"Maßlose Frechheit und Schamlosigkeit"

Moderation: Ulrike Timm · 29.07.2013
Die Menschen in Bulgarien sind verzweifelt. 45 Jahre lang wurden sie von Kommunisten regiert, doch die Nachfolger machten es nicht viel besser. Der bulgarisch-stämmige Schriftsteller Dimitré Dinev ist wütend über die Zustände in seiner Heimat, in der Korruption und Hoffnungslosigkeit herrschen.
Ulrike Timm: In Bulgarien, dem ärmsten Land der Europäischen Union, wird seit sechs Wochen jeden Tag demonstriert. "Mafia" und "Rücktritt" rufen die Menschen, und anders als zu Jahresbeginn, als es soziale Proteste ging und die rechtskonservative Regierung auch wegen Strompreiserhöhungen aus dem Amt gefegt wurde, geht es wohl diesmal um politische Kultur, um Demokratie.

Wider die Korruption geht vor allem die Mittelschicht auf die Straße, gut ausgebildete junge Leute. Nun ist die gewählte sozialistische Regierung gerade mal zwei Monate im Amt, warum will man sie in Sofia umgehend wieder loswerden?

Wir fragen den bulgarisch-österreichischen Schriftsteller Dimitré Dinev, in Deutschland wurde er vor allem durch seinen Roman "Engelszungen" bekannt, eine Familiensaga vor dem Hintergrund der Geschichte Bulgariens. Guten Morgen, Herr Dinev!

Dimitré Dinev: Guten Morgen, guten Morgen!

Timm: Was genau macht denn die vielen Menschen auf der Straße, die vielen tausend Menschen, die jeden Tag demonstrieren, was macht die derzeit so wütend?

Dinev: Ja, was sie sehr wütend macht, ist diese maßlose Frechheit und Schamlosigkeit und Ehrenlosigkeit dieser herrschenden Elite, also vor allem der Sozialisten, der sogenannten Sozialisten, die Nachfolger der früheren KP, Kommunistischen Partei Bulgariens sind. Viele davon sind sogar Kinder von früheren Funktionären. Und sie haben sie so viele Jahrzehnte beobachtet und das Volk hat gesehen, was von denen zu erwartet ist. Ihnen sind die schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben.

Und eine der schlimmsten Sachen, die sie gemacht haben nach der Wende, dass sie die Mafia erschaffen haben, weil sie ihre Gelder legalisieren wollten. Und so haben sie jemand gebraucht, der die Gelder wäscht. Und so haben sie natürlich dann diese Strohmänner benutzt, die sind dann später selbstständig, manche, geworden, so ist der Geist aus der Flasche herausgekommen. Aber sie sind trotzdem als Kapitalisten zurückgekehrt und so ist eine sehr große Krise entstanden, weil mittlerweile ist eben diese Schattenwelt von der Welt der Macht nicht mehr auseinanderzuhalten. Es ist alles so ineinander verwoben. Und ja, und das ist wirklich … Es ist eine endlose Wut, die sich angesammelt hat.

Timm: Herr Dinev, nun ist diese sozialistische Regierung ja gewählt worden vor zwei Monaten und hat am Wochenende ihre eigenen Fans auch mobilisiert. Sind denn die Demonstranten gegen die Regierung wirklich ein Spiegel der Gesellschaft oder sind das einzelne Gruppen?

Dinev: Ja, die ist gewählt worden, aber sie haben … Ich weiß nicht, die sind auf 20 Prozent gekommen, also, die größte Gruppe hat gar nicht gewählt in der Gesellschaft. Also, viele von den Nichtwählern sind auf der Straße, die eigentlich so gut wie … Sie vertrauen keinem mehr. Sie haben versucht, das Volk hat in diesen Jahrzehnten versucht, immer jemanden zu finden, der ihnen endlich Gerechtigkeit zeigt, haben sie aber nicht gefunden. Sie haben sogar den König einmal gewählt, als er zurückgekommen ist, der hat sie auch enttäuscht, eine maßlose Enttäuschung. Also, was die Regierung zu mobilisieren versucht, das ist auch lächerlich, die haben ihren Parteitag gefeiert, also die Sozialisten. Und ich glaube, dass ein Großteil der Bevölkerung zu den Protestierenden hält. Und natürlich gibt es … Die Gesellschaft, die Leute, die es zu was bringen wollten in dieser Zeit, sind in irgendwelche Abhängigkeiten geraten. Es ist so, wenn du Karriere machen wolltest, dann musstest du dich politisch mit jemandem zusammentun. Unabhängige Karrieren gibt es so gut wie nicht, also sind alle …

Timm: Alle korrupt!

Dinev: Alle auf eine Weise korrupt, sie schulden alle …

Timm: Eines verstehe ich noch nicht, Herr Dinev: Seit Jahresanfang hat Bulgarien in diesen sieben Monaten eine rechtskonservative Regierung abgesetzt, eine Übergangsregierung aus Experten gehabt, seit zwei Monaten nun eine gewählte sozialistische Regierung, die nun auch wieder durch Neuwahlen weg soll, weil sie korrupt ist. Ist das Land derzeit auch so eine Art Übungslabor der Demokratie? So viel Hin und Her, weil man das einfach üben muss, wie das ist, sich frei zu entscheiden und eine Demokratie zu installieren?

Dinev: Nein, Übung … Das Volk weiß, was es will. Das Problem ist, es gibt den Kandidaten nicht, es gibt die Alternative nicht. Es ist ein bisschen ein pessimistisches Bild, aber es ist so. Und die rechtskonservative Regierung … Man soll sich vor den Augen halten, dass die sogenannten Sozialisten nichts mit den linken Ideen zu tun haben, die Ideen sind nur so ein Schein. In Wirklichkeit sind es beinharte Kapitalisten. So gesehen haben sie nicht die Wahl. Und diese linke Regierung hat es nie geschafft, die Jugend zu mobilisieren. Es gibt nicht wie in anderen Ländern in Europa so linke Jugendbewegungen, die stark sind. Und das Problem ist eben, das Volk muss so zwischen Pest und Cholera wählen, aber dann lieber jemand wählen, der nicht zuständig ist für alle Gräuel der Vergangenheit.

Timm: Gibt es diesen Menschen denn? Also ich meine, man erfährt jetzt, was die Leute nicht wollen, sie wollen diese Regierung nicht, sie halten sie für korrupt, Sie haben uns beschrieben, dass innerhalb dieser sozialistischen Regierung es eine Art mafiöses Paralleluniversum, sage ich mal, gibt, wo Leute versuchen, viel Geld zu machen, dass die versuchen, die Leute jetzt abzusetzen. Sie wissen also offenbar, was sie nicht wollen. Wissen sie denn auch, was sie möchten?

Dinev: Ja, ich meine, sie möchten was ganz Einfaches, sie möchten endlich Gerechtigkeit. Sie möchten sehen, dass es Institutionen gibt, die funktionieren. Ihr Misstrauen ist so stark gewachsen, ihr Glauben ist verloren an die Gerechtigkeit. Und ohne so einen Glauben, glaube ich, tut sich jede Gesellschaft schwer. Ich gebe ein Beispiel, es gab in diesen Jahrzehnten so viele öffentlichen Morde vonseiten der Mafia, Leute wurden auf der Straße beseitigt, so richtig wie in so Mafiafilmen, und es gibt keinen einzigen Verurteilten. Es gibt keinen einzigen Verurteilten, auch weil diese langen Prozesse …

Es wurden nach der Wende nicht die Verantwortlichen gefunden für den Terror der Kommunistischen Partei in diesen 45 Jahren, wo so viele Menschen aufgrund ihrer politischen Einstellung in Lagern verschwunden sind oder in irgendwelche Gefängnisse gebracht worden sind, es wurden nie die Schuldigen gefunden. Wir leben in einem Land der Unschuld und das ist immer gefährlich.

Timm: Schauen wir mal auf die Intellektuellen und die Kulturinstitutionen in Bulgarien, wie reagieren die denn darauf? Wie geht es denen zurzeit, haben Sie da vielleicht ein Beispiel?

Dinev: Grundsätzlich geht es ihnen sehr schlecht, bis auf die wenigen, die sich in der Nähe der Macht aufhalten, weil die Ressourcen auch so knapp sind. Alle Förderungsgelder sind auch sehr begrenzt. Und ja, sie verhungern.

Also, zum Beispiel, ein Autor, der nicht ein paar Nebenjobs hat, der kann von dem, was er macht nie überleben. Er muss entweder als Journalist arbeiten … Dann natürlich, wenn er als Journalist tätig ist, muss er auch aufpassen, auf welcher Seite er steht. Und wenn er nicht aufpasst, dann ist es ganz leicht, ihn auszuschalten, weil eben … Man kann ihn feuern und wenn er seinen Job verliert, kann er gar nichts mehr tun, es sei denn, er hat jemand, der ihn liebt und der ihn irgendwie fördert. Aber die Leute sind …

Die Leute müssen auch mit 400, 500 Euro Monat pro Monat auskommen und wer Miete zahlt, der zahlt schon allein das Geld für die Miete. Von allen meinen Freunden, die ich dort habe und die künstlerisch tätig sind, könnten vielleicht, ich weiß nicht, ein Prozent davon so halbwegs leben, die anderen sind richtig verzweifelt und wütend. Genauso wie die Menschen auf der Straße.

Timm: Der bulgarisch-österreichische Schriftsteller Dimitré Dinev zur verworrenen Situation derzeit in Bulgarien und in Sofia. Herr Dinev, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Dinev: Ja, bitte, gern!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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