Maßgeschneiderte Krebstherapie dank Genanalyse

Hans Lehrach im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.02.2010
Kenne deinen Feind! Nach diesem Motto verfahren Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin: Sie entschlüsseln das Erbgut von Tumorzellen und von Patienten, um so eine individuell angepasste Therapie zu entwickeln. So ließen sich auch die Nebenwirkungen reduzieren, sagt der Institutsdirektor Hans Lehrach.
Dieter Kassel: Viele Menschen warten noch immer auf das Wundermittel gegen den Krebs. Mediziner aber wissen, dass es dieses eine Mittel niemals geben wird und niemals geben kann, denn dazu sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Krebsarten viel zu groß. Man braucht, um es sehr einfach auszudrücken, eigentlich für jeden einzelnen Tumor ein auf ihn zugeschnittenes Mittel, und die Möglichkeit, dieses Mittel zu finden, bietet, wie so oft heutzutage, die moderne Genetik. Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten zurzeit an sogenannten individualisierten Krebstherapien, darunter auch Ärzte und Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin. Bei mir im Studio zu Gast ist jetzt Professor Hans Lehrach, er ist Direktor an eben diesem Max-Planck-Institut. Schönen guten Tag!

Hans Lehrach: Schönen guten Tag!

Kassel: Erklären wir es doch mal ganz grundsätzlich und wirklich so, dass wir es verstehen: Was genau ist denn eine individualisierte Krebstherapie?

Lehrach: Jeder Tumor ist verschieden, jeder Patient ist verschieden. Patienten sprechen oft nur zu einem sehr geringen Ausmaß auf die Standardtherapien an, das heißt, wir müssten eigentlich imstande sein, für jeden Patienten die optimale Kombination an Medikamenten zu selektionieren, bevor wir den Patienten behandeln. Und wir haben jetzt die Möglichkeit, genau das zu machen durch eine Kombination von den Fortschritten in den Sequenziertechniken und in der Verwendung von Modellierungsverfahren, die das dann in einen virtuellen Patienten umsetzen.

Kassel: Das heißt aber nicht, dass bei einem Krebspatienten jetzt das komplette Erbgut entschlüsselt wird, sondern Sie versuchen wirklich sozusagen, den Tumor selber zu entschlüsseln?

Lehrach: Wir entschlüsseln sowohl das Erbgut des Tumors als auch des Patienten, weil wir feststellen wollen, welche Unterschiede aufgetreten sind.

Kassel: Wie geht es dann in der Regel weiter? Also, die Heilung der Krankheit, so sie möglich ist oder sein wird – geschieht die dann auch durch Gentechnik oder entwickeln Sie ein Medikament und es gibt dann das, was wir heute schon als Chemotherapie kennen?

Lehrach: Wir versuchen, die optimalen Medikamente beziehungsweise die optimale Kombination von Medikamenten für jeden einzelnen Patienten zu identifizieren. Also, wir verwenden die Genomsequenzierung dazu, um ein individuelles Modell des Tumors und des Patienten zu erstellen, das wir virtuell mit bestimmten Medikamenten und Medikamentenkombinationen behandeln können und bei dem wir eine optimale Kombination identifizieren können.

Kassel: Aber ich habe als Laie sofort Zweifel, ob das funktionieren kann. Dieses Computermodell kann ja nur nach dem System funktionieren: Wenn A und B zusammentrifft, haben wir C. Aber ist das nicht bei einem lebenden Menschen, bei einem menschlichen Organismus etwas komplizierter? Gibt es nicht jenseits der Genmutationen noch ganz andere Einflüsse, die entscheiden, wie sich ein Krebs entwickelt?

Lehrach: Es gibt natürlich andere Aspekte, aber Sie haben einen bestimmten Krebs mit bestimmten Mutationen, mit bestimmten Änderungen im Genom und mit bestimmten Transkriptionsmustern. Dieser Zustand wird im Computer modelliert. Ob Sie diesen Zustand dadurch erreicht haben, dass Sie zeitlebens zu viel geraucht haben oder dass Sie einfach irgendein Gen gehabt haben, dass Sie zu einer bestimmten Krebsform besonders anfällig macht, das ist eigentlich irrelevant, wenn wir versuchen, die Behandlung für den bestimmten Krebs zu identifizieren, die am besten wirkt und die geringsten Nebenwirkungen hat.

Kassel: Das ist jetzt noch mal ein wichtiger Punkt, damit mir das als Laie klar wird: Das Ergebnis, wenn alles funktioniert, ist am Ende ein Medikament, das idealerweise das Wachstum der Krebszellen stoppt. Es ist nicht so, dass Sie die Krebszellen oder überhaupt Zellen im Körper manipulieren können und dadurch das Wachstum stoppen?

Lehrach: Wir manipulieren Krebszellen hauptsächlich durch vorhandene Medikamente, also chemische Stoffe, die mit bestimmten Proteinen in der Krebszelle interagieren und dadurch die Signalwege beeinflussen. Das kann dazu führen, dass die Tumorzelle in Apoptose getrieben wird, also in den programmierten Zelltod, es kann auch dazu führen, dass die Zellteilung der Tumorzelle gestoppt wird. Der wichtige Aspekt ist, dass wir imstande sein müssen, auch die Nebenwirkungen vorauszusagen. Also, wir müssen auch Modelle der vielen anderen Gewebe im Körper erstellen und ihre Reaktion auf die gleiche Behandlung voraussagen können, denn es nützt natürlich wenig, wenn wir den Tumor zwar heilen, aber den Patienten irreversibel schädigen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Professor Hans Lehrach vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik über die sogenannte individualisierte Krebstherapie, und man bekommt natürlich mit – und ich kann das auch sehr verstehen, Herr Lehrach –, dass es für Wissenschaftler im Moment eine sehr faszinierende Möglichkeit ist, eine auch grundlegend neue Möglichkeit, wenn man die letzten Jahrzehnte der Krebsforschung vergleicht. Aber was bedeutet das im Moment und in naher Zukunft für den Patienten? Wir sind ja nun alle aus der Boulevardpresse seit Jahren die Schlagzeile "Wundermittel gegen Krebs gefunden" gewöhnt und mussten immer wieder lernen: Das stimmte so nicht, wie wir das erst geglaubt haben. Wie weit sind wir denn im Moment mit diesen Methoden davon entfernt, alle Krebsarten – es gibt ja noch immer sehr viele, wo ein Mediziner im Moment eigentlich nur professionelle Sterbebegleitung anbieten kann, weil sie nicht heilbar sind –, wie weit sind wir davon entfernt, alle Krebsarten heilbar zu machen?

Lehrach: Wir sind dabei, zu versuchen, viele verschiedene Krebsarten zu modellieren, also, einer der Fälle ist der Bauchspeicheldrüsenkrebs, bei dem eigentlich keine Medikamente zur Verfügung stehen. Wir sind gerade dabei, in unseren Modellen verschiedene Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs virtuell zu behandeln. Wir sind auch dabei, in Kollaboration mit dem Comprehensive Cancer Center der Charité, Patienten, die momentan in Behandlung sind, mit diesen Methoden zu untersuchen und hoffen, dass wir imstande sein werden, zumindest einigen dieser Patienten eine bessere Behandlung aufgrund dieser Modellierungsresultate anbieten zu können.

Kassel: Das heißt, auch Sie können nicht seriöserweise behaupten, in zwei, drei Jahren haben wir den Krebs besiegt?

Lehrach: Natürlich werden wir den Krebs nicht vollständig besiegt haben. Ich glaube aber, dass wir bei bestimmten Krebsformen, bei bestimmten Patientengruppen sehr wohl rasche Fortschritte machen können. Mit fünf Millionen neuer Krebsfälle allein in den entwickelten Ländern wird es auch einen signifikanten Fortschritt bringen, wenn wir auch nur 10 bis 20 Prozent der Patienten besser behandeln können, und ich glaube, von den wissenschaftlichen Voraussetzungen her gibt es keine Gründe, wieso das und auch sehr viel ambitiösere Ziele nicht erreichbar sind.

Kassel: Zählt zu diesen Zielen, die für Sie erreichbar sind, auch die Nebenwirkungen, die herkömmliche Krebstherapien fast immer haben, diese Nebenwirkungen signifikant zu reduzieren? Denn wenn man diese Computermodelle hat, kann man das doch sicherlich mit simulieren.

Lehrach: Das ist genau eines der wichtigsten Ziele, das wir dabei verfolgen. Dadurch, dass wir den gesamten Patienten modellieren können, können wir den Effekt der Medikamente auch auf die anderen Gewebe, die wir ja nicht schädigen wollen, voraussagen. Also, wir können zum Beispiel in diese Modelle auch einbauen, dass bestimmte Medikamente, die routinemäßig gegeben werden, in bestimmten Patientengruppen nie in die aktive Form umgewandelt werden, das heißt, in diesen Patienten sind einfach aufgrund der genetischen Voraussetzungen im Patienten bestimmte Medikamente nicht wirklich vernünftig anwendbar. Also, wir können in Computermodellen natürlich sehr viel komplexere Modelle aufbauen, sehr viel mehr Aspekte in das Modell einbeziehen, als dass vernünftig in einem klinischen Betrieb sonst möglich wäre.

Kassel: Ich kann das nachvollziehen, was Sie sagen, soweit ich es verstehe, aber ich kann mir auch vorstellen, dass Menschen, die das jetzt hören und die vielleicht Angehörige haben mit Krebserfahrung oder selber ... oder noch nicht einmal das, die einfach nur je in einem Krankenhaus waren, jetzt auch ein bisschen Angst bekommen. Ich erkläre Ihnen auch warum: Auch ich möchte eigentlich nicht im Krankenhausbett liegen und mein Arzt hat gar keine Zeit für mich, weil er vier Zimmer weiter am Computer sitzt, wo er meinen Körper, meine Gene modelliert hat. Für Sie als Wissenschaftler ist das okay, aber steuern wir auf eine Medizin zu, wo mir der Arzt vielleicht irgendwann sagt, Herr Kassel, das kann gar nicht sein, dass Sie immer noch krank sind, im Computer sind Sie gesund?

Lehrach: Wenn wir das schaffen, dann, glaube ich, haben wir viel erreicht. Ich glaube, dass wir die Computermodelle viel mehr einsetzen müssen, um das Verhalten des extrem komplexen Systems Patient zu den extrem komplexen Störungen, die wir mit der medikamentösen oder mit anderen Therapien an dem System anbringend richtig voraussagen zu können. Mir ist es lieber, der Onkologe zieht das gesamte vorhandene Wissen in Betracht, wenn er die entsprechende Behandlung aussucht, als das einfach nach Bauchgefühl oder nach irgendwelchen first line treatments, second-line-treatment-Verfahren zu selektionieren. Wir müssen in eine Situation kommen, in der der individuelle Patient behandelt wird und nicht ein Fall von Pankreas, Krebs oder Lungenkrebs unter vielen.

Kassel: Die Zukunft der Krebsbehandlung, Hans Lehrach vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin war das über die individualisierte Krebstherapie.