"Man braucht also wirklich eine internationale konzertierte Aktion"

Mycle Schneider im Gespräch mit Ulrike Timm · 13.04.2011
Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima befürchtet der Atomkritiker Mycle Schneider, dass die japanische Regierung nach dem Ausrufen der höchsten Gefahrenstufe das Katastrophenmanagement nicht alleine in den Griff bekommt.
Ulrike Timm: Seit gestern kennt die Welt zwei Atomunfälle der Stufe sieben, der höchstmöglichen auf der Skala, Tschernobyl und jetzt auch Fukushima – wobei Tschernobyl als loderndes Feuer beschrieben wird, denn der Reaktor explodierte und schleuderte die Radioaktivität von Anfang an kilometerhoch in die Atmosphäre, Fukushima wird eher als Schwelbrand benannt.

Bislang setzte der japanische Reaktor nur zehn Prozent der Strahlung von Tschernobyl frei, aber es kommt immerzu etwas nach. Die Gefährlichkeit wird jetzt gleichgesetzt. Warum, und welchen Wert dieser Status Stufe sieben überhaupt hat, auch darüber spreche ich jetzt mit Mycle Schneider, er hat 1997 den Alternativen Nobelpreis für seine fundierte Kritik an der Atomkraft erhalten, arbeitet als Berater und hat sich insbesondere mit japanischen Atomkraftwerken intensiv beschäftigt. Schönen guten Tag, Herr Schneider!

Mycle Schneider: Schönen guten Tag!

Timm: Japanische Atomkraftwerke galten immer als besonders sicher. Wie schätzen Sie denn die Formulierung ein, die uns täglich ereilt, der Reaktor sei noch nicht unter Kontrolle, wird er denn überhaupt unter Kontrolle zu bringen sein?

Schneider: Hier handelt es sich jetzt sicherlich um eine der größten Herausforderungen an Technologie und Wissenschaft, wenn nicht überhaupt die größte katastrophale Situation, die in einem solchen Bereich entstanden ist in der Geschichte der Menschheit. Die Komplexität ist ja vor allen Dingen deshalb so hoch, weil es handelt sich eben nicht nur um einen Reaktor, sondern es handelt sich gleich um vier Reaktoren in Fukushima, die in sehr problematischem Zustand sind, also wo drei Reaktoren mit Sicherheit teilgeschmolzenen Kernbrennstoff haben, schwerstbeschädigt der Kern ist, wo Radioaktivität permanent freigesetzt wird, und der vierte Reaktorkern ja nun in einem Abklingbecken liegt, das im vierten und fünften Stock praktisch nach einer Wasserstoffexplosion im Freien liegt. Diese Situation unter Kontrolle zu bringen, wird auch national für meine Begriffe so nicht funktionieren, wie es bisher gehandhabt wird. Man braucht also wirklich eine internationale konzertierte Aktion.

Timm: Was könnte man denn da tun? Denn mit diesem Vorfall hat man ja schlicht keine Erfahrung. Kann eine international konzertierte Aktion die Sache unter Kontrolle bringen, oder ist das auch eine Beschönigung, und das schwelt jahrelang noch so weiter wie jetzt?

Schneider: Es gibt keine definitive Antwort darauf, weil es keine Strategie gibt, die vorab definiert worden ist, weil es, wie Sie richtig sagen, eine solche Situation noch nicht gegeben hat.

Aber ich denke, weil die Herausforderung so wahnsinnig komplex ist, bräuchte man wirklich die besten Köpfe, die man weltweit zusammenziehen kann und vor allen Dingen auch in den verschiedenen Bereichen. Es geht ja um Kernphysik, es geht um Ingenieurwesen, es geht um Statik, es geht um Stromtechniken, das sind ja ganz verschiedene Bereiche. Das gesamte Wassermanagement zum Beispiel ist hochkomplex. Und hier sollte auch die internationale Staatengemeinschaft ganz klar ein Angebot unterbreiten an Japan und sagen: Wir sind da, wir haben Experten, die helfen können, und man muss also wirklich kurz-, mittel- und langfristige Strategien entwickeln, wie man damit, mit dieser Situation umgehen kann.

Timm: Sie empfehlen unter anderem messen, messen, messen. Nun wird ja viel gemessen. Was genau sollte man denn noch ordentlicher messen, und wo?

Schneider: Das Problem, was sich ja stellt, ist, dass man auf der einen Seite eine Freisetzung hat von Radioaktivität, die permanent ist. Und Sie haben den Begriff Schwelbrand benutzt. In der Tat ist es ja so, das, was in Tschernobyl passiert ist, mit sich geführt hat, dass sehr viel Radioaktivität in mehrere Kilometer Höhe transportiert worden ist, und dann – bei dem, was man den Kamineffekt nennt – und dann über den ganzen Kontinent verbreitet wurde. Wenn es in Japan jetzt ein Schwelbrand ist beziehungsweise Radioaktivität in die Umwelt sickert auf verschiedene Arten und Weisen, dann ist vielleicht die gute Nachricht für umliegende Länder, dass es weniger weit passiert, aber wenn – stellen Sie sich vor, es wird jetzt geschätzt, dass mindestens zehn Prozent im Vergleich mit Tschernobyl bereits freigesetzt worden sind. Wenn sich diese zehn Prozent aber nur auf ein Prozent der Landfläche verbreiten, und diese Landfläche also Dutzend mal höhere Bevölkerungsdichte hat, dann haben wir bereits in der Auswirkung auf Umwelt und Mensch einen viel höheren Effekt als in Tschernobyl.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Atomkritiker Mycle Schneider, er hat sich insbesondere mit japanischen Atomkraftwerken beschäftigt. Herr Schneider, seit gestern werden jetzt ja auch Orte außerhalb der 20-Kilometer-Zone evakuiert, weil die Strahlenbelastung einfach zu hoch ist, und die japanische Regierung war äußerst zögerlich mit der Aufforderung, diese Gebiete zu räumen – weil sie weiß, dass sie diese Aufforderung voraussichtlich noch oftmals wird aussprechen müssen?

Schneider: Zunächst einmal bin ich davon ausgegangen, dass die Situation so schwierig war für die japanischen Behörden, dass ich mich gehütet habe, mit dem Finger zu zeigen. Allerdings, als die Einstufung Level fünf kam nach einer Woche, wurde eigentlich ziemlich klar, dass es sich hier um eine Verharmlosungsstrategie handelt.

Und das ist unter vielen Experten – übrigens nicht nur unabhängige Experten, sondern auch staatliche Behörden in anderen Ländern drängen seit zwei Wochen mindestens darauf, die Evakuierungszone zu erweitern. Ich hatte gesagt, messen, messen, messen. Vor allen Dingen, weil ja auch bei schwangeren Frauen und Kleinkindern die Radiosensibilität viel höher ist, das heißt, die Evakuierungen, die stattfinden, sollten nicht nur in einem weiteren Umkreis stattfinden, wo man einfach auch feststellen kann, dass die Kontaminationswerte gigantisch hoch sind, zum Teil viel höher als in 40 Kilometern, als in der 30-Kilometer-Evakuierungszone um Tschernobyl herum zum Beispiel, dass man schwangere Frauen und Kleinkinder zuerst, prioritär evakuiert und dann progressiv tut, was man kann. Und das kann man am besten, wenn man weiß, wo welche Belastung in Lebensmitteln, in der Luft und im Wasser vorhanden sind.

Timm: Können Sie eine Marke setzen, wo Sie sagen würden, so und so viel Kilometer Umkreis werden auf Jahrzehnte, vielleicht noch länger unbewohnbar sein, da werden Menschen nicht mehr leben können, wie groß dieser Umkreis etwa sein wird, kann man das überhaupt schon sagen?

Schneider: Nein, das ist noch überhaupt nicht möglich. Das Einzige, was man weiß, ist, dass bereits Cäsiumwerte gefunden worden sind in einer Entfernung über 40 Kilometer, die so hoch liegen, dass man aus Erfahrung weiß – und man muss ja leider sagen, man hat ja nun die Erfahrung von Tschernobyl, wo – ich erinnere mal daran, dass über 100.000 Schafe in England noch auf Tschernobyl-kontaminierten Weiden großgezogen werden, die dann mehrere Monate auf unkontaminierte Weiden geführt werden müssen, bevor sie einer Schlachtung zugeführt werden können, damit das radioaktive Cäsium im Fleisch wieder so abnimmt, dass es überhaupt verzehrbar ist. Das ist schon ...

Timm: ... und heute morgen kam noch die Meldung, dass immer noch Geld gezahlt wird an Jäger zum Beispiel, Ausgleichszahlungen, Hunderttausende, weil es immer noch kontaminiertes Fleisch gibt.

Schneider: Auch in Deutschland gibt es nach wie vor, besonders bei Schwarzwild, hohe Kontaminationswerte, die dazu führen, dass das Fleisch nicht verzehrbar ist. Man kennt es ja nun, das kuriose ist, dass man die Lektion – der Mensch lernt die Lektionen aus der Geschichte, nicht. Und wir wissen, dass die einzige Möglichkeit ist, einfach wirklich zu messen, und man kann nur darauf drängen, dass erstens evakuiert wird aus einem weiteren Umkreis. Man kann heute nicht sagen, in welchem Umkreis. Ich halte es für entscheidend, dass die Dynamik der Evakuierung wieder aufgenommen wird. Die Tatsache, dass es so spät passiert, hat jetzt auch zu einem Umstand geführt, was es erheblich schwieriger macht, weil sich die Leute zum Teil selbst evakuiert haben, weil man gar nicht mehr weiß, ist jetzt jemand nur vorübergehend nicht da oder hat der sich selbst evakuiert? Man kann die Leute nicht mehr kontaktieren, das Ganze wird viel komplizierter.

Timm: Als Kritiker der Atomenergie haben Sie mal gesagt, das sei keine Brückentechnologie, das sei eine Mauer. Was genau meinen Sie mit Mauer?

Schneider: Ich meine damit: Der Begriff der Brücke war ja so gemeint, dass man die Atomenergie eine gewisse Zeit lang braucht, bis man zu etwas anderem gefunden hat. Und für meine Begriffe ist eindeutig inzwischen, dass man nur woanders hinkommt, wenn man die Barriere Atomkraft beseitigt. Es sind keine komplementären Systeme, sondern es sind gegensätzliche Systeme.

Und das ist vielleicht, was sich auch mehr und mehr zeigt. Wir haben schon seit zwei, seit etwa zweieinhalb Jahren in Deutschland negative Strompreise, das heißt, es gibt Unternehmen, die dafür Geld bezahlen, dass sie ihren Strom loswerden. Das zeigt einfach, dass das System, so wie es betrieben wird, irgendwo an eine Grenze gelangt ist oder an eine Mauer gelangt ist, und wir einfach komplett neu überdenken müssen, wie die Infrastruktur und wie die Struktur dieses Systems aussieht.

Timm: Der Atomkritiker Mycle Schneider – 1997 hat er den Alternativen Nobelpreis erhalten – über die Situation in Fukushima, die uns noch viele Jahrzehnte, wie er meint, beschäftigen wird. Ich danke Ihnen, Herr Schneider, für das Gespräch.

Schneider: Ich danke ebenfalls!


Sammelportal "Katastrophen in Japan"
Bundesamt für Strahlenschutz: Fragen und Antworten zu Japan