Mathias Énard

Sein Kompass zeigt nach Ost/Südost

Mathias Énard
Mathias Énard © picture alliance / dpa / Marc Melki / Actes Sud
Von Dirk Fuhrig · 17.03.2017
Mathias Énard erhält am 22. März den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Der schillernde Kosmos aus Faszination und Ablehnung zwischen Orient und Okzident ist sein großes Thema. Wir haben den französischen Schriftsteller in Barcelona besucht.
Mathias Énard: "Ich habe immer in diesem Viertel gelebt. Und ich habe gemerkt, wie genau das Viertel funktioniert. Es hat mit Drogen zu tun, mit Prostitution. Es hat sich viel geändert in den letzten Jahren. Aber es gibt noch was von diesem Rotlichtviertel."
Mathias Énard liebt dieses leicht ruppige Milieu um sich herum. Der Schriftsteller führt mich durch die verschlungenen Gassen des Raval. Seit 16 Jahren lebt der französische Autor hier, mitten im Zentrum Barcelonas, nur wenige Schritte abseits der Touristen-Promenade Ramblas:
"Dieses Viertel hier war früher voller Klöster. Und hier sind alle Ausgewanderten angekommen, aus Spanien zuerst, dann aus ganz Europa, aus Maghreb, Marokko, Pakistan und Indien."
Diese Gegend zwischen dem berühmten Liceu-Opernhaus, dem Museum für moderne Kunst und dem Palau Güell, einem der frühen Gebäude Gaudís, ist so etwas wie der Schmelztiegel Barcelonas, ein multikulturelles Viertel, in dem Menschen aus vielen Teilen der Welt aufeinandertreffen. Énard, im unauffällig gestreiften Sommerhemd, mit Stirnglatze und leicht angegrautem Vollbart, kennt sich aus im Raval, das auch ein Schauplatz von "Straße der Diebe", seinem Roman aus dem Jahr 2012 ist:
"Und ich habe 'Straße der Diebe' hier geschrieben. Alle Hauptfiguren habe ich wirklich kennengelernt in der Straße. Junge Marokkaner. Wir haben viel geredet. Sie haben mir ihre Geschichte erzählt, wie sie nach Barcelona gekommen waren. Wie sie arbeiteten, was sie machten und so."
"Raval" ist von dem Wort "Rabad" abgeleitet, erklärt Mathias Énard, was im Arabischen "Vorstadt" bedeutet. Die Bezeichnung stammt also aus der Zeit, als der überwiegende Teil Spaniens von den aus Nordafrika eingefallenen Mauren besetzt und besiedelt war. Die kulturellen Einflüsse sind bis heute auf der gesamten iberischen Halbinsel spürbar, vor allem in der Architektur. Aber auch in der Küche:
"Kochen ist ein sehr wichtiger Teil der Kultur. Das Essen generell und auch das Kochen. Es gibt Platz hier in Barcelona für kleine Entwicklungen zwischen Ost und West, Norden und Süden, zwischen Tradition und Moderne."
Wir kommen an einem der vielen arabischen Restaurants im Raval vorbei. Und Mathias Énard erzählt, dass er selbst gerne am Herd steht und Gäste bewirtet:
"Ich koche manchmal selbst, manchmal abends. Es ist total anders als Schreiben, mit den Händen, mit heiß und kalt. Es ist ganz anders als Schreiben, und das mag ich sehr gern."
Doch von dieser Leidenschaft, die ihn dazu geführt hat, ein eigenes Restaurant zu eröffnen, will er im Augenblick noch nicht weiter sprechen. Zunächst soll es um seine Bücher gehen.

Städte zähmen uns

"Am 3. März kam ich in Barcelona an. Tanger hatte ich vor mehr als vier Monaten hinter mir gelassen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte."
... so lässt Mathias Énard seinen Protagonisten Lakhdar in dem Roman "Straße der Diebe" erzählen.
"Städte werden zahm, oder vielmehr zähmen sie uns; sie bringen uns bei, uns gut zu benehmen, und nach und nach verlieren wir in ihnen unsere Ausländerschale. (...) Meine Straße war eine der übelsten im Viertel, eine besonders malerische, wenn man so will, sie trug den blumigen Namen Carrer Robadors, Straße der Diebe, und bereitete der Bezirksverwaltung Kopfzerbrechen − es war die Straße der Nutten, der Drogensüchtigen, der Säufer, der Abgehängten aller Art, die ihre Tage in dieser engen, nach Urin, abgestandenem Bier, Tajine und Samosa stinkenden Zitadelle zubrachten."
Die Idee zu dem Buch war bei Énard unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings entstanden. Lakhdar stammt aus Tanger an der Nordspitze Marokkos, von wo aus man über die Straße von Gibraltar auf Europa blickt. Von der Familie wegen einer moralischen Verfehlung aus dem Haus gejagt, schließt sich der Jugendliche einer Gruppe radikaler Fundamentalisten an.
Carolin Fischer: "Das ist so eine Figur, die wir sonst nur in Masse aus den Nachrichten kennen. Der junge Araber, der Flüchtling. (…) Und da sieht man, wie so ein haltloser junger Mann in die Hände von Islamisten fällt."
... sagt die Literaturwissenschaftlerin Carolin Fischer, die an der Universität Pau in Südfrankreich lehrt. Énard hat den Anschlag auf ein westliches Café in Tanger zum Ausgangspunkt genommen, um die Mechanismen der Indoktrination junger Menschen zu beschreiben.
Carolin Fischer: "Das ist absolut ein Buch, mit dem man begreifen kann, wie es zu Terrorismus kommt. Junger Mann, völlig haltlos, kein Geld, verstoßen von der Familie. Und da kommen dann die netten Herren, geben ihm einen Job, eine materielle Existenz. Und dann eben auch eine geistige Heimat im Islam."
Der Roman ist eine Warnung vor den gewalttätigen Verirrungen des politischen Islam. Es ist aber keine Anklageschrift oder Untergangsprophezeiung − so wie die jüngsten Bücher von Michel Houellebecq oder Boualem Sansal. Vielmehr versucht Mathias Énard, seinen Figuren und damit den Menschen vorurteilsfrei nahe zu kommen und die Radikalisierung mit literarischen Mitteln zu erklären:
"Islamismus ist sehr gefährlich. Aber ich bin nicht so pessimistisch. Radikalismus oder Islamismus ist nicht Islam. Es gibt viele andere Formen, mystische Versionen, sehr schöne Versionen auch des Islams. Es ist nicht nur Gewalt und Radikalismus."
Der Roman beschwört gerade nicht einen Kampf der Kulturen, sondern betont die "schönen" Seiten der islamisch geprägten Zivilisationen, die viele im Westen heute nicht mehr sehen wollen. Mathias Énard zeigt, was die Menschen in Orient und Okzident miteinander verbindet:
"Was schrecklich ist, ist, dass man die Flüchtlinge als andere sieht. Aber sie sind uns so nah, es gibt keine Grenze zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident. Das sind nur Konzepte, aber in Wirklichkeit ist ein Syrer oder Marokkaner sehr nah von uns. Klar, sie haben andere Sprachen, andere Religionen, andere Kulturen, aber sie sind nicht so weit weg. Und das ist wichtig zu wissen."

Der kosmopolitische Blick

"Viva Raval" ruft uns ein junger Mann zu, als Mathias Énard auf das Haus in der "Straße der Diebe" zeigt, in dem er gewohnt hat, als er selbst in Barcelona ankam, nach einer langen Zeit im Nahen Osten:
"Ich habe in Syrien gewohnt, im Libanon, im Iran auch ein bisschen, hier in Spanien und auch in Deutschland. Das heißt 25 Jahre außerhalb Frankreichs. Man lernt viel."
Er hat in Beirut, Damaskus und Teheran geforscht, übersetzt, unterrichtet. Er spricht neben Spanisch, Katalanisch und Deutsch auch Arabisch und Farsi:
"Was wichtig ist, ist der kosmopolitische Blick. Überhaupt das kosmopolitische Leben. Um das Leben zu sehen nicht nur von einer Richtung, sondern in einem weiten Raum."
Énard wurde 1972 in Westfrankreich geboren, in Niort, zwischen Poitiers und La Rochelle. Aus der Kleinstadt ist er aufgebrochen in die Welt. Das Unterwegssein und ein offener Blick für das Andere und die Anderen − beides bestimmt sein Leben und seine Literatur:
"Die Reise ist nicht nur Tourismus. Und für die Literatur ist die Reise seit 1000 Jahren auch sehr wichtig."
(Aus "Kompass") "Der Blick von dort war magisch – bei Sonnenaufgang wie bei Sonnenuntergang entflammte das einfallende Licht nacheinander den Baaltempel, das Lager des Diokletian, die Agora, das Tetrapylon, die Mauern des Theaters. Und man konnte sich gut vorstellen, wie jene Engländer im 18. Jahrhundert gestaunt hatten, die die Oase entdeckten und die ersten Ansichten von Palmyra, der Wüstenbraut, nach Hause mitbrachten."
Cover "Kompass" von Mathias Énard
Cover "Kompass" von Mathias Énard© Hanser Verlag
Palmyra – die antike syrische Stadt, das Unesco-Kulturerbe, vom Islamischen Staat erobert und teilweise zerstört. Die Städte und Landschaften Syriens spielen nicht nur in Mathias Énards Biografie, sondern auch in seinem neuen Roman "Kompass" eine herausragende Rolle.

Mehrere Liebesgeschichten

Die Reise nach Palmyra, nach Syrien, zu anderen Kulturen – in "Kompass" erzählt Énard auf 400 Seiten die Geschichte einer Jahrhunderte alten gegenseitigen Faszination. Die Struktur des Romans wird bestimmt durch die emotionale Verstrickung zwischen seinen beiden Hauptfiguren, der französischen Orientalistin Sarah und dem österreichischen Musikwissenschaftler Franz Ritter:
"Die Liebe als eine starke Beziehung zwischen Franz und Sarah, aber auch zwischen Ost und West. Wie alle diese Wissenschaftler, Künstler, Musiker, die nach dem Orient gereist sind … sie haben irgendwie auch eine Liebesgeschichte gehabt mit konkreten Menschen, aber auch mit Landschaften, Sprache, Kultur, Musik. Das ist eine andere Liebesgeschichte, die sehr wichtig ist für den Roman."
Franz Ritter hat die Diagnose einer tödlichen Krankheit bekommen. Im Laufe einer schlaflosen Nacht ergreifen Erinnerungen von ihm Besitz − an sein Leben und seine große Liebe Sarah, die zwischen Istanbul, Teheran, Damaskus und Aleppo mehr zu Hause ist als in Mitteleuropa. Eine von ihren Orient-Forschungen besessene Wissenschaftlerin.
(Aus "Kompass") "Das erste Mal waren wir uns in der Steiermark begegnet, anlässlich eines Kolloquiums, eines jener Hochämter des Orientalismus (...) Das Kolloquium fand in Hainfeld statt, auf dem Anwesen des ersten großen österreichischen Orientalisten und Historikers des Osmanischen Reichs, Joseph von Hammer-Purgstall, des Übersetzers von ,Tausendundeine Nacht‘ und des ,Divan von Hafis‘, der ein Freund des französischen Orientalisten Sylvestre de Saci und von allen anderen war, die damals zur kleinen Bande der Orientalisten zählte."
"Kompass" ist ein Parforce-Ritt durch die Geschichte der Literatur, Philosophie und Musik – von Frankreich über Deutschland und Österreich bis in die Türkei, Syrien, den Iran und Irak.
Als Wolfgang Amadeus Mozart um 1780 seinen "Türkischen Marsch" schrieb oder "Die Entführung aus dem Serail" − beides bis heute unsterbliche Schlager der Wiener Klassik − war die Orient-Begeisterung, auch "Ägytomanie" genannt, in der K. und K.-Metropole auf ihrem Höhepunkt. Und nicht nur dort. Goethe hatte sich von den Gedichten des berühmten persischen Dichters Hafis aus dem 14. Jahrhundert zu seinem "West-östlichem Divan" inspirieren lassen.
(Aus "Kompass") "Weißt Du, Franz, meinte sie, als wir die Reihe der Kaleschen am Rand des Stephanplatzes entlanggingen, es gibt etwas ziemlich Interessantes bei den Leuten, die glauben, Wien sei das Tor zum Orient (...) ich meine es ernst, ich denke, ich werde darüber schreiben, über die Darstellungen Wiens als "Porta Orientis"."
So lässt Énard seine Figur Sarah räsonieren. Und Franz Ritter antwortet:
"Soviel ich auch darüber nachdenke, ich sehe das nicht, erwiderte ich. Hofmannsthals Formel von Wien als ,Porta Orientis‘ scheint mir sehr ideologisch besetzt zu sein (...) Natürlich haben wir Cevapcici und Paprika, aber abgesehen davon ist Wien mehr die Stadt von Schubert, Richard Strauss und Schönberg, und darin liegt meines Erachtens nichts Orientalisches."

Fluchtpunkt europäischer Sehnsüchte

Énards Roman ist in manchen Teilen ein kurioses "Namedropping" auf höchstem kulturgeschichtlichem Niveau. Es treten auf: Ludwig van Beethoven, der Persisch-Experte Friedrich Rückert, Gottfried Benn und Georg Trakl. Hölderlins Geist wird beschworen. Joseph Roths "Geschichte von der 1002. Nacht", Hugo von Hofmannsthals "Scheherazade" und Victor Hugos "Orientalia"-Poeme spielen ebenso eine Rolle wie der wilde Dichter Arthur Rimbaud, dessen Ruhelosigkeit ihn bis in den Jemen und zu Expeditionen nach Äthiopien und Somalia trieb. Die arabische Welt als Fluchtpunkt europäischer Sehnsüchte − bei Mathias Énard wird die Region, die heute als Schlachtfeld durch die Nachrichten geistert, zum Ort und Gegenstand eines unaufhörlichen west-östlichen Salon-Geplauders:
"Eine Figur wie Lady Ellenborough, eine Engländerin von Anfang 1800, die hat die letzten 30 Jahre ihres Lebens in Damaskus gewohnt, zwischen Damaskus und Palmyra. Sie war ein Knoten in diesem Netzwerk. Sie hat Balzac kennengelernt, sie war in Österreich, sie hat Beziehungen mit vielen anderen Personen. Der Roman funktioniert so, dass alle diese Figuren sich irgendwie kennengelernt haben. Balzac und Hammer-Purgstall – Lady Ellenborough, Annemarie Schwarzenbach mit Marguerite Duras in Palmyra usw."
Süffisante Beschreibungen der Eitelkeiten, Skurrilitäten, koloniale Attitüden, mit denen die Forschungsreisenden durch die arabische Welt ziehen − vor 100 Jahren und bis heute in die Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des aktuellen Syrienkriegs. Der Roman mäandert zwischen klugen Anspielungen, gelehrten Abschweifungen, legt gewagte Analogien nahe und widmet sich mitunter kuriosen Details. Wie in jener Episode, der der Roman seinen Titel verdankt:
"Beethoven besaß einen Kompass. Einen kleinen Metallkompass aus Kupfer oder Messing.(...) Ich besitze eine Replik davon − oder besser gesagt: ein ähnliches Modell. (...) Auf ihrem Wassertropfen zeigt die doppelte rote und blaue Magnetnadel, vom Magnetismus festgehalten, unermüdlich nach Osten. (...) Ich habe lange ungläubig mit ihm gespielt, habe zig Versuche gemacht, am Küchenfenster, am Wohnzimmerfenster, am Schlafzimmerfenster, und tatsächlich, er zeigt stets nach Osten. Sarah hielt sich den Bauch vor Lachen. (...) Die Hexe, die für den Zauber verantwortlich war (oder ihn zumindest eingekauft hatte), verriet mir schließlich aus Mitleid mit meiner mangelnden Vorstellungskraft, dass der Kompass in Wirklichkeit zwei Nadeln besaß, die durch ein Stück Pappe voneinander getrennt waren. (...) Wozu? (...) - Franz, dir fehlt es an Poesie. Du besitzt jetzt einen der wenigen Kompasse, die den Orient anzeigen, den Kompass der Erleuchtung. Einen mystischen Zauberstab."

Vermittler zwischen Okzident und Orient

"Das ist ja eine solche Informationsfülle zum Thema des westlichen und des arabischen Orientalismus. Der Erzähler muss ja immer herumgehen und findet dann die Zitate, die Reise-Erinnerungen von Flaubert oder die fingierten Essais seiner Geliebten Sarah, die dann als Textzitat eingebaut werden."
... sagt der Berliner Lektor Delf Schmidt. Schmidt hatte Mathias Énard 2010 erstmals den deutschen Lesern bekannt gemacht, indem er die Übersetzung des Romans "Zone" herausbrachte – eine Gedanken-Reise rund um das Mittelmeer, geknüpft an die mörderische Geschichte der Balkankriege. In dem darauf folgenden Konstantinopel-Roman "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" hatte Énard den Renaissance-Künstler Michelangelo an den Bosporus fantasiert, um dort, also an der Schnittstelle von Europa und Asien, eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen. Lauter Abendland-Morgenland-Geschichten, so wie eben auch der jüngste Roman "Kompass", der im französischen Original "Boussole" heißt.
Delf Schmidt: "Er ist dieser Vermittler zwischen Okzident und Orient. Ich hätte es auch großartig gefunden, wenn man 'Boussole' auf Deutsch 'West-östlicher Divan' genannt hätte. Und zwar Divan in der doppelten Bedeutung des Wortes. Es ist einmal eine Sammlung von Poesie. Und andererseits ist es auch eine Couch, das heißt, es hätte auch der Liebesgeschichte in 'Boussole' dienen können in dieser doppelten Bedeutung. Und auch all die Verweise und Zitate auf Goethe. Mit diesem wunderbaren Fund, dass Goethe die Erstausgabe ins Arabische hat übersetzen lassen, und es ist falsch übersetzt worden. Das ist doch eine herrliche Trouvaille."
Die sprachliche und gedankliche Komplexität von "Kompass" zeigt, dass wir es bei Mathias Énard tatsächlich mit einem ganz außergewöhnlichen Autor zu tun haben. Das hat auch die Académie Goncourt erkannt, die Énard 2015 den wichtigsten Literaturpreis zusprach, den Frankreich zu vergeben hat − gegen eine starke Konkurrenz in der Endauswahl. Bei all seiner Gelehrsamkeit und Gedankenfülle ist "Kompass" auch noch stilistisch brillant geschrieben und die Lektüre daher ein Vergnügen.
Holger Fock, der gemeinsam mit Sabine Müller bislang alle Bücher Énards ins Deutsche übersetzt hat, streicht die engagierte Haltung des Autors heraus:
"Dieser Roman versucht, in einer politisch extrem aufgeheizten Atmosphäre in Europa, eine Frontstellung zwischen Christentum und Islam, zu zeigen, wie diese beiden Kulturkreise und Religionen seit langer Zeit sich durchdrungen haben und bereichert und wie nahe sie sich auch sind. Ich glaube, dass der Roman sehr wichtig ist für diese Zeit, weil er darauf hinweist, dass es diese strikte Trennung zwischen den Kulturen gar nicht gibt, die im politischen Rahmen immer mehr behauptet wird. Wo die Unvereinbarkeit zwischen islamischer Welt oder mittel-, nah-fernöstlicher Welt behauptet wird."

Orientierung heißt: Den Osten finden

In Barcelona führt mich der Schriftsteller weiter durch die Gassen und über die Plätze des Raval. Unter den umlaufenden Arkaden im Innenhof der Biblioteca de Catalunya ist es angenehm kühl. Eine Fontäne plätschert. Mathias Énard deutet auf die Spitze eines Kirchturms:
"Alle unsere Kirchen zum Beispiel. Man sieht nicht, dass sie fast alle Richtung Osten orientiert sind. Nur wissen wir nicht mehr, was das bedeutet. Was der Orient war, das mystische Ziel, die Pilgerreise. Und auch sehr traurige Pilgerreisen wie die Kreuzzüge."
Ja, denke ich, natürlich, irgendwann hatte man einmal davon gehört, dass der Altar immer nach Osten ausgerichtet ist ... Nicht nur fromme Muslime wenden sich beim Gebet gen Mekka. Auch das Christentum schaut in Richtung der aufgehenden Sonne und des Heiligen Landes. Osten ist auch die Richtung, in der sich das Paradies befinden soll:
"Was mich immer auch fasziniert, ist die Orientierung. Orientierung heißt: Osten finden. Und nicht Norden."
"Orient-Ierung" – im "Richtung-Rinden" steckt also der "Orient". Für solche sprachlich-kulturellen Feinheiten sensibilisiert uns Mathias Énard. Eine ganze Fülle verschütteter Bildungsdetails bringt er ans Licht, mit der wir die komplizierte Gegenwart besser begreifen können.
Charlotte Wöllez: "Und das alles ohne einen Begriff von Grenze. Er kommt immer zu dem Ort, wo die Kulturen sich kreuzen und gegenseitig bereichern."
… sagt Charlotte Wöllez von "Actes Sud", Mathias Énards französischem Verlag, der den Autor seit Jahren begleitet und groß gemacht hat.
"Das ist eine der starken Seiten des "Kompass"-Romans, sowohl, was die Arbeit des Autors, seine Schreibweise betrifft, als auch, was die politische Aussage angeht. In einer Welt, in der die Grenzen sich schließen und immer undurchlässiger werden, weist sein Buch genau in die andere Richtung."
Neugier, Faszination, Offenheit − das alles macht den Kern des Romans aus.
Charlotte Wöllez: "Es geht in "Kompass" um Ideen, aber auch um Menschen, die sich zu anderen Zivilisationen aufmachen. Wenn man den Roman liest, spürt man, warum sie sich von anderen Kulturen angezogen fühlen. Bei manchen ist es ein bewusster Bruch oder einfach das Bedürfnis, woanders zu sein. Diese Disposition wird in dem Buch nicht theoretisch oder wissenschaftlich erörtert, sondern es geht um den Drang, sich in einer anderen Kultur zu verlieren. Oder sich zu finden – das ist wohl die Grundidee."

Hirnlose Zerstörer und bärtige Mörder

Mathias Énard knüpft sein von Bildung gesättigtes Orient-Panorama an die realen Katastrophen der Gegenwart.
"Europa hat den Syrern, Irakern und Ägyptern die Antike unter dem Hintern weggegraben. (…) Die hirnlosen islamistischen Zerstörer steuern die Abrissbagger in den antiken Stätten umso leichter, als sich ihre abgrundtiefe, ahnungslose Dummheit mit dem mehr oder weniger diffusen Gefühl verbindet, es handele sich bei diesem Kulturerbe um eine seltsame rückwirkende Emanation der fremden Macht.
Raqqa ist heute eine der Städte, die direkt vom Islamischen Staat in Irak und Syrien regiert werden, was sie sicher nicht viel gastfreundlicher macht, und die bärtigen Mörder frönen ihren Mordgelüsten, schneiden den einen die Kehle durch, hacken den anderen die Hände ab, setzten Kirchen in Brand und vergewaltigen ungläubige Frauen zum Vergnügen. Der Wahnsinn scheint die ganze Region erfasst zu haben."
Mathias Énard hat sein Buch den Menschen in der umkämpften Region gewidmet. "Für die Syrer" heißt es auf der letzten Seite.
Charlotte Wöllez: "Es ist gut, dass es ein Buch gibt, das anders über dieses Volk spricht als die Medien mit ihren gefilterten Bildern. Mathias Énard schöpft seine Kenntnisse aus seinem eigenen Leben in dieser Region. Dadurch wirkt der Roman so ernsthaft und so ungeheuer authentisch."
(Aus "Kompass") "An diesem ersten Abend in Aleppo gingen wir (...) zum Essen nach Dschudaide, das christliche Altstadtviertel, in dem die alten Gebäude nach und nach restauriert und in Luxushotels verwandelt worden waren. (...) Auf dem Rückweg ins Hotel sind wir auf vielen Umwegen durch das Halbdunkel der Gassen und geschlossenen Bazare geschlendert heute sind alle diese Orte dem Krieg anheimgefallen, brennen oder sind abgebrannt- (...) ob Aleppo seine Pracht jemals wiedererlangen wird, vielleicht, wer weiß, aber heute ist unser damaliger Besuch in doppelter Hinsicht ein Traum, zugleich verloren in der Vergangenheit und eingeholt von der Zerstörung."

Gegenentwurf zur nationalen Begrenztheit

Wir haben uns in Barcelona zwischen die Rundbögen des Arkadengangs gesetzt. Hier im schattigen Hof der Biblioteca da Catalunya im Raval-Viertel erzählt Mathias Énard von ganz anderen Orten: von Wien, wo sein Roman verankert ist; und von Berlin, wo er während eines zweijährigen Aufenthalts für das Buch recherchiert hat. Große Teile der 400 Seiten von "Kompass" hat er in Berlin auch geschrieben:
"In Berlin gab es viele Orientalisten. Alle Museen in Berlin sind voll von archäologischen Funden aus Ägypten, Mesopotamien. Berlin war ein sehr wichtiges Zentrum."
Bei seinem Aufenthalt in Deutschland hat er sich in Schriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert vertieft, hat etwa das Material über den Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall gesammelt, der nicht nur die Gedichte von Hafis aus dem Persischen übersetzt hat, sondern auch die "Erzählungen aus 1001 Nacht" aus dem Arabischen. "Kompass" ist ein Roman, der in Deutschland, Österreich und in der deutschsprachigen Literatur- und Geistesgeschichte spielt − eigentlich ist es erstaunlich, dass er in Frankreich einen so großen Erfolg hatte. Mathias Énards Werk ist ein literarischer Gegenentwurf zu Konzepten nationaler Begrenztheit. Von daher ist "Kompass" auch ein sehr politisches Buch.
Carrer del Torrent de l'Olla 136. Wir haben das enge Raval-Viertel hinter uns gelassen, uns unter die Touristen auf der Rambla gemischt und sind ein Stück den Passeig de Grácia entlang gelaufen, vorbei an den Auslagen der internationalen Luxusmarken auf diesem Prachtboulevard. Jetzt stehen wir vor einer Glastür mit dem Schriftzug "Karakala":
"Wir sind hier seit 2012. Ein Fusion-Restaurant mit meinen Partner Imad, er kommt aus Libanon, aus Nord-Libanon. Wir kennen uns seit Jahren, wir sind Freunde."
"Phönizische Küche" nennen die beiden ihre "Fusion" aus mediterranen Rezepten − beeinflusst aus der libanesischen, katalanischen, französischen und spanischen Kochtradition. Und damit aus allen Regionen rund um das Meer, das für das Denken des Schriftstellers eine so große Rolle spielt.

Weltbürgertum in der Literatur

"Ich schreibe morgens früh, von 7 bis 12 ungefähr schreibe ich und dann komme ich hierher, um ein Uhr."
Wir essen Humus auf libanesische Art und sprechen über die wechselseitigen kulinarischen Einflüsse. Der erfolgreiche Schriftsteller verbreitet überhaupt keine Promi-Attitüde, sondern tritt eher bescheiden und außerordentlich freundlich auf. Mathias Énard wirkt sehr ernsthaft. Bodenständig. Ganz bei sich.
"Wir haben immer diese Beziehung mit dem Orient gehabt. Und diesen Orienttraum. Wie es auch im Osten immer einen Westentraum oder Okzidenttraum gab."
So wie er hier in seinem west-östlichen Restaurant sitzt, könnte er eine seiner Romanfiguren sein, für die das Leben in und mit den Kulturen des Nahen und Mittleren Ostens eine alltägliche Selbstverständlichkeit ist:
"Wir haben Angst vor dem, was wir nicht wissen. Und es ist wichtig, diese Beziehungen zu fördern, dieses Beziehungen zwischen uns und dem Islam, was es bedeutet, Muslim zu sein. Wie man lebt, wie man schreibt, wie man liebt im Iran zum Beispiel. Und dafür haben Romane eine wichtige Rolle. Auch populäre Fernsehserien sind sehr wichtig. Wir brauchen heute ein ganz anderes Paradigma."
Faszination und Schrecken, Fremdheit und Träume – so, wie Mathias Énard in seiner Küche Aromen und Zutaten mischt, bringt er in seinen Büchern die unterschiedlichen Kulturen zusammen. Fusion am Herd, Weltbürgertum in der Literatur. Mathias Énards Leben und Werk öffnen den Blick ins Weite.
Mehr zum Thema