Manische Weltflucht

Von Anette Schneider · 10.04.2013
In der Kunsthalle in Bremen hat man sich viel vorgenommen: Nicht weniger als den "ganzen Wols" wolle man zeigen. Chronologisch sind hunderte Werke des Künstlers ausgestellt. Und die Ausstellung zeigt: Wols' Werk ist bisher oftmals falsch interpretiert worden.
Eine geöffnete Dose Ölsardinen. Ein gehäutetes Kaninchen, das an einer Lampe hängt. Von einer Hauswand bröckelnder Putz. Porträts von Man Ray und Max Ernst. Mit diesen selten gezeigten Wols-Fotografien aus den 30er-Jahren eröffnet die Ausstellung.

Kurator Ewald Rathke: "Das Konzept ist, den ganzen Wols zu zeigen. Von Anfang bis Ende. Und die Ausstellung nicht zu beschränken auf die späten Jahre, wo das sogenannte Informel entstanden ist. Denn ich glaube, dass man die späten Bilder nur versteht, wenn man weiß, wo Wols herkommt."

Vom Surrealismus nämlich, den Wols in Paris entdeckte. Dorthin war er 1932 gereist. Der 19-Jährige hatte mit seinem großbürgerlichen Elternhaus gebrochen, wollte eigene Wege gehen. Nach 1933 blieb er als Emigrant in Frankreich. Da hatte er seine spätere Frau Grety schon kennengelernt, eine phantasievolle Rumänin, die ihn mit zahlreichen surrealistischen Künstlern bekannt machte.

"Er ist von dieser Frau hingerissen, weil die anders ist, als die bürgerliche Enge von Mutter und Schwester. Und sie kommt dann auf die Idee, nach Spanien zu gehen. 1933 ... Und sie sorgt für den Lebensunterhalt weitgehend, sie ist Putzmacherin, Schneiderin. Und er - in Ibiza, wo man zunächst strandet - fährt Taxi und macht alles mögliche. Er ist also der Typ, der sich jeder Bürgerlichkeit verweigert. Alles - bloß keinen Beruf lernen. Und diese Freiheit befähigt ihn natürlich, bei aller Introvertiertheit, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen."

Nur - was nahm er wahr von der Welt? Nachdem die beiden 1935 nach Paris zurückkehrten, arbeitete er erfolgreich als Porträt- und Stadtfotograf. Ende der 30er-Jahre entstanden erste surrealistische Zeichnungen, die nun dicht an dicht in der Ausstellung hängen. Auf farbig aquarelliertem Bildgrund entwarf Wols mit zarter Feder verrückte Welten: Er stapelt filigrane Hausfassaden ins Unendliche, lässt auf großen Kanälen winzige Segelschiffe schwimmen, Esel Karren durch die Luft ziehen und hinter Türmen Riesenfische lauern.

"Er malt nicht seine Träume ab. Sondern er erfindet Träume, und handelt genauso, wie im Traum gehandelt wird - indem er alle möglichen Bruchstücke aus der Realität aufgreift, die falsch zusammensetzt, widersprüchlich zusammensetzt - und aus diesen Widersprüchen ergibt sich eine neue Einsicht in das Tatsächliche."

Eine sehr subjektiv-verrätselte "Einsicht". Dabei veranschaulicht die chronologische Hängung, wie der introvertierte Einzelgänger Wols im Laufe der Jahre aus diesen surrealen Bildwelten einzelne Elemente herauslöste - Figuren und Bäume - sie zunehmend auf ihre organischen Formen reduzierte, bis er sie Ende der 40er-Jahre abstrakt in Ölfarbe ritzte.

"Wenn ich also aus einer Figur die Figur weglasse, oder ein bisschen verdrehe, ergibt sich ein neuer formaler Organismus. Und diese formalen Organismen zu erkennen, und zu beschreiben, ist eine grandiose Tat."

Bisher wurde Wols Werk oft rein biografisch interpretiert: Weil er 1939 in Südfrankreich interniert wurde, und später vor den Faschisten ins Landesinnere fliehen musste, wo er bis 1945 in Armut lebte, gelten vielen die Kratzspuren als Ausdruck persönlicher Verletzungen, Galgen und Fallschirmspringer auf einigen seiner Zeichnungen als Ausdruck erlebter Bedrohung.

Die Bremer Ausstellung stellt allerdings klar: Düstere Motive bilden die absolute Ausnahme bei Wols. Und die fast 200 Zeichnungen, Aquarelle und Ölbilder belegen, dass Wols sich gerade nicht für die Wirklichkeit interessierte, sondern für ihre filigrane Verrätselung, für ihre Entleerung in reiner Form: Das gilt für die vielen, vielen Arbeiten mit immer ähnlichen organischen Mustern. Das gilt auch für die allermeisten surrealistischen Zeichnungen, die - bestückt mit fliegenden Schiffen und Elefanten - reine Privatmythologie sind.

""Es lässt sich nicht auflösen. Es geht einfach darum, das man diese Widersprüche aufgreift und sieht: 'Aha, ein Schiff in der Luft ist plötzlich etwas anderes, als ein Schiff auf dem Wasser'. Wenn man das sieht, staunt man drüber, sagt: 'Großartig, was da jemandem einfällt'."

Großartig? Angesichts von Faschismus, Verfolgung und Krieg? In Bremen wird man den Eindruck nicht los, das hier einer manische Weltflucht betreibt: Wieder und wieder malte er ab Mitte der 40er-Jahre organische Formen, kratzte sie in Ölfarbe. Die Kritik reagierte darauf begeistert.

Bedenkt man, dass zur selben Zeit der junge Francis Bacon das bürgerliche Publikum mit gewaltsam durch Krieg und Faschismus deformierten, lemurenhaften Wesen konfrontierte, ahnt man, weshalb Bacon niedergemacht und Wols gelobt wurde: Seine Bilder ersparten einem jegliches Nachdenken über die jüngste Vergangenheit. Sie tun es bis heute.
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