"Man verliert die Unschuld"

Ferdinand von Schirach im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 10.08.2010
Die Verteidigung von Mördern und Vergewaltigern könne bisweilen obszön erscheinen, sei aber trotzdem notwendig, sagt der Jurist Ferdinand von Schirach. Sein zweites Buch "Schuld. Stories" ist gerade erschienen.
Klaus Pokatzky: Ferdinand von Schirach ist Rechtsanwalt in Berlin, und letztes Jahr hat er einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. "Verbrechen" heißt der, und 150.000 Exemplare wurden bisher davon gedruckt, die Rechte an dem Buch wurden in 30 Länder verkauft. Nun ist Ferdinand von Schirachs zweiter Erzählungsband erschienen mit dem Titel "Schuld". Gleich ist Ferdinand von Schirach zu Gast im "Radiofeuilleton".

Jetzt erschien sein zweites Buch, "Schuld" – für seinen ersten Erzählband "Verbrechen" wurde Ferdinand von Schirach in diesem Jahr mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Als dieser Preis das erste Mal 1912 von der Kleist-Stiftung vergeben wurde, lautete der Zweck der Stiftung noch, Ehrengaben aufstrebenden und wenig bemittelten Dichtern deutscher Sprache, Männern zu Frauen zu gewähren. Ferdinand von Schirach, willkommen im "Radiofeuilleton"!

Ferdinand von Schirach: Guten Tag!

Pokatzky: Herr von Schirach, nach der sensationellen Auflage von "Verbrechen", die Taschenbuchausgabe kommt demnächst auch heraus, die Filmrechte sind verkauft, also sitzt mir jetzt tatsächlich ein wenig bemittelter Dichter deutscher Sprache gegenüber?

von Schirach: Ja, natürlich, ja, Anwälte sind ganz arm. Nein, es ist so, dass sich auch die Vorschriften, nach denen das vergeben wird, oder die Statuten geändert haben. Also man muss nicht mehr wenig bemittelt sein, soweit ich weiß.

Pokatzky: Und nach dem Buch sind Sie es auf keinen Fall. Sie waren es als Strafverteidiger, als erfolgreicher Strafverteidiger seit 1994 wahrscheinlich auch schon nicht?

von Schirach: Na ja, es geht. Nun, ich kann meine Brötchen bezahlen.

Pokatzky: Das neue Buch heißt "Schuld". Im ersten Kapitel wird geschildert ein Volksfest in einer deutschen Kleinstadt, bei dem eine Gruppe von ansonsten biederen Männern eine junge Frau vergewaltigt – widerlich und brutal, die Männer mussten trotzdem freigesprochen werden. Warum?

von Schirach: Das war eine ganz merkwürdige Situation, weil die Männer, die alle sozusagen ganz normale Männer waren aus ehrbaren Berufen, die hatten die Frau vergewaltigt, und zwar auf wirklich absolut abscheuliche Art und Weise. Aber einer der Männer ist zur Polizei gegangen beziehungsweise zu einer Telefonzelle und hat die Polizei angerufen. Und damals gab es noch keine Funktelefone, sodass der dorthin musste.

Pokatzky: Anonym angerufen?

von Schirach: Anonym angerufen. Und sagte nur, dass dort eben eine Vergewaltigung im Gang ist. Und die Polizei nahm das nicht so wahnsinnig ernst und kam zu spät. Und in der Zwischenzeit ist dieser eine Mann, der nicht mitgemacht hatte, wieder zu den anderen zurückgekehrt, und alle schwiegen, nachdem sie festgenommen worden sind. Und der Richter hatte das Problem, dass er bei jedem Einzelnen dieser schweigenden Männer vermuten musste, dass es derjenige ist, der unschuldig ist. Und deswegen musste er alle freilassen. Es war vollkommen grauenhaft.

Pokatzky: Sie haben einen der Männer verteidigt, ob es der anonyme Anrufer war, wissen Sie wahrscheinlich bis heute nicht – Sie waren damals ein ganz junger Anwalt. Das Kapitel steht ja nicht zufällig am Beginn des Buches. Das war eine leichte Verteidigung, und Sie schreiben dann: Danach wussten Sie, dass Sie Ihre Unschuld verloren hatten, dass Sie erwachsen geworden waren. Der junge Anwalt von Schirach hatte seine Unschuld verloren. Sie sind Strafverteidiger, Sie verteidigen Mörder – fühlen Sie sich manchmal so schuldig, dass Sie deshalb solche Geschichten schreiben?

von Schirach: Nein, das hat damit überhaupt nichts zu tun. Also das Schreiben ist keine Therapie, das mich sozusagen von der Schuld, die ich in einem Gerichtssaal auf mich lade, erlöst. Der Verteidiger ist nicht schuldig, er verteidigt unter Umständen jemand, der schuldig ist oder dessen Schuld geprüft wird, aber dadurch wird er nicht selbst schuldig, das wäre ja grauenhaft. Stellen Sie sich mal das vor! Also ich verteidige einen Mann, der einen Mord begangen hat, es steht inzwischen fest, und ich wäre an dem Mord schuld – das ist Quatsch. Ich habe ja auch geschrieben, dass ich dort meine Unschuld verloren habe, nicht dass ich schuldig geworden bin, was ein bisschen was anderes ist.

Und vor allen Dingen habe ich geschrieben, dass das gar keine Rolle spielt. Angesichts des Schicksals dieses Mädchens ist das sozusagen ein kleines Apercu, das überhaupt nicht ins Gewicht fällt. Und man verliert die Unschuld sozusagen dadurch, dass man bis zu diesem Zeitpunkt ein Student war beziehungsweise ein Referendar und das Recht so von außen gesehen hat und verstanden hat, vielleicht, also die Schönheit eines juristischen Gedankengebäudes, und sich nicht vorstellen kann, dass das auch in der Praxis stattfindet und dann in einer geradezu absurden oder obszönen Art und Weise sich ausbreitet und auch Besitz von einem selbst nimmt. Also die Unschuld verliert man durch die Praxis, könnte man sagen.

Pokatzky: Ja, aber wenn die Obszönität von einem Besitz ergreift, hat man dann nicht doch irgendwann mal ein schlechtes Gewissen, wenigstens zwischendurch, ganz dezent?

von Schirach: Natürlich, aber dieses schlechte Gewissen, man muss ja irgendwie damit leben. Und dann überlegt man sich, was man macht, ja. Also manche Leute beginnen dann ganz wahnsinnige Sportarten oder begehen selber irgendwelche merkwürdigen Dinge, die man so dem Verbrechen zuordnen könnte. Und …

Pokatzky: Sie schreiben Geschichten.

von Schirach: Nein, nein, das hat mit den Geschichten noch gar nichts zu tun, sondern der Verteidiger, der setzt sich eigentlich hin und überlegt sich – oder bei mir war es zumindest so –, was er dort eigentlich macht, und begreift irgendwann, dass er auf der anderen Seite stehen muss und dass das nichts Böses ist und dass das keine Schuld birgt.

Pokatzky: Und auch kein schlechtes Gewissen.

von Schirach: Und auch kein schlechtes Gewissen, sondern man ist einfach Teil eines Systems – man ist kein Technokrat, aber man ist Teil eines Systems. Und wie eine Bundesverfassungsrichterin mal sagte: Man muss Gegenspieler des Gerichtes sein und man muss Gegenspieler der Staatsanwaltschaft sein. Das Schreiben, das hat damit überhaupt nichts zu tun, das Schreiben ist etwas völlig anderes.

Pokatzky: Womit hat das Schreiben zu tun?

von Schirach: Einfach mit Freude, ganz simpel gesagt.

Pokatzky: Sie können sich auch nicht vorstellen, Gerichtsreporter zu sein?

von Schirach: Nein – nein, nein. Ich wurde schon ein paar Mal gefragt, ob ich das werden wollte oder für jemanden schreiben wollte. Das Problem des Gerichtsreporters ist, dass er in das Geschehen nicht eingreifen kann. Der sitzt hinten auf der Pressebank, das ist eine Holzbank in der Regel, und hat einen Schreibblock vor sich, und dann beobachtet er das Geschehen und muss es möglichst gut und klar und treffend wiedergeben. Das würde noch gehen, dieser Teil, aber jetzt passiert irgendetwas in dem Gerichtssaal. Der Gerichtsreporter hat eine Idee dazu, er möchte eingreifen, er möchte eigentlich irgendetwas sagen dazu und er kann nicht und bleibt auf seinem Platz und schreibt. Und das ist eine vollkommene Horrorvorstellung für mich – also stundenlang dazusitzen, ein fremdes Geschehen zu beobachten und da nicht eingreifen zu können, könnte ich nicht.

Pokatzky: Weil Sie als Verteidiger was rauslassen können?

von Schirach: Ja, man kann das Geschehen steuern, man kann eine Frage beanstanden …

Pokatzky: Auch Aggressionen rauslassen?

von Schirach: Man kann seine Aggressionen loswerden und man kann sozusagen versuchen, die Dinge nach seinem Willen ein bisschen zu ordnen. Jeder versucht es – der Staatsanwalt versucht es, der Richter versucht es. Und es ist ja keine Idee, die irgendwie ein Professor mal hatte, sondern die Idee heißt, Verteidigung ist Kampf, und in einem Kampf geht es eben auch manchmal laut zu, und das gehört zu einem Gerichtsverfahren. Und der Gerichtsreporter ist frei von all dem, der muss hinten sitzen – und das könnte ich nicht.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach über sein neues Buch "Schuld". Herr von Schirach, wenn man auf Ihre Homepage geht, www.schirach.de, dann findet man zuallererst einen Satz von Max Alsberg, einem der berühmtesten Anwälte der Weimarer Republik. Der schrieb 1930, die Aufgabe des Strafverteidigers sei es, den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit zu hemmen. Und Sie schreiben auf Ihrer Homepage, also quasi dem Entrée zu ihrem gesamten weiteren Internetauftritt: Sein Satz war damals richtig und er ist es heute noch. Aber wieso den Griff nach der Wahrheit hemmen?

von Schirach: Ja, weil es … Also Sie müssen sich vorstellen, in einem Gerichtsverfahren war keiner bei der Tat dabei außer vielleicht dem Täter und dem Opfer, und wir alle wissen nicht, was die Wahrheit ist. Das ist so etwas Diffuses. Und wir versuchen die Wahrheit herauszufinden oder eine prozessuale Wahrheit, was noch mal ein bisschen etwas anderes ist, also eine Wahrheit, die mit den Mitteln des Strafprozessrechts entsteht. Und diese Wahrheit, da hat jeder eine andere, und zwar sofort. Also da gibt es den Staatsanwalt, der sofort sagt, der war es, ja, deshalb, aus irgendwelchen Kleinigkeiten. Und der Verteidiger versucht diese erste Wahrheit, die fast nie stimmt, zu unterbinden, den Griff danach zu unterbinden und die infrage zu stellen. Also stellen Sie sich vor, ein Mann kommt mit einem blutigen Messer aus einem Zimmer raus, und Sie stürzen in das Zimmer und sehen eine Frauenleiche, die zerstochen ist, auf dem Boden. Und was ist die Wahrheit dann? Ihr erster Impuls ist zu sagen, der Mann hat sie erstochen. Und jetzt kommt der Verteidiger und sagt: Ja, vielleicht kam der Mann aber viel später, hat das Messer rausgezogen, um es zu sichern, hat dann die Polizei rufen wollen, war überhaupt nicht Mörder. Und die erste Wahrheit, ja, nämlich er war der Mörder, die versucht der Verteidiger erst mal infrage zu stellen.

Pokatzky: Aber versuchen Sie denn als Verteidiger, die endgültige Wahrheit zu finden, oder haben Sie davon völlig Abschied genommen?

von Schirach: Es gibt keine endgültige Wahrheit. Das ist so wie in der Physik: Wir können eine endgültige Wahrheit überhaupt nicht begreifen. Das Einzige, was wir sehen oder was wir bilden können, das sind Theorien über die Wahrheit. Wir glauben, das sei die Wahrheit, aber wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass das nur eine Hypothese ist, die auch falsch sein kann. Und wir versuchen, eine möglichst gute Hypothese zu erschaffen, aber wir wissen überhaupt nicht, ob das die Wahrheit ist. Kein Mensch weiß das.

Pokatzky: Sie haben jetzt in Interviews zu dem neuen Buch "Schuld" gesagt, vom Typus her ähneln "Verbrechen" und "Schuld" sich ja sehr, Sie wollten kein weiteres Buch dieser Art schreiben. Welches Buch kommt denn da als Nächstes dann?

von Schirach: Ja, das möchte mein Verleger auch gerne wissen.

Pokatzky: Verraten Sie es im "Radiofeuilleton"?

von Schirach: Nein, nein, ganz sicher nicht.

Pokatzky: Welches Verbrechen, Ferdinand von Schirach, würden Sie gerne selber begehen?

von Schirach: Das ist eine absolut wunderbare Frage. Mir fällt nicht spontan etwas ein, aber ich glaube, ich wäre fähig zu einem Tyrannenmord. Das könnte ich mir vorstellen.

Pokatzky: Denken Sie an irgendeinen speziellen Tyrannen?

von Schirach: Ja, also mein Problem ist, ich wäre, glaube ich, nicht in der Lage zu morden, deswegen fällt es mir noch schwerer, sich das konkret vorzustellen, aber ich denke so, wenn man mich treiben würde in diese Situation, vielleicht wäre ich dazu in der Lage. Und einen bestimmten Tyrann kann ich nicht sagen, weil der Tyrann ja ein Begriff ist, das ist ja ein Typus, und der Typus ist derjenige, der andere Menschen unterdrückt und ihnen die Freiheit nimmt. Und das wäre wahrscheinlich so ein Verbrechen, das ich mir zutrauen würde.

Pokatzky: Zu Gast im "Radiofeuilleton" war Ferdinand von Schirach. Sein Buch "Schuld. Stories" ist jetzt mit 208 Seiten im Piper-Verlag erschienen, es kostet 17,95 Euro, und die nächste Lesung mit Ferdinand von Schirach aus diesem Buch ist am 27. August im Spiegelzelt am Schillerplatz in Mainz.

von Schirach: Ja, genau, vielen Dank!

Pokatzky: Danke Ihnen!


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Kritik: Ferdinand von Schirach - "Schuld"

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