"Man muss die Reaktoren komplett fluten"

Sören Kliem im Gespräch mit Katrin Heise · 21.03.2011
Sören Kliem, Leiter der Abteilung Störfallanalyse im Helmholtz-Zentrum Dresden glaubt, dass in Fukushima das Schlimmste überstanden ist. Ganz sicher ist er angesichts der unklaren Informationslage aber nicht.
Katrin Heise: Entscheidende Stunden in Fukushima waren das. War der verzweifelte Kampf gegen den Super-GAU in Japans Katastrophenreaktoren bislang tatsächlich erfolgreich? Sören Kliem ist Leiter der Abteilung Störfallanalyse im Helmholtz-Zentrum Dresden, schönen guten Tag, Herr Kliem!

Sören Kliem: Schönen guten Tag!

Heise: Mit für Reaktorunglücke ja eher unkonventionellen Methoden wie Wasserwerfern, Feuerwehren, Hubschraubern versuchen die Japaner ja die Katastrophe aufzuhalten – momentan wird so ein Hoffnungsschimmer verbreitet. Herr Kliem, ist das der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein oder können Kernschmelzen damit tatsächlich verhindert werden?

Kliem: Also jegliche Aktionen, die dazu führen, dass Wasser in die Reaktoren kommt, ist zielführend also um eine Kernschmelze zu vermeiden. Und je weiter wir jetzt von Reaktorschnellauffüllung, also vom Störfallbeginn, also von dem Freitag vom 11. März uns entfernen, desto weniger Wasser wird auch benötigt, um diese gesamte Kühlung sicherzustellen. Weil ja die Nachzerfallswärme, die für die Überhitzung verantwortlich ist, auch mit der Zeit abfällt.

Heise: Was wissen Sie eigentlich, ob tatsächlich auch bereits stattgefundene Kernschmelzen in Fukushima gewesen sind?

Kliem: Also, Genaues kann man nicht sagen, weil man ja in die Reaktoren nicht reinschauen kann. Aber auf Basis der Informationen, die mir vorliegen – und da habe ich im Prinzip die Informationen, die auch alle zur Verfügung haben, also Meldungen des Betreibers der Kernkraftwerke, Meldungen der japanischen Aufsichtsbehörde und die entsprechenden Einschätzungen der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit –, auf Basis dieser Informationen würde ich sagen, dass in den ersten Tagen eine gewisse, also eine beginnende Kernschmelze stattgefunden hat. Also keine komplette, davon gehe ich nicht aus, aber dass auf alle Fälle Brennelemente in den Reaktoren eins bis drei beschädigt sind und es eine beginnende Kernschmelze gegeben hat, die dann aber durch Wassereinspeisung aufgehalten wurde. Davon gehe ich aus.

Heise: Das heißt, Sie nehmen auch an, dass also tatsächlich die Druckbehälter noch unbeschädigt sind?

Kliem: Also definitiv sind alle Reaktordruckbehälter noch intakt. Also ansonsten wäre die Strahlenbelastung größer.

Heise: Jetzt bekommen wir gerade eine aktuelle Meldung aus Fukushima, und da heißt es, dass das havarierte japanische Atomkraftwerk Fukushima am Montag, also heute evakuiert worden sei. Sämtliche Arbeiter seien aus der Anlage in Sicherheit gebracht worden, weil Rauch aus Reaktor drei aufsteige, und der Betreiber – also der teilte das mit, TEPCO –, in den Brennelementen dieses Reaktors befände sich hoch gefährliches Plutonium. Was ist dazu zu sagen?

Kliem: Also die Information mit der Evakuierung, die habe ich jetzt noch nicht gehört …

Heise: … die ist auch gerade jetzt in diesen Minuten eingelaufen.

Kliem: Ja eigentlich war Reaktor drei unkritischer als Reaktor zwei, da hätte ich eher gedacht, dass es dort problematischer ist. Aber Sie haben Recht, in den Brennelementen von Reaktor drei ist Plutonium drin. Aber von einem Austritt von Plutonium kann nicht die Rede sein, weil in dem Zustand, in dem die Reaktoren oder die Brennelemente jetzt sind, sind durch diese Druckentlastung radioaktive Partikel freigesetzt worden in allen Reaktoren, eins bis drei, die leicht flüchtig sind, also im Wesentlichen Jod und Cäsium. Und Plutonium ist ein schweres Element, was nicht flüchtig ist und nicht in die Luft geht. So was würde erst freigesetzt werden, wenn der Kern zerstört würde.

Heise: Und dieser Rauch, der da aufsteigen soll, deutet eben nicht darauf hin, dass der Kern zerstört wäre?

Kliem: Also Rauch … Ich würde mal eher sagen, es könnte vielleicht vom Brennelementbecken kommen, aber das sind Hypothesen, da kann ich jetzt nichts dazu sagen. Also der Kern sollte ganz sein, ich gehe nicht davon aus, dass die Reaktordruckbehälter kaputtgehen jetzt noch.

Heise: Apropos Hypothesen: Die Informationen der Japaner sind ja zum Teil etwas verwirrend, für Laien auf jeden Fall. Die USA hatten ja aus diesem Grunde auch eine Drohne über das Kernkraftwerk geschickt, um Daten zu bekommen. Welche Daten liegen Ihnen eigentlich vor für Ihre Analysen?

Kliem: Also es sind keine Analysen, die ich mache, das sind Einschätzungen. Das sind dieselben Informationen, die jeder hat, also im Wesentlichen das, was die japanischen Betreiber veröffentlichen, und was durch die GRS, also die Gesellschaft für Reaktorsicherheit, sozusagen interpretiert und aufbereitet wird. Und die Einordnung, die ich dann mache, mache ich auf Basis meines kerntechnischen Hintergrundwissens.

Heise: Sind Sie zufrieden mit den Informationen, die aus Japan kommen?

Kliem: Es sind eindeutig zu wenig Informationen, um realistische Einschätzungen oder belastbare Einschätzungen machen zu können. Aber die haben ja im Moment auch etwas anderes zu tun als die Welt zu informieren. Die kümmern sich darum, dass das dort im Rahmen bleibt.

Heise: Sören Kliem vom Helmholtz-Zentrum in Dresden, Herr Kliem, wie sieht eigentlich jetzt ein positives Szenario aus, was würde passieren, wenn es jetzt gut weiterginge, wenn eben Kernschmelzen tatsächlich verhindert werden könnten? Wie ginge es jetzt weiter?

Kliem: Also was gemacht werden muss, und daran arbeitet man ja: Man muss die Stromversorgung wieder herstellen und Wasser in die Reaktoren bringen. Derzeit hat man auf unkonventionellem Wege Meerwasser eingespeist, das hat auch sehr geholfen, dass, wie ich sagte, dass die eventuell beginnende Kernschmelze gestoppt wurde. Aber allerdings ist die Wassermenge, die darüber eingespeist werden kann, nicht ausreichend. Also man muss die Reaktoren komplett fluten mit Wasser, sei es Meerwasser oder sei es normales Wasser, und am besten auch noch die Sicherheitsbehälter, sodass von außen die Reaktordruckbehälter auch im Wasserbad stehen. Dann wird keine Radioaktivität außer der, die jetzt ausgetreten ist, austreten und die Reaktoren bleiben intakt und das gesamte radioaktive Inventar bleibt in den Reaktordruckbehältern.

Heise: Erst dann, würden Sie sagen, ist tatsächlich die Gefahr gebannt?

Kliem: Ja. Also ich gehe nicht davon aus, dass die Reaktoren sozusagen jetzt, oder die Reaktordruckbehälter jetzt noch kaputtgehen, aber trotzdem könnte es jetzt, wenn man das nicht sicherstellt, noch zu kleinerem sozusagen Austragen von Radioaktivität kommen. Und auch das muss verhindert werden, deswegen erwarte ich das Szenario, so wie ich es beschrieben habe, dass man das alles macht.

Heise: Durchspielen konnte oder musste man das ja Gott sei Dank so noch nicht. Woher kann man eigentlich solche Abläufe dann tatsächlich vorhersagen oder vorhersehen?

Kliem: Es gibt hypothetische Störfallbetrachtungen. Also es ist ja, wir haben es jetzt ja gesehen, also Kernreaktoren enthalten ein Gefährdungspotenzial und man muss wissen, was passiert im Störfall. Wir hier im Helmholtz-Zentrum in Dresden-Rossendorf, wir befassen uns mit der Analyse von leichten Störfällen. Schwere Störfälle werden in anderen Zentren untersucht, aber es wird auch untersucht zum Beispiel, wenn eine Kernschmelze stattgefunden hat, wie bekommt man am besten die Wärme weg? Zum Beispiel von außen den Sicherheitsbehälter fluten, sodass der Reaktordruckbehälter im Wasser steht, das hilft, die Wärme abzuführen. Und genau in diese Richtung gingen ja auch die japanischen Kollegen, indem sie Meerwasser in den Sicherheitsbehälter eingespeist haben, um den Reaktor von außen zu kühlen.

Heise: Sie sind Kerntechniker, Sie haben sich Katastrophen, so wie Sie es auch eben beschrieben haben, immer im theoretischen Bereich vorgestellt. Eine Katastrophe, wie sie jetzt in Japan passiert ist, in einer der am dichtesten besiedelten Gegenden der Erde, haben Sie sich das tatsächlich vorstellen können?

Kliem: Nein, definitiv nicht. Also unsere Arbeit ist darauf gerichtet, solche Katastrophen zu verhindern, also die Kernreaktoren so auszulegen, die Sicherheitstechnik so zu machen, dass das nicht passiert. Also das ist primäres Ziel.

Heise: Wie gehen Sie damit um? Also was macht das mit jemandem, wenn man sagt, wir haben die Aufgabe allesamt, das zu verhindern, jetzt ist es aber passiert?

Kliem: Also ich bin schockiert und ich bin auch sehr beunruhigt, dass das eben passieren konnte.

Heise: Wenn man das jetzt – also so kann man es nicht auf die Bundesrepublik übertragen –, aber in dem, alles, was passieren kann, was theoretisch vorstellbar ist, kann auch passieren, so diesen Satz kann man sich ja denke ich mal merken. Die Bundesregierung will deshalb sämtliche Reaktoren auf Sicherheit überprüfen, es kursiert ja beispielsweise ein Prüfkatalog aus dem Umweltministerium, das ARD-Magazin "Kontraste" hat es vergangene Woche berichtet, darin sollen aus Auslegungen über Kernkraftwerke, über Erdbeben, Hochwasser, Flugzeugabsturz neu berechnet werden, die Nachrüstungsmaßnahmen würden sehr hoch werden, was die Kosten anbetrifft. Wo sehen Sie Schwachstellen?

Kliem: Direkte Schwachstellen sehe ich jetzt nicht. Aber was ganz wichtig ist und was auch immer gemacht wurde, wenn irgendwo auf der Welt ein Vorfall oder ein Störfall in einem Kernkraftwerk aufgetreten ist, dass man den analysiert hat und geguckt hat, was ist davon auf die einzelnen Anlagen in Deutschland zu übertragen.

Und das ist jetzt auch ganz wichtig, dass man die japanischen Störfälle analysiert und schaut, was ist davon übertragbar speziell – ich meine jetzt nicht das Erdbeben oder den Tsunami –, sondern aber speziell die Funktionen oder die Gewährleistung des Funktionierens des Not- und Nachkühlsystems. Dort muss sehr genau hingeschaut werden und überprüft werden, ob eventuell noch Redundanzen oder ob noch zusätzliche Systeme installiert werden müssen, die eine längere sozusagen eigene Arbeit leisten, wenn wirklich über längere Zeit kein Zutritt ist.

Heise: Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, der hat gesagt, wir reichen mit der Atomkraft an kosmische Kräfte heran und die sind nicht unser Maß. Können Sie mit so einem Satz etwas anfangen als Kerntechniker?

Kliem: Also die möglichen Auswirkungen, wenn ein Störfall passiert, sind extrem groß. Und aus diesem Grunde … Also ich verstehe die Beunruhigung und ich bin auch beunruhigt, und deswegen muss man sich mit der Sicherheit befassen. Ob man jetzt der Meinung ist, man akzeptiert das Risiko oder man akzeptiert es nicht, das ist dann … Man kann das Risiko berechnen, aber ob man es dann akzeptiert oder nicht, das ist dann mehr eine politische Entscheidung.

Heise: Sören Kliem, Leiter der Abteilung Störfallanalyse im Helmholtz-Zentrum Dresden. Herr Kliem, ich danke Ihnen recht herzlich.

Kliem: Ich bedanke mich auch, auf Wiederhören!