"Man konnte einfach nur zuschauen, wie er verbrennt"

Christoph Rüter im Gespräch mit Dieter Kassel · 03.11.2011
Vor zehn Jahren starb der Dichter, Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch: Zum Todestag kommt jetzt der Film "Brasch. Das Wünschen und das Fürchten" in die Kinos. Regisseur und langjähriger Brasch-Freund Christoph Rüter erzählt, was für ein Mensch Thomas Brasch war.
Dieter Kassel: Vor zehn Jahren starb der Dichter, Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch. Hinterlassen hat er der Welt neben viel Geschriebenem auch viel Gefilmtes. Öffentliche Auftritte, eigene Filme, Gespräche und einige Aufnahmen -einige, eine große Menge von Aufnahmen! - die Brasch selbst im Laufe der Jahre mit einer privaten Videokamera gemacht hat.

Der Regisseur und langjährige Weggefährte und Freund von Thomas Brasch, Christoph Rüter, hat aus all diesem Material einen 90-minütigen Film gemacht, und heute, am Todestag, kommt dieser Film in die Kinos. "Brasch - das Wünschen und Fürchten" heißt er, und Christoph Rüter ist deshalb jetzt bei uns zu Gast. Schönen guten Tag, Herr Rüter!
Christoph Rüter: Schönen guten Tag!
Kassel: Sie sagen es auch in dem Film sehr früh: Sie haben Thomas Brasch kennengelernt in den 80er-Jahren, als Sie Dramaturg an der freien Volksbühne in Westberlin waren. Als Sie ihm das erste Mal begegnet sind, was war das für ein Eindruck, den er da auf Sie machte?
Rüter: Ja, phänomenal. Es war eine Idee von dem Regisseur Christof Nel, wir machten damals "Leonce und Lena", und Büchner war so ein Hausgott von Thomas Brasch, also das war bestimmt der, wo er sich am meisten mit beschäftigt hat, und er hatte gerade nichts zu tun, weil er hatte, ja seinen "Passagier" abgedreht, seinen dritten Film, und machte sehr gerne mit als künstlerischer Berater. Und Nel hielt es für eine gute Idee - und es gibt ja diese beiden Königreiche in "Leonce und Lena", Pipi und Popo, und Thomas ist ja nun von Pipi nach Popo oder von Popo nach Pipi gegangen, und balancierte immer so auf einem dünnen Seil, ihn da als künstlerischen Berater zu engagieren, und das hat er auch gemacht.

Und mein erster Eindruck war - weiß ich noch - bei der Konzeptprobe kam er so rein und guckte uns so an und war halt ganz stachelig und total aggressiv und widerborstig und putzte uns da irgendwie runter und so weiter und so fort, rief dann aber am nächsten Tag an und sagte: Wie war ich? Gut, alles prima, ganz toll - kam dann wieder und hat dann immer mehr Einfluss auf die Arbeit genommen, er hat sich immer mehr da reingebracht, und ich fand mich dann irgendwann auf seinem Sofa wieder, dann immer öfter, und hab ihn eigentlich fortan sehr gerne freundschaftlich begleitet.

Kassel: 1976 musste Thomas Brasch nach Westberlin, er ist quasi, wie er das selber auch gesagt hat, gegangen, gereist worden. Er findet selbst nicht das richtige Verb in ihrem Film für das, was da passiert ist. Da war nämlich sein Buch "Vor den Vätern sterben die Söhne" im Westen erschienen, nachdem es das im Osten nicht durfte. Für Biermann hatte er sich auch eingesetzt, und das Fass war voll, und er musste in den Westen. Wann waren Sie ihm so nahe, dass sie über diese Zeiten, also die Zeiten in der DDR, vielleicht auch seinen Vater, mit ihm sprechen konnten?
Rüter: Ach, das war eigentlich immer wieder Thema. Und natürlich: DDR sehr wichtig, obwohl sie ihm alles verboten hatten, was man verbieten konnte. Deshalb war das ja auch so, als er in den Westen kam, hatte er gleich diesen riesigen Output, und zwar auf allen Ebenen. Theaterstück, Prosa, und so weiter und so fort. Er war sofort in Deutschland weltberühmt, sagt man immer so schön - ist, glaube ich, auch eine Formulierung von ihm. Für mich ist er wirklich singulär, dieser Mann, auch in seiner Geschichte, weil er spiegelt ja das deutsch-deutsche Schicksal in seiner Person, verkörpert er das ja wirklich sehr genau: 45 geboren, in dem einen Land aufgewachsen, in das andere gegangen, sich nirgendwo zuhause fühlend, bis dann eben die Mauer fiel, dann gehörte er auch zu denen, die noch ein bisschen träumten und der DDR eine Chance geben wollten.

Diese Geschichte DDR war immer wieder Teil, was seine Erzählungen anbelangt. Er hatte ein wunderbares Gedächtnis, und er konnte Dinge schildern, präzise und genau, als wäre es gestern gewesen.
Kassel: Wenn man Pflöcke einhauen darf, gab es - so sehe ich das jetzt - vier wirklich prägende Ereignisse im Leben von Thomas Brasch, vier negative prägende Ereignisse: In frühester Jugend, diese Zeit im Internat, in der Kadettenschule der Nationalen Volksarmee in Naumburg, dann das nächste - für mich wäre es das schlimmste, aber ich bin mir nicht sicher, Sie haben ihn gekannt, dann diese Denunziation, als sein eigener Vater ihn bei der Stasi verpfiff, was dann auch dazu führte, dass er 77 Tage im Knast saß, verurteilt war er zu mehr, dann wurde er begnadigt, aber damit war der Schrecken nicht zu Ende, dann diese von ihm nicht gewünschte Ausbürgerung, nenne ich das mal, aus der DDR 76 und dann, ich glaube, nicht zu unterschätzen, das Verschwinden der DDR 1990. In den Gesprächen mit ihm, was für ein Gefühl hatten Sie, welches dieser vier Ereignisse war eigentlich das schlimmste?

Rüter: Es kommt ja noch hinzu, dass seine Eltern jüdische Immigranten waren, seine Mutter ist ja noch gezwungen worden, die Wiener Ringstraße mit einer Zahnbürste zu putzen. Die sind ja so eben noch entkommen. Das heißt, dieses Immigrantenschicksal spielte auch noch eine sehr große Rolle. Dann war sein Vater nicht nur Jude oder Kommunist, was Schlimmeres kann man sich ja in Deutschland kaum vorstellen, der dann sofort rüberging und in die Hände spuckte und die DDR mit aufbaute und dann die Familie sukzessive herüberholte.

Dieses Schicksal war bei ihm auch noch im Hintergrund vorhanden. Schlimm, ja, hart fand ich natürlich diese Kadettenschule, da mit elf Jahren hineinzukommen und gedrillt zu werden, und vier Wochen im Jahr durfte er nach Hause, damit war eigentlich seine Kindheit vorbei. Das war schon eine harte Geschichte und der Protest gegen den Einmarsch in Prag, der musste einfach sein, weil er ja für ein Land plädierte, in dem man nicht eingeschüchtert werden sollte, sondern indem man die Widersprüche offen austrägt.
Kassel: Da muss man vielleicht noch mal deutlich sagen, dieser Protest gegen den Einmarsch in Prag, da hat er auch Flugblätter mit verteilt, und das war das, wo sein Vater, ein hoher DDR-Funktionär, stellvertretender Kulturminister zeitweise, der hat damals gesagt, jetzt ist Schluss und hat seinen eigenen Sohn bei der Stasi angezeigt.
Rüter: Ja, die wussten einfach nicht weiter, die jungen Leute, nicht? Da gehört ja auch noch Florian Havemann dazu und Sandra Weigel und ein paar andere, und dann natürlich, nicht? Hoher Funktionär, du kannst doch irgendwas für uns tun, und dann hat der Vater verlangt: Stell dich! Und dann hat Thomas gesagt: auf keinen Fall. Und dann hat dann der Vater eben in diesem Falle seine Notbremse gezogen. Er hat dann später versucht, mit seinem Vater noch mal sich zu verständigen, aber da kam es dann auch nicht mehr so zu einem richtigen Gespräch, aber es war der Versuch da, sich noch mal anzunähern.

Kassel: Sie fragen natürlich, ich sage deshalb natürlich, weil die Frage stellt sich ja, wenn man mit einem Schriftsteller zu tun hat, persönlich und beruflich, Thomas Brasch in einem Interview, das Sie mit ihm geführt haben, das ist ein Teil des Materials, das sie für den Film genommen haben, Gespräche, es gibt unglaublich viele insgesamt, Sie filmen ihn und fragen ihn auch was, und er erzählt dann, Sie fragen ihn: Warum schreibst du? Und da ist eine ganz lustige Stelle, empfehle ich im Film, die hören wir jetzt nicht, da, finde ich, weicht er so ein bisschen aus und versucht das auch ins Lustige zu ziehen, indem er sagt: Die Frage ist viel zu intim! Du kannst mich nach Analverkehr fragen oder was du willst, aber nicht diese! Ich finde, es dauert dann aber gar nicht so lange, bis er die Frage ja mehr oder weniger trotzdem beantwortet, und diese Antwort hören wir uns jetzt mal an:
Thomas Brasch: Schreiben heißt für mich, öffentlich Angst überwinden oder es zu versuchen, weil ich mit dieser Angst und mit diesen Wünschen nicht allein bleiben will. Möchte ich sie gerne sagen, denn sonst machen sie mich zum Wrack, wenn sie dauernd an mir nagen wie hungrige Ratten, wenn ich nicht wenigstens versuche, sie öffentlich zu sagen, diese Angst und diesen Wunsch. Und vielleicht, ein paar Leute sagen, so geht es mir auch oder so ähnlich ist mein Angstschweiß auch, wenn ich daran und daran denke, sodass ich mir eine Gesellschaft mache, mir Leute zur Gesellschaft mache, indem ich öffentlich Wünsche, indem ich öffentlich Furcht habe.
Kassel: Thomas Brasch, das war ein Ausschnitt aus dem Film "Brasch - das Wünschen und das Fürchten". Der Film kommt heute, am zehnten Todestag vom Brasch in die Kinos, und deshalb reden wir mit dem Regisseur des Films, mit Christoph Rüter. Herr Rüter, er beschreibt ja nun in der Tat, finde ich, eigentlich doch das, was sie ihn gefragt haben, nämlich: Warum schreibst du? Und das kommt schon relativ am Anfang des Films, ist eine ganz frühe Phase, wenn man den Film dann zu Ende guckt - und der ist nicht durchgehend chronologisch, aber endet natürlich schon mit der letzten Phase der schweren Krankheit und auch dem Tod von Thomas Brasch, da muss man eigentlich das Fazit ziehen, das, was er da beschrieben hat, auch so ein bisschen diese Rettung durch das Schreiben und durch das sich selbst öffentlich machen hat am Ende nicht funktioniert.

Rüter: Nein, nach der Wende war das irgendwie so ein Gefühl, als hätte man ihm so den Teppich unter den Füßen weggezogen. Er hat zwar da viel produziert - und sein letzter öffentlicher Auftritt war dann auch noch witzigerweise im DDR-Fernsehen, da gibt es eine Talkshow, wo er noch mal schwerst für Karl Marx und so weiter plädiert, und danach hat er sich wirklich sehr zurückgezogen, aber hat ein riesiges Konvolut noch getippt, ansonsten war es wirklich ein lauter öffentlicher Rückzug, kann man schon sagen, da ist ihm was abhandengekommen.

Solange es die DDR gab, gab es für ihn auch immer noch die Möglichkeit, anders zu denken, also eine Utopiemöglichkeit, er träumte genau so wie die anderen Künstler nach dem vierten November - die große Demo am Alexanderplatz, diese fünf Tage, bis die Mauer fiel, das waren ja so fünf Tage, in denen die DDR-Künstler insbesondere träumten von dem dritten Weg, ja, das war dann aber alles vorbei, und ihm war da wirklich etwas abhandengekommen, er hat da wirklich, glaube ich, da auch drunter gelitten, und natürlich hatte er auch eine sentimentale Beziehung, also kommen wir wieder auf den Vater, zu dieser Antifaschisten-Generation.

Das, was der Kapitalismus anbietet, das hat ihm irgendwie nie gereicht, sondern er wollte die Welt immer als eine veränderbare erleben und auch sie mit seinen Wünschen durchsetzen. Und so schwieg er dann eben und lebte auch nicht sehr gesund, redet ja auch ganz offen über seinen Drogenkonsum, bis er dann wirklich zusammenbrach. Man konnte ihm da auch nicht helfen, und man konnte einfach nur zuschauen, wie er verbrennt.
Kassel: Er hat ja eine Menge gemacht, etwa drei oder vier - er hat auch Filme gedreht. Sie haben "Passagier" erwähnt, für den konnte er Tony Curtis gewinnen. Das wird bleiben, aber irgendwie muss man sagen, nach der Wende, weil er dann auch plötzlich ja kein Thema mehr hatte - beide Deutschlands waren ja weg, sein altes Westberlin, in dem er lange gelebt hatte, war auch weg, da hat er in Charlottenburg gelebt bis zum Umzug zum Schiffbauerdamm, nach der Wende ist er schon auch in Vergessenheit geraten. Hat ihn das gekränkt?

Rüter: Ja, sein eigener Verleger, Siegfried Unseld, hat mal zu ihm gesagt: Sie sind zu Lebzeiten vergessen, Herr Brasch. Da kannst du dir überlegen, der eigene Verleger sagt das. Aber er war tatsächlich vergessen, weil er sich in keinster Weise mehr zeigte. Es gab da noch mal einen blöden "Stern"-Artikel, aber es gab keine Interviews und so weiter und so fort. Es war wirklich ein Schweigen.
Kassel: Der Regisseur Christoph Rüter über seinen Film "Brasch - das Wünschen und das Fürchten". Heute, am zehnten Todestag des Dichters Thomas Brasch kommt der Film in rund 25 deutschen Städten in die Kinos.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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