Marlene Dumas Retrospektive

Treffsichere Pinselstriche

Eine Besucherin betrachtet am 27.6.2014 die Serie "Great Men" der niederländischen Künstlerin Marlene Dumas bei der "Manifesta 10" in St. Petersburg, Russland: Porträts von berühmten homosexuellen Künstlern und Kulturschaffenden.
Ihre Porträtserie homosexueller Künstler "Great Men" für die "Manifesta 10" in St. Petersburg hat Marlene Dumas für die Retrospektive fortgesetzt. © picture-alliance / dpa / Anatoly Maltsev
Von Kerstin Schweighöfer · 05.09.2014
Diese Retrospektive war überfällig. Das Amsterdamer Stedelijk Museum zeigt 200 Gemälde und Zeichnungen der Wahl-Niederländerin Marlene Dumas, die nicht nur das Publikum bewegen. Auch sie selbst sei emotional berührt, gesteht die Künstlerin.
Der Blick des kleinen Mädchens ist misstrauisch, fast schon böse. Fünf Jahre mag es alt sein, vielleicht auch sechs. Frontal steht es da. Nackt, mit verschmierten Händen. Seine linke Hand ist dunkelblau, die rechte blutrot. Normalerweise sind kleine Mädchen lieb und niedlich. Dieses hier nicht. Was in aller Welt hat es verbrochen? Wie so oft bei den Werken von Marlene Dumas beschleicht den Betrachter ein unheimliches, beklemmendes Gefühl.
Beim Lesen des Titels atmet so manch einer erleichtert auf. "The Painter" heißt dieses Gemälde aus dem Moma in New York, "der Maler". Als Vorlage diente der heute 61-jährigen Künstlerin wie immer ein Foto, in diesem Falle eines ihrer Tochter Helena, erklärt Leontine Coelewij, Kuratorin der großen Dumas-Retrospektive im Amsterdamer Stedelijk:
"Marlene Dumas spielt gerne mit Traditionen, auch hier. Maler sind meistens Männer, die Frauen malen. In diesem Falle ist der Maler nicht nur weiblich, er ist ein Kind. Es ist wunderbar gemalt, dieses Bild, in schnellen treffsicheren Pinselstrichen, dünn und blass, wie sie für Dumas typisch sind. Nur bei den Händen ist die Farbe dicker aufgetragen. Und bunt. Denn auf die Hände kommt es an."
Bleiche Modelgesichter
Die Ausstellung ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern thematisch: So wird ein ganzer Saal Darstellungen von Babies und Kindern gewidmet wie dem "Painter". In einem anderen hängt die berühmte Modelserie: Hundert auf Papier gemalte Porträts, auf denen Dumas Fotomodelle auf bleiche, dem Betrachter schutzlos ausgelieferte Gesichter reduziert. Der nächste Saal zeigt Männerporträts wie das 2010 entstandene Bild von Osama Bin Laden, dessen sanfte feminine Züge die Künstlerin fasziniert haben.
Ältestes Werk ist eine Zeichnung, die Dumas auf ihrer allerersten Ausstellung 1978 gezeigt hat, einer Gruppenschau, ebenfalls im Stedelijk: eine Topfpflanze und darüber die Worte: "I will never have a potplant" – "Niemals werde ich mir eine Zimmerpflanze anschaffen." Die Arbeit entstand zwei Jahre nachdem sie Kapstadt verlassen hatte, um ihr Studium in Holland fortzusetzen. Und zu entdecken, dass die als ach so progressiv geltenden Holländer sich gerne spießige Zimmerpflanzen auf die Fensterbänke stellten.
"Ich hatte Heimweh, ich war unglücklich", erinnert sich die warmherzige temperamentvolle Künstlerin mit dem dunkelblonden Wuschelkopf im Gespräch mit Deutschlandradio:
"Retrospektiven sind immer eine sehr emotionale Sache. Ich war damals 23, fühlte mich heimatlos und hatte wie so viele in meinem Alter feststellen müssen, dass ich die erste große Liebe meines Lebens wohl nie heiraten würde. Alle meine Arbeiten haben immer auch etwas Biografisches. Es berührt mich schon, so viele von ihnen hier zusammen zu sehen, man darf sich nichts anmerken lassen, aber es ist schon sehr emotional für mich!"
Vorlagen aus Hollywood
Fast die Hälfte aller Arbeiten stammt aus Privatbesitz, darunter das Schlüsselwerk "The Image as Burden"- "das Bild als Last", nach dem die Schau benannt ist. Es zeigt einen Mann, der eine Frau auf den Armen trägt. Als Vorlage diente eine Szene aus einem Hollywoodfilm mit Greta Garbo. Aber das Bild erinnert auch an Pieta-Darstellungen, an Maria mit dem Leichnam von Jesu Christi. Und an aktuelle Bilder aus den Medien, von Verletzten und Toten in Krisengebieten, so Kuratorin Coelewij:
"Der Titel verweist auf die Verantwortung, die der Künstler auf sich nimmt, wenn er ein Bild schafft: Ein Negativimage lässt sich so leicht nicht mehr abschütteln. Und ein unerwünschtes Bild aus dem Internet nicht mehr entfernen. Wie so oft bei Dumas hat auch dieses Werk mehrere Schichten, das ist ihre Stärke, sie kann etwas aus dem ursprünglichen Kontext holen und ihm eine universellere Bedeutung geben."
Das Archiv der Künstlerin ist inzwischen auf Tausende von Fotos und Abbildungen angeschwollen. Den Überblick, gibt sie lachend zu, habe sie längst verloren:
"Ich bin nicht Gerhard Richter, den nenne ich gerne als Vorbild, weil er so organisiert ist. Oder Gilbert & George, die finden in ihrem Archiv auch alles zurück. Ich nicht, bei mir herrscht totales Chaos!"
Porträts schwuler Künstler
Disziplin allerdings hat sie. Und konnte das Stedelijk mit sechs neuen Zeichnungen überraschen, die in den letzten zwei Wochen entstanden. Eine Fortsetzung der Serie, die sie derzeit in St. Petersburg auf der Manifesta zeigt, um gegen Putins Anti-Homogesetze zu protestieren. Mit Darstellungen berühmter schwuler Künstler. Diese Serie hat sie um sechs erweitert, darunter Rudolf Nurejew und Oscar Wilde:
"Stress hat mir das nicht beschert, es sind Zeichnungen, keine Gemälde, ich zeichne ständig, das ist eine Art Therapie für mich. Ich arbeite gut unter Zeitdruck, ich kann bloß nicht auf Kommando arbeiten, das ist ein Unterschied. Ich muss spüren, dass ich frei bin."

Die Ausstellung "The Image as Burden" mit Gemälden und Zeichnungen von Marlene Dumas ist vom 6. September 2014 bis 4. Januar 2015 im Stedelijk Museum Amsterdam zu sehen.

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