Martin Wolff: "Eine Phänomenologie von Konflikten"

Wenn Reden keine Lösung ist

Buchcover Martin Wolff "Eine Phänomenologie der Konflikte", im Hintergrund ein Panzer auf einer Straße
Philosoph Martin Wolff vertritt die These, dass nicht jeder Konflikt einvernehmlich gelöst werden kann. © Nomos Verlag, EPA
Moderation: Florian Felix Weyh · 01.04.2017
Philosoph Martin Wolff hat "Eine Phänomenologie von Konflikten" erstellt und ist überzeugt: Es gibt nicht immer eine friedliche Lösung. Denn dem Streit zugrunde lägen häufig zwei gegensätzliche Überzeugungen. "Dann hilft der Satz nicht, redet mal vernünftig miteinander", sagt er.
Florian Felix Weyh: Das vor mir liegende Buch trägt einen gravitätischen Titel, fast ehrfurchtgebietend: "Ernst und Entscheidung". Geschrieben hat es der junge Berliner Philosoph Martin Wolff, und der sitzt mir jetzt gegenüber. Guten Morgen, Herr Wolff!
Martin Wolff: Guten Morgen!
Weyh: Philosophen schreiben ja manchmal ein bisschen verquast, vor allem, wenn sie sich an die eigene Zunft wenden. Bei Ihnen lese ich dagegen Sätze fast wie in Stein gemeißelt. Zum Beispiel, Zitat: "Menschen und Festungen lassen sich nur von innen gewinnen. Von außen lassen sie sich nur zerstören." Es geht - man merkt es sofort - um Konflikte, was sind Konflikte, wie entstehen sie, wie löst man sie. Fangen wir doch ganz bodenständig an: Was sind Konflikte?
Wolff: Das ist gleich die Gretchenfrage. Dabei ist es im Grunde genommen einfach: Konflikte sind Ordnungsvorstellungen. Man braucht dafür zwei, und ein Konflikt wird es dann, wenn Sie nicht einverstanden sind.
Weyh: Wenn dieser Konflikt entstanden ist, wie löse ich den? Ich gehe auf den anderen zu und sage, wir haben die und die unterschiedliche Sichtweise, wir verhandeln, ein Kompromiss wird gefunden und beide gehen glücklich oder beide gehen unzufrieden auseinander.
Wolff: Die Frage ist eine Suggestivfrage. Sie unterstellt erst mal, dass eine Lösung möglich ist, und damit wird auch das größte Problem deutlich: Wir gehen an Konflikte immer mit einem Wunsch ran, nämlich danach, wie es am Ende aussehen soll, idealerweise paradiesisch. Also friedlich, alle sind glücklich, alle haben sich lieb. Das ist ein wertvoller Wunsch, weil er ein Kompass ist, auch ein ethischer Kompass. Wie viel er mit der Realität zu tun hat, ist ein zweiter Blick, und dieser Blick fehlt meistens. Konflikte lassen sich lösen, aber jede Lösung hat ihren Preis, und das Wort Lösung ist nicht nur ein sympathisches.

"Man muss auch das Unangenehme denken"

Weyh: Ich bin in diesem Buch, das ein Fachbuch ist, ein wissenschaftliches Buch, allerdings sehr gut geschrieben, sehr gut lesbar, doch mehrmals an Stellen gekommen, wo ich dachte, dieser junge Mensch muss eigentlich ein bisschen Angst bekommen haben über das, was er da formuliert und denkt, während er das geschrieben hat. Da stehen dann so Sätze: "Gegen Gewalt hilft letzten Endes nur Gewalt. Die Fähigkeit, Kriege siegreich zu führen, steigert die Überlebensfähigkeit politischer Systeme." Das sind Sätze, die würde man in der Geschichte der Bundesrepublik in den letzten 50 Jahren so gar nicht denken wollen. Trotzdem denken Sie sie. Sie sind über eine Erkenntnis gestolpert.
Wolff: Ja, das ist richtig. Ich habe auch genau diese unangenehme Erfahrung gemacht, sowohl beim selbst arbeiten als auch dann im Gespräch und im Kontakt mit anderen. Da kommt nicht selten der Satz, sowas darf man doch nicht sagen. Das kann sein. Dürfen ist aber eine ethische Norm, und der Leitsatz, an dem ich mich orientiere, den haben Sie vorhin auch zitiert, man muss auch das Unangenehme denken, und eine konsistente Theorie hat ja die Aufgabe, nicht nur das zu überprüfen, was irgendwie Spaß macht und was gefällig ist, sondern auch unter jenen Stellen und Deckeln und Teppichen zu schauen, wo es unangenehm ist und sich dann die Frage zu stellen, was ist der Plan B, also was mache ich, wenn ich nicht an der Schönen-Wetter-Ethik bin, was mache ich, wenn es tatsächlich unangenehm wird. Dann möchte ich ja trotzdem handlungsfähig sein. Ich möchte trotzdem von meinen Fähigkeiten als Mensch zur Vernunft, zur Voraussicht, zum planungsvollen Handeln Gebrauch machen und nicht blind irgendwo hineinstolpern.
Weyh: Es geht Ihnen aber zunächst mal um die Erkenntnis. Sie wollen erst mal offenlegen, was sind die Grundbegriffe, mit denen wir zu tun haben, zum Beispiel der Grundbegriff der Überzeugung. Also es prallen - könnte man ja auch sagen - bei einem Konflikt immer zwei Überzeugungen aufeinander. Was ist denn überhaupt eine Überzeugung?
Wolff: Eine Überzeugung ist ein Mix aus Sozialisation, aus aktueller Befindlichkeit und aus so einem irreduziblen Rest, einem theologischen oder einem metaphysischen Kern, da, wo aller Spaß aufhört, wo alle sofort elektrisiert sind und auch keinen Schritt zurückmachen können. Wir haben zivilisatorisch versucht, all diese Punkte weitgehend zu entschärfen. Das ist uns auch meistens geglückt und sind dann auch immer sehr erschrocken, wenn wir einen dieser Punkte wiederfinden. Mein Lieblingsbeispiel sind die Schwangerschaftsabbrüche. Da geht es ans Eingemachte, da kann ich nicht ein bisschen entscheiden und ein bisschen hier und ein bisschen da machen, sondern ich habe eine Situation, an der der Eingriff unwiderruflich etwas verändert, und er verletzt bestimmte Güter, und ich kann mich nur entscheiden, welches der Güter ich verletzen möchte. Ich habe nicht den Luxus zu sagen, ich ziehe mich da aus der Affäre. Und das war auch die Motivation meiner Arbeit.
Mich hat es sehr geärgert, dass weitgehend alle Konflikttheorien oder alle Konfliktanalysen unterm Strich wunschgetrieben sind, sie sind hoffungsvolle Reden davon, wie es besser wäre, und sie unterstellen, dass Konflikte in der Regel Missverständnisse sind, und dann wird schon alles gut, wenn man sich nur gut genug versteht, wenn man nur gut genug miteinander redet. Viel tiefer, viel problematischer ist es doch, wenn Konflikte nicht das Ergebnis von Missverständnissen sind, sondern wenn Konflikte dann entstehen, gerade weil wir uns richtig verstanden haben, gerade weil ich die Überzeugung des anderen verstanden habe, ärgert sie mich so sehr, und weil er meine Überzeugung oder sie meine Überzeugung richtig verstanden hat. Deswegen sind wir doch im Streit, und dann führt mehr reden, mehr Verständnis auch zwingend zu mehr Konflikt. Dann hilft der Satz nicht, ihr müsst mal miteinander reden, und schon gar nicht der wirklich alberne Satz, redet doch mal vernünftig miteinander.
Weyh: Für das, was Sie jetzt sagen, müsste eine ganze Branche Sie hassen, nämlich die Branche der Mediatoren, die genau das sozusagen als Grundlage ihrer Arbeit hat.
Wolff: Darauf möchte ich nur diplomatisch antworten: Das kommt hin und wieder vor, dass das nicht immer auf Gegenliebe stößt.
Weyh: Ich zitiere Sie noch mal: "Der Streit ist ein Klärungsprozess, bei dem geklärt wird, welches Subjekt zum Teil der Umwelt des anderen wird, sich dessen Ordnung unterordnet und damit seine eigenen Ordnungsansprüche aufgibt." Das ist gnadenlos irgendwie. Also das sieht wirklich aus wie die vorzivilisierte Gesellschaft, wer unterwirft wen.

"Es geht um Über- und Unterordnungsverhältnisse beim Menschen"

Wolff: Das ist schade, dass das so aussieht, weil es gerade ein zivilisatorische Errungenschaft ist, diesen Prozess, neudeutsch würde man sagen, outgesourct zu haben. Wir haben ja das getan. Wir haben ein Über- und Unterordnungsverhältnis zum Staat. Das nennen wir Gewaltenteilung und Gewaltenmonopol, und das ist völlig klar, egal, wie ich persönlich das finde, ich darf nicht zu gewalttätigen Mitteln greifen, weil das Privileg dem Staat zukommt. Das definiert auch seine Hoheit. Das Verhältnis von Staaten untereinander zeigt ja an, was passiert, wenn so eine Instanz fehlt: Die haben sich nicht lieb. Es gibt bei Staaten keine Freunde, nur Interessen. Der Satz trifft zu. Es geht um Über- und Unterordnungsverhältnisse beim Menschen. Das hören wir nicht gerne. Das müssen Kinder erfahren, und Kinder müssen sich unterordnen. Das definiert Kindsein. "Juristisch nicht geschäftsfähig", das ist ein Unterordnungsverhältnis par excellence. Ich ahne, aus welcher Stelle Sie das entnommen haben, da versuche ich das mit Weihnachten deutlich zu machen. Wenn die Familie zusammenkommt, trifft man ja im ganz Kleinen immer wieder auf dieses Problem, wer hat das Sagen. Bei Weihnachten kommt nun die Familie zusammen, und die hübsch, fein und ordentlich getrennten Verhältnisse finden sich alle plötzlich auf einem engen Raum wieder, und dann ergibt sich die Situation, dass man seine Küche aufräumt, und die wird jeder auf die eine oder andere Weise kennen, und plötzlich ist die Küche anders angeordnet. Das ist ein ganz schlichter Ordnungsgedanke. Plötzlich ist das Salz nicht mehr da, wo es stehen sollte, plötzlich stehen die Tassen da, wo die Teller sein sollten, und das führt zu Weihnachten mit großem Enthusiasmus immer wieder zu Streit, und wenn man sich fragt, warum, dann ist die Antwort erst mal ganz schlicht, weil unterschiedliche Menschen mit dem gleichen Ordnungsanspruch denselben Ort versuchen anzuordnen, so wie es ihnen passt, ohne dass sie dafür immer die Erlaubnis, das Mandat haben. Meistens führt diese Ordnung dazu, dass der andere sagt, das darfst du gar nicht. Es ist meine Küche, ich darf ordnen.
Weyh: Das zeichnet Ihre Arbeit aus, dass Sie für eine wissenschaftliche Arbeit höchst ungewöhnlich immer wieder Beispiele aus dem praktischen Leben abbilden oder auch von "Star Wars" sprechen. Es gibt eine Methode, um Bücher zu überprüfen auf ihren Gehalt, das ist, den letzten Satz zu lesen, und der letzte Satz bei Ihnen ist - wirklich auch schwere Kost -, lautet: "Da bleibt kein Raum für Kompromisse." Sind Sie ein Pessimist?

"Wir unterstellen bei Diplomatie, dass das Gegenüber reden möchte"

Wolff: Nein, im Gegenteil. Ich bin sehr optimistisch. Ich glaube, sonst könnte man so etwas nicht tun oder man wird zynisch. Das ist schade, aber auch logisch. Wir haben die politische Situation in den letzten drei Jahren ja genau so erfahren: Was passiert, wenn ein US-Präsident eine rote Linie zieht und sie nicht mit einer Entscheidung und damit eo ipso Gewalt durchsetzt.
Weyh: Sie meinen jetzt Obama und Syrien.
Wolff: Ich meine Obama und Syrien. Das wird deutlich, dass dort die Worte von der Wirklichkeit entkoppelt werden. Die Worte werden nicht verwirklicht. Wir unterstellen ja, wenn wir Diplomatie machen wollen, dass das Gegenüber auch reden möchte. Wir müssen aber einen Plan B haben: Was passiert, wenn wir es mit jemandem zu tun haben, der das nicht möchte. Was mache ich, wenn mir jemand gegenübersteht, der nicht reden will, entweder, weil er das für doof hält oder aber, weil er sagt, du hast das Reden so lange geübt, du bist da sowieso besser als ich, ich wähle meine Mittel. An bestimmten Stellen merken wir, dass diese Streitigkeiten so erbittert sind, weil eben Kompromisse einfach nicht mehr vorliegen. Das ist zwingend. Wir können, wenn wir alles erschöpft haben, uns nur noch auf das zurückziehen, woran wir glauben. Das sind diese Ideale, und die sind dann auch nicht mehr verhandelbar, weil zu viel verlorengeht, und daraus erwächst dann dieser Satz "Da bleibt kein Raum für Kompromisse".
Weyh: Jetzt habe ich keinen Raum mehr für zeitliche Kompromisse. Ich danke Ihnen, Martin Wolff, für dieses philosophische Konsilium. Das Buch "Ernst und Entscheidung: Eine Phänomenologie von Konflikten" ist bei Nomos erschienen und so gut geschrieben, dass es auch Laien verstehen können. Allerdings kosten, wie bei Fachbüchern üblich, 364 Seiten stolze 74 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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