Martin Walser: "Statt etwas oder Der letzte Rank"

Über die Sprache hinaus

Der Schriftsteller Martin Walser
Handlung spielt keine Rolle mehr für den Schriftsteller Martin Walser. © dpa / picture alliance / Patrick Seeger
Von Jörg Magenau · 05.01.2017
Kurz vor seinem 90. Geburtstag erscheint das neue Buch von Martin Walser "Statt etwas oder Der letzte Rank". Er hat dabei jede Handlung hinter sich gelassen. Ein großer Wurf, urteilt unser Literaturkritiker: "Mehr geht nicht."
Man müsste, um dieses Buch zu besprechen (oder zu rühmen), eine neue Sprache erfinden. "Rühmen", zum Beispiel, ist schon falsch. Was soll man sagen über ein Buch, dessen Autor bedauert, dass er immer noch Sätze braucht?
"Erstrebenswert wäre gewesen: Satzlosigkeit. Ein Schweigen, von dem nicht mehr die Rede sein müsste."

Programmtipps: Der Roman wird auch um 23:05 Uhr in der Sendung "Fazit" vorgestellt und am 6.1.2017 ab 10:07 Uhr in der Sendung Lesart.

Wie das geht – in der Sprache zu Hause zu sein und zugleich über sie hinaus zu gelangen – darum geht es in "Statt etwas oder Der letzte Rank". Das ist nicht unbedingt die Summe eines Lebens, aber ein Zielpunkt des Schreibens.

Walser hat alles Handlungshafte hinter sich gelassen

Endlich hat Martin Walser alles Handlungshafte hinter sich gelassen. Schon in seinen vorigen Büchern schlotterte die Romanform wie ein durchscheinendes Mäntelchen um den Sprachkörper. Jetzt endlich entstehen die Sätze pur. Walser kann jetzt sagen:
"Ich wollte nichts mehr wissen, nur noch sein."
Das ist zugleich Erfüllung des Lebens wie auch Verabschiedung von der Welt.
Der Mann, der da spricht, starrt eine "leere, musterlose Wand" an. Das ist, wenn man so will, alles, was sich ereignet. Das Erstaunliche: Alle Themen Martin Walsers sind trotzdem vorhanden. Sie werden aber vom Geschichtlichen entschlackt und aufs Wesentliche reduziert.
Also, worum geht es? Um das Gewissen, das immer ein schlechtes Gewissen ist (sonst ist es keins). Um die Öffentlichkeit als Draußen-Welt und Draußen-Sprache, die mit ihren Ansprüchen und Urteilen dieses Ich unter Druck setzt. Es geht um das Geständnishafte, das immer dann auftritt, wenn es Sieger und Besiegte gibt.
Vor allem aber geht es immer wieder um Frauen (in unterschiedlichen Erscheinungsformen, also immer um diese oder jene konkret erscheinende Schönheit und darin zugleich um alle Frauen, die Frauheit schlechthin). Es geht um Erwartungen (denen nie entsprochen werden kann), um Sehnsucht (und um die Sehnsucht nach der Sehnsucht), um Schmerz (als Daseinssteigerung), um Glück und Unglück (was erstaunlicherweise dasselbe ist), um Einsamkeit und darin und dadurch und darüber hinaus: um die Sprache selbst, ohne die nichts wäre, am wenigsten wir selbst.

Das Buch hat so viele Kapitel wie das Jahr Wochen

Das Buch besteht aus 52 Kapiteln, so viele wie ein Jahr Wochen hat. Keine Passage ist länger als zwanzig Seiten, die kürzesten bestehen nur aus einem oder zwei Sätzen, so wie diese:
"Fühl dich so unwichtig, wie du bist. Wenn dir das gelingt, darfst du bersten vor Stolz."
Auch der Ausgangspunkt, aus dem sich alles Weitere ergibt, ist so ein einzelner Satz:
"Mir geht es ein bisschen zu gut."
Mal entstehen daraus kleine Geschichten oder Szenen, mal handelt es sich um Träume, meist aber sind es Gedankenpassagen, die auf Wahrheit zielen, ohne sich dabei aber zu Gewissheiten zu verfestigen. Denn:
"Wie soll es in einer Wörterwelt Freiheit geben, in der es Gewissheit gibt."
Wenn es heute noch eine Philosophie gäbe, die mehr wäre als das Herbeizitieren und Befußnoten von Sekundärtexten, dann könnte sie so sein wie dieses Buch. Es ist ein Denken in Bewegung, das aus der Empfindung heraus entsteht und Denken und Erleben als Einheit begreift. Es führt am Ende zur ultimativen Tautologie: "Ich bin, also bin ich." Das ist der Punkt, wo die Sprache anfängt zu tanzen oder: Der letzte Rank. Nichts mehr wissen, nur noch sein. Mehr geht nicht.

Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017
172 Seiten, 16,95 Euro

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