"Man muss die Tarifstruktur stärker beobachten"

Peter Schüren im Gespräch mit André Hatting · 16.12.2010
Für europäische Mindestlöhne sei das Lohnniveau in den europäischen Ländern noch zu unterschiedlich, sagt Arbeitsrechtler Peter Schüren. Er warnt davor, den möglichen Zuzug von Leiharbeitern aus Osteuropa zu überschätzen, wenn ab Mai 2011 die EU-Freizügigkeit für Arbeitnehmer erweitert werde.
André Hatting: Wer für Zeitarbeitsfirmen arbeitet, hat oft Pech: Diese Agenturen haben eigene Tarifverträge, mit denen sie ihre Arbeiter billiger arbeiten lassen können als die Kollegen der Stammbelegschaft, manchmal für einen Stundenlohn für nur fünf Euro. Das ist jetzt Vergangenheit, denn diese mit der Christlichen Gewerkschaft vereinbarten Sondertarife für Arbeiter von Personal-Service-Agenturen sind unwirksam. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden. Am Telefon ist jetzt Peter Schüren, er ist Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsfragen an der Universität Münster. Guten Morgen, Herr Schüren!

Peter Schüren: Guten Morgen, Herr Hatting!

Hatting: Herr Schüren, welche konkreten Folgen hat das Urteil für die gut 280.000 Leiharbeiter in Deutschland?

Schüren: Tja, erst mal etwas andere, als Sie gerade sagten, denn die Tarifverträge, die die CGZP, dieser Spitzenverband der Christlichen Gewerkschaft, unterschrieben hat, die sind aktuell von der Entscheidung nicht betroffen, denn die aktuellen christlichen Tarifverträge hat eben nicht nur die CGZP unterschrieben, sondern haben die Christlichen Gewerkschaften insgesamt unterschrieben und die CGZP. Das Ganze betrifft direkt die früheren Tarifverträge, das heißt die, die zwischen 2003 und, ja, Anfang 2010 abgeschlossen wurden, also ist eher für die Vergangenheit von direktem Interesse.

Hatting: Wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund das nun als Sieg gegen Lohndumperei und Billigkonkurrenz feiert, hat er sich da zu früh gefreut?

Schüren: Nein, er hat sich schon mit Recht gefreut, denn die CGZP hat in der Vergangenheit wirklich extrem schlechte Tarifverträge für die Leiharbeitnehmer gemacht und jeden Arbeitgeberwunsch erfüllt. Das muss man leider sagen.

Hatting: Wenn Sie aber sagen, das habe nur Folgen für die in der Vergangenheit unterschriebenen Verträge – wie kann man denn in Zukunft Lohndumperei bei Zeitarbeitsfirmen verhindern?

Schüren: Ich denke immer, indem man diesen Bereich sehr intensiv beobachtet und darauf aufpasst, dass keine Pseudogewerkschaften hier aktiv werden. Das hat man leider etwas zu lange geduldet. Auch die Politik hat ja jahrelang überhaupt nichts unternommen in dem Bereich.

Hatting: Jetzt hat sie gehandelt. Gestern hat das Kabinett der Bundesregierung beschlossen, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu ändern, schwieriges Wort, die sogenannte Drehtür-Klausel, die soll verhindern, dass Beschäftigte entlassen und innerhalb von sechs Monaten wieder als Zeitarbeiter mit schlechteren Arbeitsbedingungen eingesetzt werden. Reicht das Ihrer Meinung nach im Kampf gegen Lohndumping?

Schüren: Sicherlich nicht. Das ist ein kleiner Aspekt, mit dem Missbrauch getrieben wurde, also eine Möglichkeit, dass Zeitarbeit dazu genutzt wurde, die eigene Belegschaft durch Billigkräfte auf Dauer zu ersetzen. Das war eine Form des Missbrauchs. Aber es gibt eine ganze Reihe, und die europäische Richtlinie verlangt ja wirklich erhebliche Korrekturen unseres Leiharbeitsrechts.

Hatting: Welche zum Beispiel?

Schüren: Nun, man sollte aufhören, Leiharbeitnehmer, die nur einen einzigen Einsatz beim Kunden machen, mit eigenem Lohnniveau zu bezahlen. Wenn ein Leiharbeitnehmer tatsächlich nur für einen Kunden tätig ist, dann gibt es keinen Grund, ihm nicht den gleichen Lohn zu geben. Dieses eigene Tarifniveau macht im Grunde nur Sinn, wenn ein Leiharbeitnehmer nacheinander mehrere Einsätze für verschiedene Kunden hat.

Hatting: Also müsste man generell nur die Tarifverträge akzeptieren, die die, ich sage jetzt mal, ordentlichen Gewerkschaften abschließen, um eben diese Sonderregelungen auszubooten?

Schüren: Das ist ein Aspekt. Man muss die Tarifstruktur stärker beobachten, muss darauf achten, dass keine eigenartigen Gesellen hier auftauchen, die Arbeitgeberwünsche erfüllen, das ist richtig. Aber es geht auf der anderen Seite auch darum, dass man das Gesetz so gestaltet, dass es nicht gerade zu Missbrauch auffordert.

Hatting: Nun ist es so, dass die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zumindest die Befürchtung auslöst, dass sehr, sehr viel Sozialbeiträge nachgezahlt werden müssen.

Schüren: Ja, nun, auf der anderen Seite haben diejenigen, die diese Billigtarifverträge genutzt haben, damit sehr viel Geld auf Kosten der Arbeitnehmer verdient. Dass nun die Sozialversicherungsbeiträge für die Betroffenen nachbezahlt werden müssen, ist eher ein Aspekt von Gerechtigkeit.

Hatting: Blicken wir in die Zukunft: Ab Mai kommenden Jahres können Menschen aus osteuropäischen Ländern ohne Einschränkungen auch in Deutschland arbeiten. Allein aus Polen erwarten manche Experten zumindest bis zu einer halben Million Arbeitskräfte. Ist das eine realistische Einschätzung Ihrer Meinung nach?

Schüren: Ich denke, das wird oft etwas vereinfacht. In der Leiharbeit werden bestimmt nicht so viele aus diesen Ländern kommen wie erwartet, weil die Einsatzmöglichkeiten gar nicht so einfach für die Menschen sind aufgrund schon sprachlicher Probleme. Zum anderen ist der Markt in Deutschland gar nicht so attraktiv wie man oft denkt, denn die Löhne hier sind sicherlich nicht die besten in Europa. Das heißt, das Problem wird teilweise überschätzt, teilweise wird aber auch unterschätzt, wie kompliziert es ist, hier gestaltend einzugreifen, denn die Leute kommen ja nicht nur unter Umständen als Leiharbeitnehmer, sie kommen auch im Rahmen von Werkverträgen, und das eine und das andere ist unterschiedlich zu steuern. Das heißt also, es werden weniger sein und die Fragen werden schwieriger sein als erwartet. Sicherlich macht es Sinn, hier korrigierend einzugreifen, aber einfach ist das nicht.

Hatting: Viele Menschen fürchten hierzulande: Wenn erst einmal die Arbeiter aus Osteuropa uneingeschränkt nach Deutschland kommen dürfen, hier tätig sein dürfen, hier arbeiten dürfen, dann ist es um ihren Job geschehen. Wäre es jetzt höchste Zeit für so was wie europäische Mindestlöhne?

Schüren: Ich glaube, das ist im Moment noch unrealistisch. Das Lohnniveau in den einzelnen Ländern ist sehr unterschiedlich, und das ist einfach durch einen europäischen Mindestlohn nicht zu gestalten. Ein Mindestlohn von, sagen wir mal, zwei oder drei oder vier Euro würde hier überhaupt keine Funktion haben. In manchen Ländern ist das Lohnniveau aber tatsächlich noch auf der Höhe.

Hatting: Das war ein Gespräch mit Peter Schüren, er ist Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsfragen an der Universität Münster. Herr Professor Schüren, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Schüren: Gern geschehen!