Martin Luthers Judenschriften

Die dunkle Seite der Reformation

Denkmal für den deutschen Reformator Martin Luther auf dem Marktplatz der Lutherstadt Wittenberg
Denkmal für den deutschen Reformator Martin Luther auf dem Marktplatz der Lutherstadt Wittenberg © dpa / picture alliance / Jens Wolf
Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 08.01.2016
Wenn demnächst 500 Jahre Reformation gefeiert werden, drängt sich auch die Frage nach Martin Luthers Antisemitismus auf. Zentrales Dokument seines Judenhasses ist die 1543 entstandene Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Welches Erbe hat Luther damit hinterlassen?
"Tod durch den Strang" lautet das Urteil. Obwohl Julius Streicher, der angeklagte Judenhetzer und Herausgeber des antisemitischen Schmierblattes "Der Stürmer" während des Nürnberger Prozesses bis zuletzt versucht hatte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Etwa mit dieser Aussage zu seinem Judenhass:
"Wenn Martin Luther heute lebte, dann säße er hier an meiner Stelle…"
Ganz von der Hand zu weisen war diese "Verteidigungsstrategie" wohl nicht. Es sei nicht auszuschließen, so der Göttinger Kirchenhistoriker Professor Thomas Kaufmann mit Blick auf Luthers "Judenschriften":
"Dass diese Schriften, die jahrhundertelang unbeachtet geblieben sind, eine unheilvolle Wirkung gerade im frühen 20. Jahrhundert und damit in der Vorgeschichte des Holocausts ausgeübt haben und damit so etwas wie Ermöglichungsfaktoren des eliminatorischen Antisemitismus der Nazis geworden sind."
Tatsächlich haben Luthers judenfeindliche Polemiken jahrhundertelang böse Früchte getragen. "Das schwere Erbe der Reformation", heißt es folglich auch heute noch unter Protestanten etwas ängstlich-verklemmt:
"Das ist das, was man von Luther sagen muss. Er ist ein schwieriger Reformator, weil er es heute den Menschen nicht leicht macht, ihn zu mögen. Es steckt zu vieles drin, was nicht gemocht werden kann."
Weil im Hintergrund immer die bedrückendste Hypothek evangelischer Glaubenstradition lauert: Martin Luthers Judenfeindschaft.
"Theologisch hat Luther das Judentum immer grundsätzlich abgelehnt. Für ihn leugneten und lästerten Juden ihren Messias Jesus Christus und somit das, was für ihn Ziel und Zentrum der Schrift beider Testamente ist."
Der Baseler evangelische Theologe Professor Ekkehard Stegemann:
"Juden sind für Luther ein verworfenes Volk, während die christliche Gemeinde an ihre Stelle getreten ist."
Zwei Hauptkritikpunkte am Judentum ziehen sich durch Luthers gesamte Theologie:
"Das eine ist der traditionelle Vorwurf, dass die Juden das, was in den Schriften, in den Prophetien angelegt sei nicht erkennen… dass dort doch deutlich drinstehe, wohin die Heilsgeschichte gehen werde und die Juden es nicht verstehen, dass sie blind sind. Das Zweite ist, dass sie dann mit den rabbinischen Schriften, mit den Talmudim, mit den Midraschim, mit allem was in der Zeit nach Zerstörung des Zweiten Tempels als mündliche Torah erschlossen wurde, sich auf den Weg des 'Irrglaubens' begeben haben."
Johannes Heil, Professor an der "Hochschule für Jüdische Studien" in Heidelberg:
"Und die Polemik gegen die Rabbinen und ihre Schriften ist auch extrem gezeichnet, weil er dort immer wieder klarmacht: die verführen die Juden und halten sie davon ab, dass sie die Wahrheit, wie Luther sie sieht, erkennen."
Drei große "Judenschriften" - manchmal wird noch eine vierte dazugerechnet - gibt es von Martin Luther:
"Unter 'Judenschriften' versteht man Texte, die sich ausschließlich mit einem Thema beschäftigen, nämlich der Frage des Verhältnisses zum Judentum, insbesondere der Bedeutung der Prophetien des Alten Testaments im Verhältnis zu Jesus von Nazareth."
Theologische Belehrung und Ermahnung
Die erste dieser Schriften "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" erscheint 1523. 1538 folgt "Wider die Sabbather" und 1543 seine bösartigste Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Bei allen Schriften handelt es sich nicht um einen Dialog oder einen Gedankenaustausch, sondern um eine theologische Belehrung und Ermahnung christlicher Adressaten:
"Die Schriften sind allesamt darum bemüht, nicht im Gespräch mit den Juden, im Gegenüber zu den Juden zu demonstrieren und den exegetischen Nachweis zu führen, dass alttestamentliche Passagen auf Jesus von Nazareth deuten und in Jesus erfüllt wurden. Das Ziel der Schriften besteht also im Grunde darin, das Alte Testament als Buch der Christen in Anspruch zu nehmen und den Nachweis zu führen, dass in Christus die Verheißungen des Alten Testaments erfüllt sind."
In Luthers erster Schrift "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" plädiert der Reformator noch dafür, die Juden freundlich zu behandeln und sie in die Gesellschaft aufzunehmen. Scharf geißelt er die Gräuelpropaganda von Ritualmord- und Brunnenvergiftungsvorwürfen und die daraus resultierenden Verfolgungen und Vertreibungen. Insgesamt schlägt diese Schrift einen für ihre Zeit ungewöhnlichen neuen Ton im Blick auf das christlich-jüdische Verhältnis an.
Und doch hat dieser "neue Ton" seinen Preis: Der Reformator fordert die Bekehrung der Juden zum Christentum. Als aber diese Hoffnung unerfüllt bleibt, wird Luthers Ton schärfer, schlägt in Anklage und Diffamierung um:
"Diese hochgeschraubte Bekehrungserwartung, mit der Luther 1523 startet hat dann natürlich die ausbleibende positive Resonanz der Judenheit als umso finstere Verstockung erscheinen lassen."
1538 verfasst er den Brief "Wider die Sabbather". Darin führt er die "Verstocktheit" der Juden gegenüber der Messianität Jesu als Grund an, warum das jüdische Volk schon seit 1500 Jahren im Exil leben und immer noch auf den Messias warten muss.
Die Wende zum offenen Judenhass vollzieht Martin Luther 1543 mit seiner dritten "Judenschrift": "Von den Juden und ihren Lügen". Es ist das zentrale Dokument Lutherscher Judenfeindschaft, seine härteste, kompromissloseste und hasserfüllteste Schrift, die mit den infamsten Vorwürfen, den übelsten Verleumdungen:
"Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen."
Sieben "Ratschläge", wie mit den Juden zu verfahren sei, gibt Luther:
"Dass man ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anstecke… dass man auch ihre Häuser desgleichen abbreche oder zerstöre… dass man ihnen nehme all ihre Betbüchlein… dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren… dass man ihnen Geleit und Straße ganz und gar aufhebe… dass man ihnen nehme alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold und lege es beiseite zum Verwahren… dass man ihnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen."
Kein Bruch in Luthers Anschauungen
Zwischen dieser Schrift und Luthers im Ansatz eher "versöhnlicher" Abhandlung von 1523 liegen 20 Jahre. Und doch gibt es - allem Anschein zum Trotz - keinen Bruch in seinen Anschauungen, sondern eine Kontinuität:
"In seiner theologischen Haltung gegenüber den Juden ist er immer konstant geblieben. Die sind als Juden verworfen - daran hat sich nie etwas geändert."
Das Thema "Juden", so hat auch der niederländische Kirchenhistoriker Heiko Augustinus Oberman klargestellt, sei "keine schwarze Sonderseite" in Luthers Werk, sondern "zentrales Thema seiner Theologie". Und sein deutscher Kollege Klaus Wengst sekundiert:
"Die judenfeindlichen Äußerungen Luthers, wie sie sich etwa in seiner Schrift 'Von den Juden und ihren Lügen' finden, sind nicht etwa bedauerliche Verirrungen eines enttäuschten und altgewordenen Mannes, sondern geradezu zwanghafte Folgerungen aus seinem theologischen Zentrum. Danach sind die Juden, solange sie Juden bleiben, Gottesleugner. Ihre Gotteslästerung besteht darin, dass sie Jesus nicht akzeptieren - also schlicht in ihrer Existenz als Juden."
Seine grundlegend negative Haltung gegenüber den Juden hat der Reformator also höchstens nuanciert, aber nie revidiert. Es ist eine Haltung mit weitreichenden Folgen:
"Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden."
Der evangelische Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach im Vorwort zu seiner Schrift "Martin Luther und die Juden - Weg mit ihnen."
Die Judenfeindschaft, so schreibt der Luther-Biograf Heinz Schilling, wurde zum rassistischen Antisemitismus, als im 20. Jahrhundert lutherische Bischöfe der "Deutschen Christen" die antisemitische Rassetheorie der Nationalsozialisten übernahmen und auch die Taufe nicht mehr als Zeichen brüderlicher Einheit gelten ließen.
Martin Luther und die Juden. Das schwere Erbe, die Erblast der Reformation. Der schwarze Schatten auf dem Bild des Reformators bleibt - auch mit Blick auf den 500. Jahrestag des Geschehens zu Wittenberg.
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