Marco Bischof u.a.: "Werner Bischof. Standpunkt"

Das wahre Gesicht der Welt

MAGNUM'S-Ausstellung von 1955: Eine Frau fotografiert mit ihrem Smartphone eine Aufnahme des Schweizer fotografen Werner Bischof, zu sehen auf einer Magnum-Ausstelung des Jahres 1955 in Madrid
Eine Frau fotografiert auf einer Magnum-Ausstellung eine Aufnahme des Schweizer Fotografen Werner Bischof © dpa / picture alliance / Kote Rodrigo
Von Carsten Hueck · 05.09.2016
Der Schweizer Werner Bischof gehört zu den berühmtesten Reportage-Fotografen des 20. Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag ist ein umfangreicher Materialband über dessen Werk erschienen. Überraschende Entdeckung: Viele seiner Fotos weisen direkt in unsere Gegenwart.
Er fotografierte amerikanische Autobahnen und Stadtlandschaften, wie es erst Jahrzehnte später wieder Andreas Gursky konnte. Er war Mitglied der legendären Fotografenagentur MAGNUM, seine Bilder hängen in New York im MOMA und auch im Metropolitan Museum of Art. Einige gehören zum kollektiven Bildgedächtnis: der Flöte spielende Indiojunge in den peruanischen Anden oder die japanischen Mönche im Schneetreiben unter Schirmen vor einer Tempelmauer.
Der Schweizer Fotograf Werner Bischof ist sicherlich einer der anspruchsvollsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Seinerzeit erfolgreich und geschätzt, hätte er vermutlich die Entwicklung der Fotografie noch nachhaltiger beeinflussen können, wäre er nicht 1954 auf einer Reise durch Südamerika tödlich verunglückt.
Im Frühjahr 2016 jährte sich Werner Bischofs Geburtstag zum hundertsten Mal. Aus diesem Anlass erscheint ein umfangreicher und hervorragend edierter Materialband zu seiner künstlerischen Entwicklung und seinem Werk: "Werner Bischof. Standpunkt".
Der Titel ist Programm: die über dreihundert Seiten zeichnen seinen äußeren und inneren Standpunkt gegenüber der Welt nach – nicht nur mit Fotos, sondern es sind auch erstmals veröffentlichte Briefe, Zeichnungen und Notizen dabei. Sie geben Einblick in sein Selbstverständnis als Mensch, Dokumentarist und Künstler.

Kritik an unserem "guten, gesättigten Leben"

Bischof absolvierte in Zürich die Kunstgewerbeschule. 1936 eröffnet er ein "Atelier für Fotografik". Macht sich einen Namen als Studio-und Werbefotograf. 1939 geht er nach Paris und will Maler werden. Der Kriegsausbruch vereitelt diese Pläne. Zurück in der Schweiz wird er ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift "Du".
Das Kriegsende ist für ihn eine Befreiung aus der Behaglichkeit. Bischof schreibt:
"Es trieb mich hinaus, das wahre Gesicht der Welt kennen zu lernen. Unser gutes, gesättigtes Leben nahm vielen den Blick für die ungeheure Not außerhalb unserer Grenzen."

Unterwegs im zerstörten Nachkriegseuropa

Der Fotograf dokumentiert auf zahlreichen Reisen von 1945 bis 1948 das zerstörte Nachkriegseuropa. Ganz zu Beginn des Buches ist ein Grenzübergang zu sehen: Flüchtlinge vor Stacheldraht; Menschenmassen aus unterschiedlichen Ländern des geschundenen Kontinents, die in die friedliche Schweiz gelangen wollen. Man sieht Kinder in den Ruinen einer Kirche spielen, eine Notunterkunft im zerbombten Freiburg, Hungernde auf den Straßen von Budapest, Bukarest und Warschau, Aufbau-und-Überlebensversuche inmitten zusammengesackter Häuser.
Und plötzlich weisen Bischofs Fotos direkt in unsere Gegenwart. Krieg, Not und Leid haben heute noch dasselbe Gesicht.

Fotografie bedeutet auch: humanistisches Engagement

Werner Bischof porträtiert dieses Gesicht einfühlsam, unmittelbar und professionell. Für ihn bedeutet Fotografie humanistisches Engagement und soziale Verantwortung. Er ist kein oberflächlicher Sensationsreporter, sondern ein mitleidender Mensch mit der Kamera. Seine Reportagen werden in "LIFE" und "Paris Match" veröffentlicht. Das vorliegende Buch macht eindrücklich seine Doppelbegabung deutlich: hier ist einer, der sehen und (Geschichten) schreiben kann. Der gleichermaßen Kamera und Schreibmaschine zu handhaben weiß.
Die faksimilierten Aufzeichnungen zeigen aber auch, dass der Fotograf mit seinem Erfolg zunehmend in ein Dilemma gerät – wie verbindet man soziales Engagement mit Ästhetik? Wie blickt man einem Überlebenden in Hiroshima und Hungernden in Indien in die Augen? Wie behauptet man den subjektiven Blick gegenüber den Anforderungen eines sensationslüsternen Publikums?
Werner Bischof hat sich diese Fragen gestellt und sie mit seinen Arbeiten überzeugend beantwortet.

Marco Bischof, Tania Samara Kuhn, Werner Bischof Estate (Hrsg.): "Werner Bischof. Standpunkt"
Fotografien, Zeichnungen und Texte von Werner Bischof
Scheidegger & Spiess Verlag, Zürich 2016
312 Seiten, 77 Euro

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