"Man darf Kinder nicht demütigen"

Heinz Hilgers im Gespräch mit Birgit Kolkmann · 14.03.2009
Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, hat vor einem "defizitorientierten" Ansatz in der Kinder- und Jugendhilfe gewarnt. Vor dem Hintergrund des Amoklaufes von Winnenden sagte Hilgers, auch in gehobenen Gesellschaftsschichten gebe es "durchaus Probleme".
Birgit Kolkmann: Die Eltern des Todesschützen von Winnenden sind mit ihrer 15-jährigen Tochter buchstäblich geflüchtet vor dem Medienrummel um den Amoklauf ihres Sohnes. Angst vor Rache mag auch eine Rolle spielen. Aber vielleicht noch mehr die Ohnmacht, ihre Scham. Psychologische Betreuung haben sie abgelehnt. Dem Sohn hatte die Musterungsstelle der Bundeswehr offenbar eine psychische Erkrankung attestiert.

Bis heute kursierten Informationen, Tim K. sei in psychiatrischer Behandlung gewesen, habe diese am Wohnort aber nicht fortgesetzt. Heute ließen die Eltern über ihren Anwalt dementieren, dass Tim eine psychische Erkrankung gehabt habe. Er sei auch nie in Behandlung gewesen. Und im Keller des Elternhauses habe es keinen Schießübungsstand für Tim gegeben.

Aber dass Tim in seinem Verhalten auffällig gewesen ist, scheint außer Frage zu stehen, und die Bluttat ist nicht zu dementieren. Wie müsste gefährdeten Kindern und ihren Familien geholfen werden? Ich bin mit Heinz Hilgers verbunden. Er ist Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes und Bürgermeister in Dormagen. Guten Morgen!

Heinz Hilgers: Ja, guten Morgen!

Kolkmann: Herr Hilgers, wie helfen Sie in Ihrer Stadt Familien, Kindern, die auffällig geworden sind, wenn das bekannt wird?

Hilgers: Wir werden uns an alle. Wir wenden uns von der Geburt an alle Familien, ja sogar in der Schwangerschaft schon, und versuchen, ihnen mit einer Kultur der Wertschätzung und Hilfsbereitschaft entgegenzukommen und ihnen alle Hilfe zu bieten, die notwendig ist, die wir feststellen schon beim Erstbesuch. Es wird also jede Familie nach der Geburt besucht. Wir haben auch erreicht, dass alle Kinder ab dem dritten Lebensjahr in der Kindertagesstätte sind. Es gibt also kein Kind, auch arabischer Eltern oder türkischer Eltern oder russischer Eltern, das nicht in der Kindertagesstätte ist mit drei. Und wir arbeiten daran, dass es den Kindern halt gut geht.

Kolkmann: Wenn es aber eine Familie gibt, wo es schon richtig schlimm aussieht, wo es den Kindern nicht gut geht, wie groß ist dann die Bereitschaft der Eltern, überhaupt zu sprechen und sich helfen zu lassen?

Hilgers: Die Bereitschaft ist sehr groß. Die Eltern spüren schon, dass sie Probleme haben. Der entscheidende Punkt ist eben, dass man nicht defizitorientiert auf sie zugehen darf. Man darf nicht sagen, du hast das und das Problem, sondern eben genau der Punkt, wertschätzender Umgang, das ist der Punkt, bei dem Hilfsbereitschaft auch angenommen wird.

Kolkmann: Die Frage ist, wer geht denn auf die Familien zu, auf die Eltern zu und auf die Kinder auch? Muss das ein Zusammenklang sein von Schule, von Lehrern, Freunden, Umfeld und auch von Offiziellen, von Verwaltungsstellen?

Hilgers: Ja. Wir haben also ein Netzwerk gebildet, in dem alle Institutionen der Bildung, der Gesundheitsvorsorge, aber auch der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe zusammenarbeiten. Und das ist natürlich nicht so, dass da jetzt sich 1000 Menschen treffen, aber in dem Netzwerk sind, orientiert an den Altersgruppen der Kinder – von eben in der Schwangerschaft, dann von null bis drei, von drei bis sechs und von sechs bis zehn, und wir arbeiten jetzt auch daran, das über das zehnte Lebensjahr hinaus auszudehnen – immer alle Institutionen.

Und natürlich auch die konkreten Menschen, die mit den Familien arbeiten, sind immer dabei. Die kennen sich, die wissen, wer welche Kompetenzen hat, und die sind dadurch in der Lage, die jeweilige richtige Person der Familie zu vermitteln. Aber das heißt natürlich nicht, dass auch bei uns nicht etwas Schreckliches passieren kann, dass nicht auch bei uns ein Baby umgebracht werden kann oder etwas anderes geschieht. Dies ist zwar noch nicht vorgekommen, aber eine 100-prozentige Sicherheit gibt es natürlich nicht.

Kolkmann: Im Fall von Tim K. hat ja auch niemand interveniert, obwohl es ja offensichtlich Hinweise gab im Verhalten des Kindes, die nicht so ganz normal waren. Kann es sein, dass sich das Umfeld – Nachbarn, Lehrer, Freunde, Bekannte – vom doch wohlhabenden und scheinbar sehr wohlgeordneten Umfeld des Elternhauses haben blenden lassen?

Hilgers: Das ist das Problem. Und wir haben in der Tat schon gesellschaftliche Veränderungen zu beobachten. Wir haben mal 2005 eine umfassende Untersuchung in unserer Stadt gehabt, da haben wir festgestellt, dass zum Beispiel auch 22 Prozent der Kinder von Eltern, die Abitur hatten, bei der Einschulung sprachentwicklungsverzögert waren oder andere Defizite hatten.

Und das heißt, es gibt auch in gehobenen gesellschaftlichen Schichten durchaus Probleme, und deswegen wenden wir uns an alle Kinder. An alle Eltern, an alle Kinder und nicht nur defizitorientiert an die, die zum Beispiel in sozial schwachen Stadtteilen wohnen oder die arbeitslos sind oder andere Defizite haben, sondern wir gehen wirklich zu jedem.

Kolkmann: Hingehen ist das eine, aber die Kinder da fördern, wenn sie nicht in den Familien sind, nämlich in der Schule oder in der Freizeit, und sich da intensiver um sie kümmern – wäre das ein Ansatz, um Störungen aus dem familiären Umfeld auszuschalten oder zumindest zu neutralisieren, mit einem Gegengewicht zu versehen, dass die Kinder sich dort angenommen fühlen?

Hilgers: Auf jeden Fall. Und das ist natürlich eine Arbeit, die nicht von heute auf morgen zu erledigen ist. Es ist schon so, dass in der Gesellschaft Dinge über Jahrzehnte und über viele Jahre eingerissen sind, dass auch in der Schule noch Kinder gemobbt werden und Kinder sozusagen – früher hat man gesagt, stell dich in die Ecke, aber das gibt es ja auch psychologisch, nicht nur im Wortsinne – auch von wirklich geschulten Pädagogen eben Maßnahmen getroffen werden, die die Kinder zutiefst treffen, demütigen. Und genau da ist der Punkt, das muss aufhören.

Man darf Kinder nicht demütigen, man muss Kinder immer auch wertschätzend behandeln, sie ernst nehmen, dafür sorgen, dass sie sich ernst genommen fühlen, sie auch beteiligen. Partizipation ist ein wunderbares didaktisches Mittel, das man einsetzen muss. Und ich plädiere sehr dafür, dass unsere gesamte Gesellschaft den ersten Schritt macht zu Respekt und Toleranz und dann von Respekt und Toleranz sich steigert zur Wertschätzung und zur Hilfsbereitschaft.

Kolkmann: Vielen Dank, Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes und Bürgermeister in Dormagen. Vielen Dank für das Gespräch hier in der "Ortszeit".