Marilynne Robinson: "Lila"

Entdeckung einer gewaltigen Erzählerin

Die US-amerikanische Schriftstellerin Marilynne Robinson erhielt 2012 die National Humanities Medal, die ihr von Präsident Barack Obama verliehen wurde.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Marilynne Robinson erhielt 2012 die National Humanities Medal, die ihr von Präsident Barack Obama verliehen wurde. © picture alliance / dpa / Pete Marovich / Pool
Von Manuela Reichart · 16.09.2015
Die amerikanische Autorin Marilynne Robinson ist bei uns noch unbekannt. Mit ihrem ins Deutsche übersetzten Roman "Lila" könnte sich das ändern. Mit sprachlicher Kraft erzählt sie von einer Frau, die auf der Landstraße aufwächst und ein ruhiges Leben an der Seite eines alten Pfarrers findet.
Der Roman beginnt mit einem Kindsraub. Ein kleines Mädchen sitzt im Dunkeln und in der Kälte "leergeheult und halbwach nur. Es konnte nicht mehr rufen, und es hörte sowieso keiner, und wenn, dann würde alles nur schlimmer werden. Irgendwer hatte gebrüllt, Stopf ihrs Maul, sonst komm ich selber!, und da hatte eine Frau sie am Arm unter dem Tisch vorgezerrt und sie raus auf die Veranda geschoben und die Tür zugemacht."
Elender kann ein Kind sich nicht fühlen, einsamer und verlassener. Und dann kommt diese Frau mit der auffälligen Narbe, die auch in dieser Tagelöhner-Unterkunft wohnt und nimmt das Kind auf die Hüfte und geht mit ihm davon. Später wird sich das Mädchen nicht mehr erinnern an die Nacht, in der es geraubt oder in der ihm das Leben gerettet wurde. Von diesem Augenblick an werden die beiden zusammenbleiben. Die Ziehmutter wird das Kind beschützen und ernähren, ihm den Namen Lila geben, mit ihm auf der Straße leben, bis zum bitteren Ende, das blutig ausgeht für die Alte und vielleicht mit dem Kindsraub von damals zu tun hat.
Angekommen in sicheren Verhältnissen
Der Roman schließt mit einem neuen Kind, das die Titelheldin geboren, das sie in sicheren Verhältnissen bekommen hat, denn am Ende ihrer unsicheren Straßenexistenz hat sie einen viel älteren Prediger in einem Provinznest geheiratet, der sie mit Fürsorge und Liebe umgibt, dem sie erst nicht traut, wie sie keinem Menschen traut, in dessen Obhut sie sich schließlich mit großer Zuneigung begibt.
Die amerikanische Autorin, die bei uns seltsamerweise unbekannt ist, erzählt in diesem (2014 im Original als letzter Teil einer Trilogie erschienen) Roman eine ungewöhnliche Ehegeschichte aus der Perspektive der eigenbrötlerischen Heldin. Es geht ums Überleben und um die Suche nach der Vergangenheit, um den rechten Glauben an die Menschen und nicht zuletzt an Gott und die Bibel. Keine Themen, die landläufig und selbstverständlich in der Gegenwartsliteratur vorkommen. Die 1943 geborene Marilynne Robinson stellt jedoch – wie in einem Ingmar-Bergman-Film – christlichen Zweifel und atheistische Suche nebeneinander, sie lässt ihre Heldin mühsam und fragend sich zurechtfinden in den Büchern und im Leben.
Szenen wie auf Rembrandt-Bildern
In einer amerikanischen Kritik hieß es, hier würden Szenen beschrieben wie wir sie aus Rembrandt-Bildern kennen: Licht und Dunkelheit, mächtige Gestalten und Genrebeschreibungen. Es gibt sie zur Genüge: Filme und Romane über Bordelle im amerikanischen Westen, dem Land der Siedler, über abgerissene Hobos, die verzweifelt nach Arbeit suchen. In diesem Roman wird das Bekannte jedoch neu und mit großer sprachlicher Kraft und aus ungewöhnlicher Perspektive erzählt.
Hoffentlich wird der Verlag die anderen beiden Romane dieser vielfach ausgezeichneten Autorin auch herausbringen. In jedem Fall gilt: Es handelt sich um die Entdeckung einer gewaltigen Erzählerin.

Marilynne Robinson: Lila, Roman,
Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling,
S.Fischer Verlag, Frankfurt/M., 2015, 286 Seiten, 21,99 Euro

Mehr zum Thema