Marcel Beyer

Die Neugier eines Zwölfjährigen

Der Schriftsteller Marcel Beyer bei einer Autorenlesung in Koblenz (Archiv).
© picture alliance / dpa / Thomas Frey
Von Tobias Lehmkuhl · 22.11.2014
Marcel Beyer überzeugt als Erzähler und Dichter zugleich. Deshalb wird er in diesem Jahr mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet. Ein Besuch bei ihm in Belgrad, wo er sich in diesem Herbst als Stipendiat aufgehalten hat.
"Also jetzt laufen wir hier durch so ein merkwürdiges Vorstadtwäldchen. Sieht so ein bisschen aus wie Grunewald draußen oder Dahlem, und plötzlich stehen wir vor einem sehr poschen, ganz sauberen, mit riesigen Glasscheiben ausgestatteten Café, wo die Neureichen sitzen. Und man weiß eigentlich nicht: Wie haben die hier hingefunden."
Unterwegs mit Marcel Beyer in Belgrad.
"Und der Baumbestand, das sind alles so Kiefern und Birken, und das ist alles sehr Sixties eigentlich, so kenne ich Kurparks aus den fünfziger, sechziger Jahren, oder gerade wenn man im früheren Ostblock unterwegs ist."
Gegenwart und Geschichte gleichermaßen im Blick
Läuft man mit Marcel Beyer, der nächstes Jahr 50 wird, in dessen braunen Augen unter zunehmend grauen Haaren aber immer noch und immer wieder der Schalk und die Neugier eines Zwölfjährigen aufblitzten, läuft man mit diesem Autor also durch die serbische Hauptstadt, merkt man schnell, dass er Gegenwart und Geschichte gleichermaßen im Blick hat, dass er nach Zusammenhängen ebenso sucht wie nach Brüchen. Am meisten aber interessiert ihn der stille Wandel, faszinieren ihn die vielen Bedeutungen, die einzelne Dinge oder Orte zu unterschiedlichen Zeiten annehmen können. Was in Belgrad, nach einem unruhigen Jahrhundert, an jeder Ecke der Fall ist.
"Für jemanden wie mich, der in den achtziger Jahren ein intellektuelles Bewusstsein entwickelt, Roland Barthes gelesen hat - hier hat man ein Zeichensystem in permanenter Bewegung. Und das ist für einen Schriftsteller enorm interessant und aufregend. Und ich merke, dass ich abends viel schneller müde werde und dann auch schlafen muss."
Eine post-apokalyptische Hochhaussiedlung
Von irgendeiner Müdigkeit ist freilich nichts zu spüren, als Beyer über Marschall Titos Anwesen läuft, später die Ulica Uzicka, die Straße der Reichen entlang schlendert, um bald darauf in ein Taxi zu springen und zurück ins Zentrum zu fahren. Von dort aus freilich geht es nach einer kleinen Stärkung gleich weiter in eine post-apokalyptische Hochhaussiedlung in Neu-Belgrad und später, zurück auf der anderen Save-Seite, schnell in den Fahrstuhl des Gewerkschaftshauses, um dort ein Gedicht aufzunehmen.
"Wir machen los, noch unbelaubt
die Pappen hin zum Feld. Wer nannte
mich SEPPEL, dreißig Jahre her?
Vielleicht ein Jugendtrainer, einer,
von dem mir außer diesem Wort
sonst nichts geblieben ist. Man pokelt,
man baggert an der Sprache, SPATZ
oder SPERLING? Stundenlang."
Begeistert von Belgrad
"Im Westen, auf dem Platz" heißt dieses Gedicht, und - was äußerst selten ist in Beyers Werken - die autobiographischen Anklänge sind hier erstaunlich deutlich: Aufgewachsen in den siebziger Jahren in Neuss am Niederrhein, wo man als kleiner Junge einfach Fußball spielt, ist es vor allem die Welt der Vögel, die Beyer bis heute beschäftigt, die auch in seinem Roman Kaltenburg eine so prominente Rolle spielt. Auf dem Balkon seiner Stipendiatenwohnung, die gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Künstlerin Jacqueline Merz bewohnt, füttert er die Meisen, die Saatkrähen im nahen Park werden gurrend gelockt. Aber auch Hunde, Belgrader Straßenhunde wecken seine Aufmerksamkeit:
"Guck mal, da kommt ein Straßenhund, die sind so süß, so ein Knuffel! „Der ist so schnuffig! Ihr könnt euch unterhalten, aber ihr müsst rausgucken, der sammelt alle Hunde zusammen."
Schließlich stehen wir am Belgrader Bahnhof "Dunav". Verlassen liegt er da, nur sechs Züge verkehren hier täglich.
"Und das ist so ein Wartesaal, wie wir das wirklich nur aus Nico Hofmann-Produktionen kennen, die irgendwie in Ostpreußen spielen oder so."
Hier schließlich, gegen Ende eines viel zu kurzen Besuchs bei einem völlig Belgrad-begeisterten Beyer, kommt doch noch, draußen am Bahnsteig, die Rede auf Heinrich von Kleist. Denn darum sind wir eigentlich hier: Weil dem Dichter am morgigen Sonntag der Kleist-Preis verliehen wird. Besonders sagt Beyer, beschäftigen ihn Kleists Frauenfiguren.
"Die Frau ist ja nicht die Zierde des Mannes bei Kleist, die sind ja immer auf so merkwürdige Weise, so von Unpässlichkeiten gezeichnet oder gleiten in den Wahnsinn, und eigentlich sehe ich daraus immer nur, dass ja was offenbar mit der Gesellschaft nicht stimmt."
Damit wären wir also wieder bei den Zeichen und Zeichensystemen, die gesellschaftliche Veränderungen abbilden. Auf dem Bahnhof allerdings herrscht Stillstand, nur der Regen fällt unablässig. Zum Abschied drückt einem Marcel Beyer noch eine CD in die Hand. Neneh Cherry, sagt er, die Tochter von Don. Hör Dir das mal an. Das tuen wir.
Mehr zum Thema