Manfred Clauss: "Ein neuer Gott für die alte Welt"

Aufstieg einer Sekte

Szene mit Jesus und Jüngern in einem Boot auf dem See Genezareth: Dieses Flachrelief ist am Vatikan-Bahnhof in Rom zu sehen.
Szene mit Jesus und Jüngern in einem Boot auf dem See Genezareth: Dieses Flachrelief ist am Vatikan-Bahnhof in Rom zu sehen. © dpa / picture alliance / Sichel
Von Philipp Gessler · 02.11.2015
Das frühe Christentum hat Historiker und Theologen schon immer fasziniert. Der Althistoriker Manfred Clauss sieht diese Epoche unpathetisch. Die Hauptthese seines Buches: Die frühen Christen waren keinesfalls sanftmütige und friedliche Gläubige.
Das frühe Christentum – also vor allem die ersten fünf Jahrhunderte dieser Weltreligion – haben die Geschichtswissenschaft und Theologie immer stark fasziniert. Denn es ist die Geschichte eines sagenhaften und immer noch schwer erklärbaren Aufstiegs: von einer winzigen jüdischen Sekte am Rande des Römischen Imperiums, in der tiefsten Provinz, zur Staatsreligion eines Weltreichs und zur bestimmenden Religion eines ganzen Kontinents, nämlich Europas, das dann später das christliche Abendland genannt werden wird.
Es ist zugleich eine große Erzählung, die an den in unserer Kultur tief verwurzelten David-und-Goliath-Mythos anknüpft, dass nämlich eine verfolgte kleine Minderheit mit einer grundsätzlich sanften Botschaft gegen eine große, übermächtige und auch brutale Herrschaft siegen kann. Auch deshalb beschrieben gerade frühere Theologen und Kirchenhistoriker diesen Aufstieg des Christentums gern als ein großes Wunder, bei dem irgendwie der Heilige Geist seine Hand im Spiel gehabt haben muss.
Auf den ersten Blick viel nüchterner ist dagegen Manfred Clauss. Der deutsche Althistoriker, geboren 1945 in Köln, ist einer der besten deutschsprachigen Kenner der Antike. Der emeritierte Professor für Alte Geschichte hat unter anderem in Berlin und Frankfurt am Main gelehrt und über die Alte Welt viele Bücher geschrieben, die abseits des Fachpublikums eine breite Leserschaft gefunden haben. Sein neuestes Buch "Ein neuer Gott für die alte Welt: Die Geschichte des frühen Christentums" erzählt kenntnis- und quellenreich die weltliche Erfolgsgeschichte des Christentums bis zum Ausgang der Antike, etwa im 6. Jahrhundert. Clauss bürstet aber die Geschichte der Weltreligion, die aus dem zwölfköpfigen Kreis um einen armen und zum Tode verurteilten jüdischen Wanderrabbi entstanden ist, gegen den Strich.
Christen - keine friedliche Gemeinschaft
Die Hauptthese seines Buches ist: Das frühe Christentum war keinesfalls eine Religion von sanftmütigen und friedlichen Gläubigen, die wundergleich der Verfolgung entronnen, alle anderen sofort mit ihrer Botschaft überzeugten und am Ende an die Macht kamen, sondern vielmehr von Anfang an eine Glaubensgemeinschaft, die in sich stark zerstritten, keinesfalls tolerant und nur wenig friedlich war, wie sich sofort zeigte, sobald die Christen an der Macht waren, also führende Positionen im römischen Weltreich einnehmen konnten. Diese für gläubige Christen sperrige These kann Clauss durch eine Fülle von Quellen und auf über 500 Seiten recht schlüssig belegen – und oft ist es durchaus unterhaltsam und erfrischend, wenn er in die pralle und oft chaotische Welt des antiken Christentums eintaucht, um Mythen der Kirchengeschichte und Theologie zu zerstören, das Ganze gewürzt übrigens durch einen oft sarkastischen Unterton, den man von einem deutschen Professor nicht unbedingt erwarten darf.
Was Clauss' Werk aber dann doch zu einer eher mühsamen Lektüre macht, ist zum einen das häufige und verwirrende Hin- und Her-Hüpfen zwischen den Jahrhunderten und den historischen Gestalten – mehr erzählerische Stringenz wäre da nötig gewesen. Wackelig und so gut wie nicht belegt sind zum anderen auch manche Vermutungen von Clauss, etwa die, die Christen könnten sehr wohl das Rom des Kaisers Nero angezündet haben, ein Gerücht aus dem Jahr 64 n.Chr., das dann zu einer ersten großen Christenverfolgung geführt hat, bei der womöglich die Apostel Petrus und Paulus den Märtyrertod gefunden haben.
Passionsgeschichte ist wie "Leben des Brian"
Richtig unangenehm beim Lesen aber wird der sich zunehmend aufdrängende Eindruck, dass Clauss' Drang zur Mythenzerstörung im Laufe des Buchs über die gebotene Nüchternheit des Historikers Überhand gewinnt – bis hin zu irritierenden polemischen Ausbrüchen, etwa wenn Clauss schreibt, die Passionsgeschichte Jesu in den Evangelien habe mit dem blutigen Geschehen vor 2.000 Jahren in Jerusalem etwa so viel zu tun wie das "Leben des Brian" der berühmten britischen Komiker-Truppe Monty Python mit der geschichtlichen Wahrheit: "Dort ruft am Ende der Chor der Gekreuzigten dazu auf, das Leben von seiner heiteren Seite zu sehen."
Das ist zwar als Pointe ganz witzig, aber leider auch Ausweis für den untergründigen Charakter eines Werks, bei dem am Ende beim Leser das Gefühl überwiegt: Die eigene These und die Lust an der Provokation waren dem Autor wichtiger als eine faire und nüchterne Deutung der geschichtlichen Entwicklung des frühen Christentums.

Manfred Clauss: Ein neuer Gott für die alte Welt. Die Geschichte des frühen Christentums
Rowohlt, Berlin 2015
544 Seiten, 34,95 Euro

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