Malerische Klinken

Von Almuth Knigge · 07.07.2005
Das Schicksal der berühmten Rügener Kreideklippen ist besiegelt - unerbittlich nagen Witterungseinflüsse an ihnen und lassen sie nach und nach in der Ostsee verschwinden. Die weißen Zacken - Sehnsucht nach der Natur - festgehalten von Malern und Dichtern wie Ernst-Moritz-Arndt und Caspar David Friedrich. In den frühen Morgenstunden lässt die Sonne die Kreide-Küste Rügens blendend weiß erstrahlen. Zahllose Schwärmer und Landschaftsmaler suchten hier den berühmten Blick von Caspar David Friedrich und glaubten ihn, in den Wissower Klinken gefunden zu haben. Jetzt stehen sie vor einem anderen Motiv - denn die Wissower Klinken sind in ihr Element zurückgekehrt - für die Künstler auf der Insel Verlust und Chance zugleich.
" Das also ist ein verschwindend kleiner Teil der Kreideküste Rügens wo Brahms damals, vor 129 Jahren die Vollendung seiner ersten Sinfonie fand. "

Blick auf die Rügener Kreidefelsen bei Sassnitz - die bizarre Gesteinsformation präsentiert sich in der steigenden Sonne mit ihrem schönsten Zahnpastalächeln. Der Rentner Hans Alber stapft mit Melone und Frack unsicher tastend, halt suchend auf Kies, Ästen und Steinen vor der Naturkulisse hin und her, die schon unzählige Dichter, Maler und Musiker inspiriert hat - so wie Brahms - in dessen Rolle Hans Alber für Touristen gerne mal schlüpft.

"Er hatte ja 1860 schon seine erste Sinfonie begonnen. Und hat die ersten drei Sätze zu einem guten Ende gebracht, aber der vierte Satz wollte und wollte ihm nicht gelingen. Und er zählte damals in Wien zum Freundeskreis von dem berühmten Chirurgen Theodor Billroth, der ihm einmal riet, er möge doch die Insel Rügen aufsuchen, so kam Brahms im Sommer 1876 hier nach Rügen. "

Vier Jahre später besuchte Theodor Fontane die Insel. Wenn man unterhalb der weißen Kliffs am Kieselstrand entlang schlendert und aus der Froschperspektive die Steine betrachtet, hat man den gleichen Blick, den der Dichter gehabt haben muss. Fontane legte seine Begeisterung für die Naturwunder der Insel seiner Effi Briest in den Mund - Das ist ja Capri, das ist ja Sorrent - oh Geert, hier bleiben wir - lässt er seine Romanheldin ausrufen.

"Und er war ein Frühaufsteher. Morgens um vier Uhr schon durchstreifte er die Wälder der Stubnitz und die Schönheit der Kreideküste nahm ihn so gefangen, dass er noch hier in Sassnitz den vierten Satz seiner ersten Sinfonie Nr. 1 C-Moll Opus 68 zu Ende brachte. Und als er es fertig hatte, schrieb er an seinen Berliner Freund und Verleger Simrock: Ich glaube an der Kreideküste ist eine hübsche Sinfonie hängen geblieben. "

Gedicht: "
Wissower Klinken.
Abschied.
Verschwunden ist die weiße Pracht
bizarrer Kreidezinken
Sie glitten in die See bei Nacht
Stolze Wissower Klinken"

Abschied von den Wissower Klinken. Mit den Zeilen auf die abgestützten Kreidefelsen hat der Rentner Werner Ritter einen Preis beim Literaturwettbewerb des Nationalparkzentrums Jasmund gewonnen.

"Es holt das Meer sich nun zurück
was einst in ihm geboren
Die Küste bröckelt, Stück um Stück
geht so für uns verloren"

Wehmut vermischt mit romantischer Schwärmerei. Die Rüganer veranstalteten eine Trauerfeier für die berühmten Kreidezacken, die zum Wahrzeichen der Insel geworden sind - und Hunderte kamen.

"Naja, ich bin seit 45 hier auf Rügen und in Sassnitz, und mit der Küste hier, mit der Natur mit der Stadt und so weiter mit der ganzen Umgebung eigentlich eng verbunden. Wir gehen immer spazieren, regelmäßig, als Kind schon, später mit der Familie mit den Kindern und heute auch noch und man hängt an diesem Stückchen Landschaft und wenn etwas davon abbröckelt, etwas kaputt geht und so weiter, leidet man damit, das ist ganz normal, denk ich mal. "

Dass die Wissower Klinken einmal abbrechen würden, davor hatten die Umweltbehörden schon vor zwei Jahren gewarnt. Schon damals zeigten sich Risse.

"So schließt sich nun auch hier der Kreis
von Werden und Vergehen
Auch die Natur zahlt ihren Preis
ob wir das je verstehen? "

Eine Ursache dafür liegt rund hundert Jahre zurück - damals haben die Menschen zum Straßenbau Steine aus dem Uferbereich geholt - und damit den natürlichen Wellenbrecher entfernt, der die Küste über Jahrhunderte geschützt hat. Der Weg mit dem Auto zu dem Naturdenkmal führt genau über so eine Straße - über abertausende, kopfgroßer Steine.

"Nun färbt die See sich milchig weiß
jetzt heißt es Abschied nehmen
der Wind rauscht in den Buchen leis'
Und trocknet manche Tränen "

Kreidebleich - Als er die Nachricht von dem Absturz der Wissower Klinken gehört hat, ist dem Berliner Maler Matthias Köppel der Schreck in die Glieder gefahren - genau an der Stelle hat er vor 1994 Jahren ebenfalls gesessen und gemalt. Der Anblick hat ihn, wie viele andere Maler vor ihm, tief berührt. In einem Brief an einen Freund schrieb er 1994.

"Lieber Peter, also die Wissower Klinken sind kein Motiv für dich. Du kannst nämlich nicht mit dem Auto vorfahren, sondern musst deinen schönen Kraftwagen für viel Geld bei einem unfreundlichen EX-DDR-Parkwächter abstellen und mit Sack und Pack durch einen hohen Buchenwald wandern, um an die Stelle zu kommen, wo es gilt eine etwa 20 Meter lange Leiter über die Kreidefelsenwand herabzusteigen. Unten angekommen stellten wir unsere Feldstaffeleien direkt an der Uferlinie auf und zwar dort wo ein kleiner Windschatten war. Hier bestimmt der Wind die Motivauswahl. Scharfes Seitenlicht von links ließ die berühmten Zinken besonders plastisch und markant erscheinen. Man konnte es berechnen - bis Mittag mussten die Klinken fertig sein, dann rückt die Sonne sie ins Gegenlicht. "

"Um die Mittagszeit, kurz vor eins hatten wir das beste Licht, so dass dieser große Zacken da beleuchtet war, dann geht die Sonne immer weiter rum, dann wird der Zacken ganz langweilig grau und abends mit Sonnenuntergang waren wir mit unseren Studien, die wir vor Ort gemacht haben fertig. Also die Studien waren ja 50 mal 70 cm groß, und nach dieser Studie, auf der schon im Kleinen alles drauf ist, was hier auf dem großen Bild drauf ist, habe ich dann im Atelier dieses große Format gemalt. "

Das Gemälde, das nach den Skizzen entstand, zeigt auf zwei Meter Breite und anderthalb Metern Höhe die Klinken aus der Uferperspektive. Der Obere Zacken strahlt wie die Spitze eines Alpinen Berges im Warmen Licht der Mittagssonne. Unten am Strand strömen Manager in schwarzen Anzügen entlang, das Mobiltelefon in der Hand - als ob sie das Gebiet unter sich aufteilen würden. Das Bild von Matthias Köppel heißt "Die Investoren".

"Die Wende war ja noch nicht allzulange vorüber und da fing man gerade an, sich Gedanken zu machen, wie die ehemalige DDR am besten wohl zu vermarkten sei. Und als ich da so saß, und meine Studien machte, da kam ganz selten mal überhaupt ein Mensch vorbei, und da hatte ich merkwürdigerweise diese Vision, man kann das tatsächlich eine Vision nennen, denn in Wirklichkeit waren die natürlich nicht da, aber man las schon überall in den Zeitungen was hier und dort auf der Insel Rügen für Projekte geplant seien und um das nun mal auf einen drastischen Punkt zu bringen hab ich dann das deutlichste Merkmal mir ausgesucht, nämlich die Wissower Klinken. "

So hat der Maler - unbewusst - die Zerstörung der Felsen vorweggenommen.

Die Wissower Klinken - vermeintlich haben sie Modell gestanden für das berühmte Bild von Caspar David Friedrich. Die Hochzeitsreise führte den Maler auf die Insel. Bei Spaziergängen durch den romantischen Buchenwald kam das Paar wohl häufig an den WIssower Klinken vorbei. Heute scheinen die mächtigen Felsen vom Erdboden verschluckt zu sein, im wahrsten Sinne des Wortes - stattdessen führt der geglättete Abhang hinunter zu einer dunklen schwer einsehbaren Stelle, die wie ein Trichter die Felsmassen aufgesogen zu haben scheint. Doch immer noch bestechen die Farben Türkis das Meer, das Grauweiß der Felsen, Braun-Ocker die Böden. Jedes Holz, jeder Baum, hat seine eigene Farbe.

Das Licht erscheint anders als auf dem Festland und es ist schwer zu erklären warum. Jörg Korkhaus kennt den Effekt:

"Ich glaube, das Licht auf Rügen hat auch was letzten Endes zu tun wie es auf die Dinge strahlt. Wir haben dieses besondere Licht ja nicht immer, das zieht dann die Maler an. Ich glaube, die Wasserfläche ringsum bringt diese Farben so richtig zum gelten. "

"Ich habe vor einiger Zeit davon gesprochen, von den so genannten Rügen-Farben. Für mich sind die Rügen-Farben hier zu sehen. Das sind die braunen Erdtöne, das ist natürlich das Weiß der Kreide aber auch der Sande, die wir eben hier sehen, das sind für mich die Farben, die Rügen eigentlich so typisch machen. "

"Kreide liegt ja fast überall auf Rügen an, aber dort steigt sie eben empor vom Meer aber wenn Sie einmal einen Sonnenaufgang dort erlebt haben das Licht auf der Kreide sehen - dann wissen sie was ich meine! Ganz genau kann man es nicht beschreiben, ich hab mal gesagt, mich erfasst dort ein Gefühl von Ergriffenheit, fast ein religiöses Gefühl, obwohl ich kein religiöser Mensch bin. Aber so tief rührt es mich eben an dann sag ich nur dann muss man es malen, dann muss man sich so ausdrücken, wie man es kann. "

Kein Wunder, dass auch Caspar David Friedrich an diesem Ufer Muße suchte, um seiner romantischen Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Noch bis vor kurzem suchten zahllose Schwärmer, Landschaftsmaler den berühmten Blick und glaubten ihn, in den Wissower Klinken gefunden zu haben - aber:

"Kenner wissen, dass Friedrich die Klinken nicht hier gemalt hat, sondern das die noch gar nicht existierten. "

Caspar David Friedrich, da ist Jörg Korkhaus sicher, muss nordwestlich des Königstuhls gestanden haben, als er sein berühmtes Bild malte.

"Die Klinken, die Friedrich malte sind heute noch fast genauso da, aber bei der Victoria-Sicht und das ist ne ganz andere Kreidescholle und die wird noch ne Weile so stehen bleiben. "

Auch Jörg Korkhaus hat die Klinken, die Wissower Klinken - auf Leinwand gebannt - mehrfach

"Das erste Bild von den Klinken ist 93 entstanden und beinhaltete nur die Kreide und das Wasser. Dann kamen Gäste zu mir ins Atelier und sagten, aha - sie malen auch abstrakt. Da sag ich nein - das sind sie Wissower Klinken und die kannten das nicht. die hatten an Wassergeister gedacht. "

Weiß und flüchtig - so sehen sie aus - die bizarren Erosionsformen der Kreideküste. Manchmal - so wie jetzt, rutschen ganze Uferstreifen ins Meer - die Insel verändert ihr Antlitz - und ist aber auch so voller Motive für Künstler wie Jörg Korkhaus.

"Ein anderes Motiv sind die Sandhaken, die sich an Landspitzen bilden, und die sich innerhalb von Wochen verändern. Die es immer wieder gibt, mal sind die verschwunden, mal so geformt, mal so. Aber ohne diese Abbrüche würde es diese Sandhaken nicht geben. "

Ein kühler Wind bläst das Meer steil nach oben zum Kliff. Das Wurzelwerk der Bäume fingert hilflos um brüchigen Uferstreifen Das natürliche Gehen und Entstehen ist Prinzip im Nationalpark Jasmund, der kleinsten in Deutschland

"Das zweite Bild ist ganz frisch. Nach dem Abbruch gemalt - als ich in den Hafen kam von Sassnitz - das sah ich sie schwimmen die Klinken, gelöst rechts habe ich die rote Tonne der Hafeneinfahrt gesetzt - und genauso sah es aus -. das Wasser - weiß - grün - und draußen eben das dunkle Wasser ohne Kreide - dieser starke Absatz - das konnte ich nur in so einer abstrakten Form fassen…"

Heimkehr der Wissower Klinken, so heißt das letzte Werk, denn, so der Maler, sie sind in das Element zurückgekehrt, aus dem sie gekommen sind. Schemenhaft, abstrakt, kann man noch die Gesteinsformationen erkennen, die einfach - über Nacht - in sich zusammengesunken sind. Man sieht Jörg Korkhaus an, dass er Mühe hat, diesen Vorgang zu begreifen. Etwas, das in seiner Schönheit und Erhabenheit zeitlos erschien, verschwindet einfach über Nacht.

"Eigentlich war ich zufrieden, als ich gehört habe, dass sie wieder den Weg zurück ins Meer gefunden haben, war es ein tiefes Gefühl der Befriedigung, ich habe sie noch gemalt, ich habe sie in meinem kopf und nach drei Wochen war ich das erste Mal wieder da gewesen, und mir hat's die Sprache verschlagen - es war so ein Gefühl, als wenn man an einem Grab steht, obwohl man nicht am Begräbnis teilgenommen hat - ich möchte nicht sagen, dass ich nun unendlich traurig bin, es ist ja nicht nur die Kreide abgestürzt, sondern auch unendlich viel Sand und Mergel- aber diese Massen bilden den Grund für die Dinge, die neu entstehen und letzten Endes konnte ich mich dem Thema dann nur Abstrakt nähern. "

Die Insel verändert ihr Gesicht, für die Künstler auf den Spuren von Caspar David Friedrich sind die Abbrüche Tragödie und Chance zugleich.

"Es wird mit Sicherheit an anderer Stelle zu anderer Zeit andere Fotomotive geben, um nicht zu sagen Klinken, nur wo, wann und so das weiß ich nicht und wir sollten einfach das, was wir gesehen haben in Erinnerung behalten und vielleicht sagen können, wir waren dabei. "

Sagt der Naturschützer.

"Jetzt sind die Klinken weg, aber wenn man die Kreideküste entlang wandert, dann wird man sehen, dass schon neue Klinken entstehen, so dass man in zwei, drei Jahren vielleicht die neuen Klinken hat, die dann zu lyrischen und anderen Dingen animieren und vor allen Dingen auch das Gemälde von Caspar David Friedrich wieder mit Leben erfüllen. "

Sagen die Dichter.

"Für mich ist das nichts wehmütiges, auch wenn da ein Felsen abstürzt, dann ist das was dramatisches für die Natur und auch für mich, der fehlt dann eben und für viele Menschen fehlt das Stück, aber deshalb wehmütig zu sein, wäre auch nicht richtig, denn es geht ja weiter. "