Martin Luther in zwei englischen Biografien

Ein Gläubiger und Zorniger, der aus dem Ruder lief

Der Reformator Martin Luther in einer Darstellung von Lukas Cranach.
Der Reformator Martin Luther in einer Darstellung von Lukas Cranach © dpa/picture-alliance/epd-Bild Norbert Neetz
Von Paul Stänner · 18.11.2016
Was wurde aus Luther in einer Zeit, deren Veränderungen er selbst mit ausgelöst hatte? Lynda Roper versucht den Reformator in "Der Mensch Luther“ psychologisch zu ergründen. Andrew Pettegree beschreibt in "Die Marke Luther", wie der Theologe mit Hilfe des Buchdrucks seine Wirkungsmacht entfaltete.
In diesem Buch werden Luthers emotionale Wandlungen skizziert, ausgelöst durch die religiösen Umwälzungen, die er selbst in Gang gesetzt hat.
Gewöhnlich schaut man: Wie tickt eine Person, die eine so gewaltige Bewegung wie die evangelische Reformation lostritt? Was sind ihre seelischen Voraussetzungen? Lyndal Roper geht den anderen Weg: Sie will wissen, wie sich Martin Luther im Strom der Reformation, die er ausgelöst hatte, veränderte.
Lyndal Roper ist Australierin, stammt aus einem presbyterianischen Pfarrhaus - jedenfalls so lange, bis ihr Vater die Kirche verließ - und studierte in Deutschland. Sie sagt von sich, sie sei keine Kirchenhistorikerin, sondern eine Religionshistorikerin, die von der Sozial- und Kulturgeschichte und der Frauenbewegung geprägt sei.
Ich will wissen, wie ein Mensch des 16. Jahrhunderts die ihn umgebende Welt wahrnahm. Insbesondere interessiere ich mich für Luthers Widersprüche.
"Der Mensch Martin Luther" ist ihr Thema, und da sind insbesondere die psychischen und psychosozialen Verwerfungen in der Persönlichkeit des Reformators von Gewicht. Roper schreibt, gleich mit dem Anschlag der Thesen an der Wittenberger Schlosskirche habe Luther sein Talent unter Beweis gestellt, mit einer spektakulären Inszenierung auf sich aufmerksam zu machen.
Was motivierte Martin Luther zu seinem Rebellentum?
Und damit stellt sich eine der spannendsten Fragen in der Flut der Luther-Bücher, die derzeit mit nicht absehbarem Ende über uns hereinbricht: Was brachte den bis dahin unbekannten Doktor an einer marginalen Universität am Rande der intellektuellen Welt dazu, mit einem Knall an die Öffentlichkeit zu gehen und die Aufmerksamkeit von einfachen Menschen, Fürsten, Kaiser und Papst auf sich zu lenken? Roper schildert uns Luther als einen zutiefst gläubigen Menschen mit einer starken Furcht vor einem strafenden Gott, dessen Forderungen er nicht genügen würde.
Ich aber, der ich mich vor Gott als einen Sünder befand und ein sehr unruhiges Gewissen hatte, liebte den gerechten Gott nicht, der die Sünder straft, ja, ich hasste ihn.
Dem angsterfüllten Luther steht ein zorniger Luther gegenüber, der einen wütenden Aufstand gegen die - wie er sie sah - verkommende römische Kirche startete. Stets aufs Neue wurden von der katholischen Kirche Sünden-Ablässe aufgelegt, um Geld für unterschiedliche Zwecke zu sammeln - für den Kampf gegen die Türken, für den Bau des prachtvollen Petersdoms und so weiter. Fegefeuer und Hölle drohten, wenn man ohne gültigen Ablass starb. Um das Geschäft zu befeuern, wurden für die Zeit der neuen Ablässe die früheren Ablässe ausgesetzt. Um also fortlaufenden Versicherungsschutz zu gewährleisten, musste der Sünder in aktuell laufende Ablässe einzahlen, bis die früheren wieder in Kraft traten.
Kein Wunder, dass Luther wie viele andere in Rage geriet über solche Praktiken. Dieser Angriff gegen Rom, ausgeführt von einem Dr. Martin Wie-war-der-Name? war mit hohen Risiken verbunden. Luther war ängstlich, war wütend und mutig.
Ein Erfolgsmensch, der Risiken einging
Den Aushang seines Thesenpapiers an der Kirchentür - was damals ein ganz und gar alltägliches Verfahren war, um eine inneruniversitäre Diskussion anzuzetteln - muss Luther als Befreiungsakt erfahren haben. Zum einen, weil er die Geldschneiderei des Ablasshändlers Tetzel angreifen konnte, zum anderen, weil ihm dieser Angriff die Möglichkeit gab, ein neues Verhältnis zu seinem Gott aufzubauen. Dabei - und darauf weist Roper ausführlich hin - war er durchaus bereit, das nicht unwahrscheinliche Schicksal eines Märtyrers auf sich zu nehmen, der für seine Überzeugungen in den Tod gehen muss.
Dazu gleich zwei Einschränkungen Ropers: Zum einen machte Luther seine Anhänger gleich darauf aufmerksam, dass er dies für sie tue. Das heißt, er schlüpfte in die Rolle Christi, der sich für die Welt opfert. Aber gleichzeitig, betont Roper, er habe dieses Schicksal nicht forciert.
Wozu auch, Luther wollte den Erfolg.
Der Aufrührer stand unter enormem Druck. Er war der Kopf einer Bewegung, die das Reich erschütterte. Er hatte mächtige theologische und politische Feinde. Er musste sich mit den Abweichlern auseinandersetzen, die wie Thomas Müntzer als Anführer eines Bauernaufstandes sich auf ihn beriefen und eine Bibelinterpretation entwarfen, die Luther aus seiner Sicht nicht gutheißen konnte. In späteren Revolutionen würde man dies als den Kampf der Flügel bezeichnen. Und Luther war sich nicht zu fein dazu, dem linksradikalen Müntzer den Tod zu wünschen, den der dann auch erleiden musste. Luther wurde immer radikaler:
Sein bemerkenswerter Mut und seine Zielstrebigkeit schufen die Reformation; seine Verbohrtheit und sein Vermögen, Gegner zu dämonisieren, hätten sie beinahe zerstört.
Die Verquickung von Angst und Zorn
Roper schildert eine innere Dynamik, die aus Angst und Zorn entstanden war und in der sich Luther immer stärker dogmatisierte und radikalisierte. Er war ganz offensichtlich davon überzeugt, einer göttlichen Mission zu dienen, die nur er erfüllen konnte. Er war ein harter Schädel, sicherlich nicht leicht im Umgang. Vor manchen Auffälligkeiten, zum Beispiel dem wütenden Judenhass Luthers, steht Roper offenbar selbst fassungs- und erklärungslos. Es scheint, als sei hier ein großer Zorniger ohne Korrektiv schlichtweg aus dem Ruder gelaufen.
Ropers Buch ist eine sehr kleinteilige, mit großer Erzählfreude geschriebene Darstellung der Reformation. Aber sie bringt nicht die erhofften psychologischen Erläuterungen - sieht man einmal von der routiniert vorgebrachten Auseinandersetzung mit dem biologischen Vater und Haushaltsvorstand ab und all den nachfolgenden geistigen Vätern, an denen sich Luther rieb. Aber solche Hinweise sind mittlerweile als standardisierte Textbausteine vorrätig und bringen den Leser auch nicht weiter.
Noch ein wichtiger Hinweis. Roper schreibt über Dr. Martin Luther:
Die Art und Weise, wie er den Buchdruck einsetzte, war taktisch brillant: Niemand hatte bis dahin den Buchdruck mit einer so verheerenden Wirkung genutzt.
"Den Buchdruck verheerend genutzt" - auf diese Bewertung muss man erst einmal kommen!
Andrew Pettegree betrachtet den Manager Luther
Auf Lyndal Ropers Leseliste steht auch Andrew Pettegree, unser nächster Autor. Er erzählt Genaueres über die verheerende Nutzung des Buchdrucks durch Martin Luther. Andrew Pettegree ist am berühmten St. Andrews College in Schottland Spezialist für spätmittelalterliches Schrifttum. "Die Marke Luther" ist der Titel seines Buches. Er interessiert sich dafür, wie der Rebell Luther es geschafft hat, sich zu einer Marke zu stilisieren. Branding nennt man das in der Sprache des modernen Marketing.
Als Luther in Wittenberg seine Thesen an die Schlosskirchentür nagelte - manche behaupten, er leimte -, gab es in Wittenberg nur einen Drucker, der schlecht geschnittene Lettern besaß und keine Ahnung hatte vom Layout. Luthers Thesenpapier war ein Blatt mit zusammengequetschten, kaum lesbaren Zeilen. Aber Luther, dessen Vater Unternehmer war, wusste seine Revolte zu managen. Ihm war klar, er musste, um Wirkung zu erzielen, bekannt werden.
Und er musste sich einen Namen machen, um sich selbst zu schützen. Es ging ihm nicht anders als vielen Dissidenten heute: Berühmtheit verleiht einen gewissen Schutz. Also ging Luther dazu über, auf deutsch zu schreiben, um aus den lateinisch sprechenden akademischen Zirkeln heraus zu kommen. Seine Flugschriften wurden im deutschsprachigen Raum verkauft und von den Druckern an anderen, bedeutenderen Orten wie Nürnberg, Frankfurt, Basel nachgedruckt. Auch wenn dann etwas freihändig mit dem Wort des Reformators umgegangen wurde: Der Name wurde zur Marke.
Gewöhnlich besaßen diese Flugschriften ein klar gegliedertes Titelblatt, das Thema und, in Luthers Fall, den Autor der Schrift nannte. Das war wichtig … Luthers Name wurde eigens aufgeführt, weil es ein gewichtiges Verkaufsargument darstellte.
Luther und Cranach agierten wie moderene Unternehmer
Luther wusste, dass er auf die neue Technologie angewiesen war. Wittenberg war ein verschlafenes Nest, bot aber großes Potential, das Luther zu nutzen verstand. Er selbst als unermüdlicher Textproduzent tat sich zusammen mit der Unternehmerpersönlichkeit Lucas Cranach, dem Älteren.
Cranach hatte mit seinen Angestellten einen bilderproduzierenden Betrieb, ihm gehörte das größte Haus am Platz. Er brauchte Papier, also kaufte er Papiermühlen. Das Papier musste transportiert werden, also baute er ein Transportunternehmen auf. Cranach stellte auch die Räumlichkeiten zur Verfügung, als ein weiterer, geschickterer Drucker in Wittenberg seine Arbeit aufnahm. Andere kamen hinzu weil Luther sie anzog. Luther achtete darauf, dass von seiner Produktion alle Druckereien leben konnten. Andererseits kontrollierte er penibel das Schriftbild und den Satz der Drucke und auch - was immer wichtiger wurde - die Gestaltung durch die Holzschnitte Cranachs.
In der Werkstatt entstanden die berühmten Porträts, die Luther allein, mit seiner Frau Katharina von Bora, und mit Melanchthon zeigten. Diese Werkstattarbeiten waren zwar nicht alle von höchster Qualität, spielten aber eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Ikonografie der Reformation.
Rom begriff die Medienrevolution nicht
Die katholische Seite verschlief den Trend zur Massenkommunikation. Sie sprach Latein, blieb in den Zirkeln der Theologen und weltlichen Herrscher und vertraute auf die traditionelle Kanzelpredigt von oben herab.
Pettegree weist darauf hin, dass auch Luther erkennen musste, dass die bequeme und weitreichende Errungenschaft des Buchdrucks sich auch gegen ihn richten konnte. In seiner Schrift "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern", einer blutrünstigen Verwünschung der aufständischen Bauern von 1525, heißt es:
Darum soll hier zerschmeißen, würgen und stechen heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch. Wie wenn man einen tollwütigen Hund totschlagen muss: Schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir.
Was der Reformator hier empfiehlt, um die Bauern in ihrem Elend zu halten, hätte wenige Jahre zuvor auch ihm als "aufrührerischen Menschen" gelten können. Jetzt, da er sich einigermaßen etabliert und unter den Mächtigen seine Unterstützer gefunden hatte, konnte er es sich leisten, seine konservativen Vorstellungen von der gesellschaftlichen Ordnung brutal zu propagieren. Pettegree schreibt:
Luthers katholische Gegner spürten zweifellos, dass diese Schrift Luther ebenso verurteilte wie die Bauern,
weshalb sie die Hetzschrift ihres reformatorischen Erzfeindes massenhaft verbreiteten. Je mehr das lasen, desto mehr mochten sich von Luther abwenden.
Zwei lesenswerte Bücher
Anhand von Luthers Biografie und der Geschichte seiner Reformation schreibt Pettegree Wirtschafts- und Kommunikationsgeschichte. Man könnte etwas kühn diese Geschichte der asymmetrischen Kommunikation, mit der eine Revolte die Öffentlichkeit eroberte und entflammte, als Blaupause ansehen für moderne Technologien, etwa die Bedeutung von SMS und Twitter für die Arabellion oder des Internets mit Handykameras und Blog-Reportagen für den Bürgerkrieg in Syrien.
Luther, der schon für seine Theologie ausgetretene Pfade verlassen hatte, war auch in Fragen der Kommunikation ein Reformator, einer, der eine neue Idee in ihrer ganzen Dimension begriffen hatte.
Beide, Lyndal Roper wie Andrew Pettegree, beschreiben das 16. Jahrhundert und Luthers Wirken in diesem Umfeld. Und beides sind gute, breit angelegte Bücher. Roper ist stärker auf die Persönlichkeit Luthers ausgerichtet. Pettegree legt das Schwergewicht auf einen besonderen Akzent, nämlich die Wirkungsmacht einer Person und einer Bewegung, die ihr Kraftzentrum an der Peripherie nur verlassen konnte durch die Nutzung modernster Kommunikationstechnologie.

Lyndal Roper: "Der Mensch Luther"
Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller
S. Fischer Verlag, 739 Seiten, 28 Euro
Andrew Pettegree: "Die Marke Luther"
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
Insel Verlag, 450 Seiten, 26 Euro