir um eine ziemlich schlimme Ecke gebogen waren, befanden wir uns wieder auf Schnee. Der letzte Zweifel verschwand jetzt vollständig. Das Matterhorn gehörte uns! Um viertel vor zwei Uhr lag die Welt zu unseren Füßen, und das Matterhorn war besiegt. Hurra! Nicht ein Fußstapfen unserer italienischen Nebenbuhler war zu sehen."
Eine Stunde lang genießen die Bergkameraden die Aussicht, die laut Whymper die „herrlichsten Genüsse bot“. Eine Flasche wird im Schnee vergraben. Darin: ein Zettel mit den Namen aller Gipfelbezwinger. Dann geht es an den Abstieg. Später seilen sich die Sieben gemeinsam an – auch, weil der junge und unerfahrene Robert Hadow sich unsicher fühlt und Hilfe braucht. Ein Fehltritt macht kurz darauf aus dem Triumph ein Desaster.
"Ich hörte von Croz einen Ausruf des Schreckens und sah ihn und Hadow abwärts fliegen. Im nächsten Moment wurden Hudson und unmittelbar darauf auch Lord Douglas die Füße unter dem Leib weggerissen. Der alte Peter und ich pflanzten uns so fest auf, wie das Gestein uns gestattete. Das Seil war straff angezogen, und der Ruck traf uns, also ob wir bloß einer wären. Wir hielten uns, aber zwischen Taugwalder und Lord Douglas riss das Seil."
Vier der sieben Männer fallen die Nordwand hinunter – ein tödlicher Absturz über mehr als einen Kilometer. Die drei Überlebenden retten sich erst am nächsten Tag ins Tal. Eine Tragödie! Diese beendete zugleich das Goldene Zeitalter des Alpinismus. Denn mit dem Matterhorn waren alle bedeutsamen Alpengipfel bestiegen.
Bis heute ranken sich zahlreiche Legenden um die Geschehnisse damals auf der Matterhorn-Schulter. Vor allem das gerissene Seil hat schon Generationen von Historikern beschäftigt: War es zu dünn, und ist darum gerissen? Wurde es vielleicht von einem der Überlebenden durchschnitten, damit diese nicht mit in die Tiefe gerissen werden?
Im Museum in Zermatt werden bis heute ein paar Meter des Unglücksseiles präsentiert. Geknüpft aus Hanf. Ein Strick, so dünn wie das Kabel eines Toasters. Die paar Schlingen sind auf einem roten Kissen drapiert – wie eine Reliquie.
"Das dünne Seil haben wir testen lassen: 300 Kilo Reißkraft. Jetzt müssen Sie sich vorstellen: Vier Männer, die da fallen. Und dann kommt ja noch dazu, dass die eine ziemliche Seillänge zwischen sich hatten. Das gibt jedes Mal einen unglaublichen Kraftakt. Die hatten keine Chance, das Seil ist gerissen. Die sind rund 1400 Meter die Felswand hinunter gestürzt ..."
So fasst der Zermatter Historiker Edy Schmid die Dinge zusammen. Ob das Seil geschnitten wurde oder gerissen ist? Ein Gericht jedenfalls mochte später kein Verbrechen erkennen, sondern sah im fatalen Ausrutscher von Robert Hadow den Auslöser für das Unglück.
Eins ist klar: Die Erstbesteigung des Matterhorns war eine alpinistische Großtat und eine grandiose sportliche Leistung. Auch wenn heutzutage moderne Spitzenbergsteiger in immer neuen Rekordzeiten kreuz und quer durch die Wände und über die Grate des Matterhorns flitzen.
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