Mark Twain

"Berlin hat mich im höchsten Grade überrascht"

Von Claus-Stephan Rehfeld · 16.10.2014
Fünf Monate lang ließ sich der US-Schriftsteller Mark Twain mit seiner Familie in Berlin nieder. Seine Beobachtungen aus den Jahren 1891/92 hat er notiert und später veröffentlicht. Unser Autor hat sie gesichtet.
Moment mal, ist das nicht der - der Beschreibung nach müsste er es sein: "Auffallende Kleidung … flotter Mann … ungewöhnlich schöne Erscheinung. Den mächtigen Kopf mit den starken männlichen Zügen krönt ein prachtvoller, üppiger Schopf schneeweißer Haare." (1) Die Zigarre, der struppige Schnurrbart, diese gewaltigen Augenbrauen - und dann dieser Blick.
Also der Mann hat Humor! Kommt aus Amerika nach Berlin. Im Winter! Stehen in Berlin neuerdings Öfen, die einen innerlich erwärmen?
Nun, der Herr ist auf der Flucht, der Herr Clemens alias Twain. Die Schulden drücken ihn – der teure Haushalt daheim, der Kredit für eine neuartige Setzmaschine. Da bekommt man sogar im schönen Connecticut kalte Füße. Nun, in Berlin will er sie sich wärmen. Auf einer Lesereise, Vorlesereise, und mit Vorträgen, und mit Berichten darüber, um die Schulden zu tilgen. Ja, bei solcherart Problemen kann einem sogar in Berlin im Winter warm ums Herz werden.
Ach ja, bevor wir es vergessen - der Meister im Gespräch mit dem Teufel, der weiß, was ein gutes Feuer ist. Da: "Der Berliner Ofen ist der beste, den ich je gesehen habe." (2)
Mitten unterm ansässigen "Adel"
Seit dem 15. Oktober 1891 ist die Familie Clemens in der Stadt. Hier, sehen Sie, das Berliner Adressbuch von 1892, sein erstes Quartier: "Clemens, S.L., Privatier, W, Körnerstraße 7, I". (3) Clemens, Samuel Langhorne, Privatier, West, heute Tiergarten, Körnerstraße 7, 1. Etage. Als das Adressbuch erscheint, logiert er bereits andernorts. Unter den Linden Nr. 3, im Hotel Royal. Warum? Na, Sie haben gut fragen! Die Körnerstraße outete sich als "rag-pickers paradise" (4), als "Paradies der Lumpensammler".Notiert Twain! Und hat schon eine Berlin-Geschichte am Wickel: "Ein Ort, angemessen für Götter", lobpreist der Vermieter. "Aber sehen die Häuser nicht ziemlich gewöhnlich aus?" - "Oh, ist ihnen das auch aufgefallen?", antwortet der Schuft von Vermieter, das sei "bloß eine Marotte des (ansässigen) Adels." (5)
Ha! Am 01. Dezember widmet ihm die Behörde einen Steuerbescheid. 48 Mark und 40 Pfennige Gemeinde-Einkommensteuer. Die Herren in der Steuer-Annahmestelle An der Apostelkirche 7 D warten. Am 30. Dezember überreicht der Vollziehungsbeamte in der Körnerstraße Nr. 7 einen "Mahnzettel". Und der damit Bedachte? Er zieht dann mal um, am nächsten Tag, nimmt Quartier im Hotel Royal, (5) "Vornehmstes Haus", Unter den Linden / Ecke Wilhelmstraße. (6)
"Wie lange gedenken Sie, in Berlin zu bleiben?" möchte ein Reporter im November wissen. "Bis Eure Steuern mich wieder hinaustreiben", lautete Twains Antwort, langsam und bedächtig. (7)
Und dann noch die zwölf Mark Kirchensteuer, die zu berappen seien - obwohl er doch nur ein Mal in der Kirche war. Ein zweiter Besuch - bei den Eintrittspreisen? "Ich kann mir religiöse Belehrungen zu diesen Preisen nicht leisten. Nur die Reichen können hier erlöst werden." (8)
Twain gibt den Twain
"Niemals, außer vielleicht bei Julius Stettenheims Tischreden, habe ich derartige Lachsalven gehört, wie sie hier nach jedem Satz erschollen." (9)Von Herren Beaulieu stammt diese Feststellung, die er am 14. Januar 1892 ins "Berliner Tageblatt" setzen lässt. Twain gibt gerne den Twain in Berlin. Am 13. Januar in der Berliner Wilhelmstrasse, der Berichterstatter fühlt sich wie "auf dem Broadway in New York". (10)
Oder in der der Aula einer Berliner Mädchenschule mit seinen Mitteilungen über die seltsam-schreckliche deutsche Sprache. Natürlich wundert Twain sich darüber, "dass ein weibliches Wesen geschlechtslos sei, denn das Weib sei doch im Deutschen ein Neutrum." - "Der Lehrkörper klatschte wie toll", notiert ein nörgelnder Besucher, dem wir aber einen Fingerzeig auf Twains Redeweise verdanken: "… sein näselndes Organ und das schleppende und ziemlich temperamentlose Tempo der Redeweise." (11)
Herr Ober, bitte zahlen. Das kann noch etwas dauern. Sie wissen, die Bedienung. Wir haben also noch etwas Zeit für eine hübsche Geschichte. Sie spielt am 07. November 1891. (12)
Twain ist zu einer Feier geladen. Großer Studentenkommers zu Ehren von Virchow und Helmholtz. Beide sind 70 geworden und Geistesgrößen auf ihren Gebieten, der eine als Arzt, der andere als Physiker. Und Twain, mittenmang, sitzt am Tisch von Helmholtz und Virchow!
"Es bereitete mir ein seltsam angenehmes Gefühl, mich in solcher Gesellschaft zu befinden, mit dreiundzwanzig Männern zusammen zu sein, welche an einem Tage mehr vergessen, als ich je gewusst habe. In Verlegenheit geriet ich nicht; die Gelehrsamkeit steht dem Menschen selten im Gesicht geschrieben und ich konnte mit leichter Mühe Haltung und Gebärden der Herren so nachahmen, dass mich die Menge auch für einen Professor hielt." (13)
Und dann taucht auch noch Mommsen auf, der Historiker.
"Der ganze Saal erhob sich, rief, stampfte mit den Füßen, klatschte mit den Händen, rasselte mit den Biergläsern. Es war ein wirklicher Sturm. Dann drängte sich der kleine Mann mit dem langen Haar an uns vorbei und nahm seinen Sitz ein. Denkt euch meine Überraschung! (…) Meilenweit wäre ich gewandert, um ihn zu sehen, und hier saß er, ohne dass es mir die kleinste Mühe oder Reise oder sonst etwas gekostet hätte." (14)
"Ich hätte ihn mit meiner Hand berühren können. Mommsen – stellen Sie sich das vor!" (15)
Ja, ja, Twain fand überall die Darsteller seines Lebens.
Wir gehen! Wir können nicht länger auf die Bedienung warten.
"Störende Eindringlinge ins Tintenfass stecke"
Wir müssen noch mal aufs "Paradies der Lumpensammler", also auf die Körnerstraße zu sprechen kommen. Aus erfreulichem Anlass, wenngleich - die Umstände, die Wohnumstände dort - die wiederum fordern seine Kreativität heraus. Widerstand durch Arbeit! Im Arbeitszimmer, er übersetzt gerade ein deutsches Kinderbuch. Den "Struwwelpeter". Für seine Kinder. Tochter Clara erinnert sich:
"Der respektlose Widerspruchsgeist dieser Verse zog meinen Vater an, der vor allem in den ersten Wochen sehr an der düsteren Berlin-Stimmung litt. Er mochte den Kaspar, der seine Suppen nicht essen wollte, weil er die deutsche Suppe ebenfalls nicht mochte. Auch der Mann, der den widerspenstigen Jungen ins Tintenfass steckte, war genau nach seinem Geschmack. Wie oft hatte sich Vater gewünscht, Störenfriede einfach in sein eigenes Tintenfass zu werfen und zuzusehen, wie sie von der schwarzen Flüssigkeit durchtränkt versinken." (16)
Im Tintenfass hätte er wohl gerne auch seine schwere Bronchitis (17) ertränkt! Sie fesselt ihn ans Bett, nicht aber seinen Verstand! Die Zeitungslektüre und die sonstige Wirklichkeit geben viel Material her für die Beschäftigung mit der deutschen Sprache. "Marine-intendant-untersecretariats-applicant" - Sie daheim am Lautsprecher, haben Sie kapiert, was das sagt? Ein deutsches Wort mit 41 Buchstaben (!) und drei (!) Bindestrichen! "Marine-intendant-untersecretariats-applicant." (18)
"Ich glaube nicht, dass es etwas auf Erden gibt, das man in Berlin nicht lernen kann - außer der deutschen Sprache." (19)
Und Twain konnte Deutsch! Hüten Sie mal 34 Tage (20), zusammen mit der deutschen Zeitungs- und Politiker-Sprache, das Bett. Da kommen Sie sich vor "wie ein blinder Mann in einem brennenden Haus"! (21)
So, das musste mal sein. Ist ja nicht mehr zu ertragen, diese Politikersprache. Da soll doch der …
"Der kaiserliche Löwe & das demokratische Lamm"
Der Kaiser hat ihm wohlwollende Worte zukommen lassen. Am 20. Februar (22), die erste Einladung hatte Twain absagen müssen, die schwere Bronchitis, am 20. Februar also begegnen sie sich - "der kaiserliche Löwe und das demokratische Lamm". Wilhelm II hält das "Leben auf dem Mississippi" für das beste und wertvollste Buch. (23)
Und dennoch, es ward ein Desaster. "Seit 1891 bis vorgestern habe ich nie darüber gesprochen noch es aufgeschrieben – nicht einmal meiner Frau gegenüber…" 14 Jahre lang nicht. (24) Er hatte Wilhelm II widersprochen, ihn sozusagen brüskiert. Noch dazu in einer militärpolitischen Angelegenheit. Der Kaiser hatte die "großzügigen Soldatenrenten" in Amerika gelobt. Und was machte Twain?
"Ich sagte, dass die Großzügigkeit unserer Regierung gegenüber den Soldaten klar und lobenswert gewesen sei, weil jene Soldaten Renten erhielten, die sie verdient hätten, Soldaten, die im Krieg zu Krüppeln geworden waren und nicht mehr für sich und ihre Familien sorgen konnten, dass aber (…) ein sauberes Motiv gefehlt habe und sie allmählich zu einem immer größeren und immer ärgerlicheren System von Stimmenkauf degenerierten und jetzt zu einer Quelle der Korruption geworden sind, was eine unangenehme Entwicklung sei und auch gefährlich." (25)
Wilhelm II. verschlug es die Sprache, er sagte wohl nur noch "Gute Nacht". Die aber war für Twain noch nicht zu Ende. Spät im Hotel Royal ankommend, empfängt ihn ein junger Portier, zieht den Gast freudig-erregt in einen kleinen Raum und zeigt auf Twains Bücher, die in Deutschland erschienen waren und die er gelesen hatte. "Die haben Sie geschrieben. Ich habe es herausgefunden. Lieber Gott!" Dem jungen Nachtportier an der Spree hatte vor allem das "Leben auf dem Mississippi" imponiert. (26)
"Als sei sie erst vorige Woche erbaut worden"
"Wie wäre es, wenn er uns einmal ohne Glacéhandschuhe ehrlich sagte, was er über uns denkt? (…) Ein Mark Twain als Berliner Sittenschilderer fehlt uns noch." (27)
So stand es am 14. Januar 1892 im "Berliner Tageblatt". Nun, am 03. April 1892 erscheint sein Berliner Sittenbild in der Chicago Daily Tribune. The Chicago of Europe by Mark Twain. (28) Sein sechster und letzter Reisebrief. Mit hübschen Illustrationen. Der eifrige Leser ist überrascht vom überraschten Verfasser.
"Berlin hat mich im höchsten Grade überrascht." (29)
"Zuweilen ändert sich der Straßenname mitten in der Häuserreihe …" (30)
"In Betreff der Hausnummern herrscht ein Chaos wie vor der Erschaffung der Welt." (31)
"Die uniformierte Feuerwehr marschiert in Reih und Glied (…) als ginge es zu einem Begräbnis …" (32)
"Träte plötzlich ein Erdbeben ein, so würde es die Berliner Polizei beaufsichtigen und ordnungsmäßig zu Ende führen." (33)
Aber sonst - Respekt, Respekt: "Die neueste Stadt, die mir jemals vorgekommen ist." Mehr noch: "Berlin das europäische Chicago"! (34)
Hm, was meint er damit?
"Die Hauptmasse der Stadt sieht aus, als sei sie erst in der letzten Woche erbaut worden, der Rest sieht aus, als wäre er vielleicht sechs oder sogar acht Monate alt." (35)
Berlin, die Hauptstadt, die größte deutsche Stadt, reckt und streckt sich in alle Himmelsrichtungen und in die Höhe. Sie ist das politische und intellektuelle Zentrum - und wirtschaftlich ein Schwergewicht. Die Zahl der Einwohner hat sich in 25 Jahren verdoppelt.
"In keiner Stadt wird wohl so viel regiert wie in Berlin, aber ich wüsste auch keine, die besser regiert wäre. (…) Der mühevolle, emsige Fleiß, die Ausdauer und Pflichttreue, welche die Behörde bei jeder Gelegenheit entfaltet, erregt Bewunderung – zuweilen auch Leidwesen." (36)
Wir setzen hier nun einen Punkt, denn das mit dem Leidwesen – siehe Kirchensteuer - hatten wir ja schon angesprochen. Und den Rest können Sie ja nachlesen. Aber Vorsicht! Der Text ist verdammt doppelbödig. Ein Lob kann auch was ganz anderes meinen.
Wie geht es Chicago eigentlich, heute?
Von Büchern und Tatsachen
Wir müssen zum Ende kommen. Leider, leider. Die Zeit, die Zeit. Wir fassen uns kurz.
Sie erinnern sich an das Essen, Wilhelm II. und Mark Twain, 1892. Es fand bei General von Versen statt. Dessen Ehefrau (Alice Clemens) war eine entfernte Cousine von Samuel Langhorne Clemens alias Twain; aber das nur nebenbei. Von Versen war ein wortkarger Mann.
"Sein Bericht über seinen gefährlichen Spießrutenlauf vor 25 Jahren zwischen den brasilianischen & paraguayischen Linien liest sich so ruhig & harmlos wie der Vergnügungsausflug einer Sonntagsschule. (…) Er schrieb über diese wagemutige Tat etwa eine Seite … - nur die reinen nackten Tatsachen. Wenn ich dasselbe getan hätte, dann wären 3 oder 4 Bücher daraus geworden - & keine einzige Tatsache drin." (37)
Ach, wie gerne hätten wir diese drei oder vier Bücher über Berlin. Die Familie weilte ja fast fünf Monate im deutschen Chicago.
Am 1. März 1892 (38) endete Twains Aufenthalt in Berlin. Er kam später noch mal nach Berlin, auf der Durchreise.
"In Berlin wurde ich sehr wegen meiner Deutschkenntnisse gelobt. Einmal wurde ich einen Satz von 47 Wörtern los & hatte bloß 63 Grammatikfehler drin." (39)
Ach so, die Füße hat er sich in Berlin trefflich wärmen können, aber die Schulden daheim - es kam noch schlimmer.
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