Marquis de Sade

"Er wollte Menschen in Extremsituationen erforschen"

Ein Gipsabdruck des Totenschädels des Marquis de Sade ist neben älteren Ausgaben der Werke "Justine" (1801), "Juliette" (1797) und "L'union des arts ou les ruses de l'amour" (1810) zu sehen.
Ein Gipsabdruck des Totenschädels des Marquis de Sade ist neben älteren Ausgaben der Werke "Justine" (1801), "Juliette" (1797) und "L'union des arts ou les ruses de l'amour" (1810) zu sehen. © AFP / Joel Saget
Moderation: Joachim Scholl · 22.07.2014
Das Werk des Marquis de Sade ist eine Orgie gewalttätiger Pornographie, von Bestialitäten, von Lustmorden. Man könne de Sades Werke aber auch anders lesen, meint der Historiker Volker Reinhardt, der jüngst eine Biografie des berüchtigten Marquis veröffentlicht hat.
"Man kann die pornografischen Elemente, die endlos aneinandergereihten Menschenzerfleischungsszenen, so makaber das vielleicht auch klingt, als eine Form des schwarzen Humors, als einen argumentativen Brandbeschleuniger lesen, um philosophische Thesen, um Bilder vom Menschen zu lancieren. Wir sollten nicht vergessen, es ist Literatur. Es ist sogar vielfach gebrochene Literatur."
De Sades Texte seien nicht als Gebrauchsanweisungen für das eigene Leben gedacht, betonte Reinhardt.
"Er war ein leidenschaftlicher Experimentator mit Menschen, er hat Orgien in allen hetero- und homosexuellen Kombinationen organisiert, aber er sah sich letztlich als ein Galilei der menschlichen Seele. Er wollte Menschen in Extremsituationen erforschen und hat das im Leben auch recht extrem, bis an die Grenze der Lebensgefahr gemacht. Er hat allerdings einen Trennstrich im Vergleich zu seinen literarischen Monstern gezogen: Ich bin kein Mörder! Im Gegenteil: ich habe vielen Menschen das Leben gerettet."
De Sade habe sich selbst als einen "Galilei der menschlichen Seele" gesehen und mit seinen Lesern ein "Katz-und-Maus-Spiel" gespielt:
"Er warnt seinen Leser regelrecht. Du weißt, was kommt. Stell dich drauf ein und frage dich, warum Du weiterliest. Könnte es vielleicht doch sein, dass dich diese Thematik stärker fasziniert, als du wahrhaben willst?"
Einen Grund für die entfesselte Grausamkeit in de Sades Werken sieht der Historiker darin, dass de Sade bereits mit knapp 16 Jahren Offizier geworden sei – "heute würde man vielleicht sogar Kindersoldat sagen" und den ganzen siebenjährigen Krieg mitgemacht habe.
"Er hat von Leichen besetzte Schlachtfelder gesehen und er hat daraus eine Konsequenz gezogen, die man zu oft überlesen hat. Nach seiner ersten Orgie steht im Polizeiprotokoll, er habe zu seinem Opfer gesagt: 'Es gibt keinen Gott. Ich habe es selbst erlebt.' Das, würde ich sagen, sind Grunderfahrungen. Es ist ein Leben auf der wilden Seite des Lebens, ein Hochrisikoleben."
Außerdem spiegele seine Haltung einen "aristokratischen Radikalismus" wider, mit dem dieser sich in einer bürgerlichen Kultur profilieren wolle:
"De Sade lebt als Aristokrat in einem bürgerlich dominierten Jahrhundert. Moral, Literatur, alles ist bürgerlich besetzt."
"120 Seiten feinste Gutmenschen-Utopie"
Das Werk von de Sade biete jedoch viele Anknüpfungspunkte, so Reinhardt weiter: Wenn man einzelne Gedankengänge isoliere, könne man darin sogar menschheitsbefreiende Utopien finden.
"Er hat eine wunderbare, lichterfüllte Südsee-Tahiti-Utopie verfasst, wie man tolerant leben kann, auch Menschen mit extrem abweichenden Neigungen integrieren kann. Das gibt es auch: 120 Seiten feinste Gutmenschen-Utopie".
De Sades Roman "Aline et Valcour" sei "nicht pornografisch nach heutigen Kriterien, ab 12 oder ab 16, glaube ich, kann man das lesen", so Reinhardt.
"Der Roman endet mit einem Unhappy End, das sollte jede Leserin, jeder Leser wissen. Aber er ist vielleicht das Meisterwerk des Marquis."

Volker Reinhardt: "De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie"
Verlag C.H. Beck 2014
464 Seiten, 26,95 €

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