Maler mit fotografischem Blick

Von Christian Gampert · 17.10.2012
Als Gustave Caillebotte 1894 starb, war er nur 46 Jahre alt. Wie wenige andere Maler seiner Zeit war er in der Lage, den besonderen Augenblick einzufangen. Er hatte damit denselben Blick wie die gerade erfundene Fotografie. Die Frankfurter Schirn hat Caillebotte jetzt eine Ausstellung gewidmet.
Unter den Impressionisten ist er derjenige, der die ungewöhnlichsten Bildausschnitte bietet – und der ständig mit starken Drauf- und Untersichten arbeitet, also mit einer angeschnittenen, effektvollen, die Plätze sehr groß und die Menschen sehr klein machenden Perspektivik, die wir heute eigentlich mit der Fotografie verknüpfen. Der Witz ist nun, dass der 1848 geborene Gustave Caillebotte tatsächlich manches von den frühen Fotografen abgeschaut hat, dass er aber – pionierhaft – vieles bereits vorwegnahm, was heute als originär fotografisch gilt.

Blicke durch ein Gitter, das die Wahrnehmung parzelliert, radikale Sturzsichten auf die Boulevards, Verzerrung, extreme Nahsicht, Bewegungsstudien – das sind Techniken, die in die Fotografie erst rund fünfzig Jahre später eingeführt wurden. Und zwar meist von den Bauhaus-Protagonisten des neuen Sehens, also etwa Moholy-Nagy und André Kertész, nachdem die weichzeichnerische Phase des Piktorialismus überwunden war. Caillebotte hat solche Stilmittel - als Maler! – bereits um 1870 verwendet.

Die von Karin Sagner kuratierte Schau in der Frankfurter Schirn stellt Caillebottes Bindung an die Fotografie, die in exzellenten historischen Beispielen von den Brüdern Bisson bis Baldus und Marville präsent ist, ganz in den Vordergrund. Aber wo die Fotografie des 19.Jahrhunderts das Auge noch panoramatisch schweifen lässt, da ist Caillebotte viel radikaler. Er wirft…

"Blicke von oben nach unten herab – in Ausblendung des Umfeldes, des Umraumes. Man hat keinen Blick mehr auf den Horizont oder Sonstiges. Man guckt wirklich radikal in den Stadtraum hinunter, vom Balkon, vom eigenen Fenster, und fokussiert den Blick auf das, was topographisch die neue Stadt unter Haussmann zeichnet - das sind auch die neuen Geometrien."

Die städtebauliche Neuordnung, die Geometrisierung und Planquadratisierung des modernen Paris durch den Baron Haussmann ist, im Wortsinne, eine Steilvorlage für Caillebotte, der in seinen Großformaten quasi die Fliehkräfte der Modernisierung ins Bild bringt. Das kann durch die angeschrägte, extrem in den Bildvordergrund geschobenen Eisenkonstruktion einer Brücke, des "Pont de l’Europe", geschehen, während nebenan, auf dem Bürgersteig, eine kleine Modenschau stattfindet und der Herr im Zylinder einer Dame (oder ist es eine Kokotte?) den Hof macht.

Das geschieht aber auch durch den frontalen Blick des Flaneurs, der über das Kopfsteinpflaster auf in der Weite sich verlierende Häuserblocks schaut. Oder durch die Darstellung von Proletariern, zum Beispiel Parkettschleifern, die auf einem matt glänzenden Holzboden ihre schweißige Arbeit verrichten – die Ausstellung konfrontiert das sofort mit einer Fotografie, mit Eugène Atgets "Asphaltierern" von 1900.

Dieser erste Teil der Ausstellung ist wirklich grandios, weil hier Industriegeschichte, Stadtgeschichte, Politik, Mentalität und Mode sich in einer neuen, flüchtigen künstlerischen Perspektive erschließen. Aber Caillebotte ist ursprünglich gar nicht Künstler, er ist Mäzen. Der aus einer reichen Tuchhändlerfamilie stammende Maler, der Jura studiert hat, unterstützt die Impressionisten, er diskutiert mit ihnen und lernt von ihnen - und er füttert sie durch.

"Man muss sagen: ohne ihn hätten sicherlich einige gar nicht überleben können. Er hat mehrere Künstler vorm Verhungern gerettet, er hat ihnen Ateliers finanziert, er hat ihre Werke angekauft – übrigens: eigentlich die Highlights, denn er wird ganz früh ein Testament machen und dem französischen Staat sechzig Gemälde vermachen."

Aber der französische Staat will diese Bilder zunächst gar nicht haben – heute sind sie Klassiker des Impressionismus und hängen im Musée d’Orsay. Caillebotte aber beginnt selber zu malen, nicht nur Stadtbilder, sondern auch Portraits und Landschaften. Seine verschwimmenden Darstellungen des fließenden Wassers sind heute ebenso berühmt wie seine Bewegungsstudien, mit denen er Paddler oder auch Flanierende in der Stadt zu fassen sucht. Das schließt an die Serienfotografie, die sogenannte Chronofotografie von Eadweard Muybridge an. Nebenbei ist Caillebotte ein begeisterter Segler, der bei diversen Regatten triumphiert und selber Segelboote baut. Als er 1894, also sehr früh, als Mittvierziger, an einem Gehirnschlag stirbt, ist er ein anerkannter Maler – der aber sehr bald vergessen wird. Warum? Ganz einfach: die meisten Werke, sagt Kuratorin Karin Sagner, befanden sich in Privatbesitz.

"Die letzte große Retrospektivausstellung gab’s anlässlich seines Todes… Aber dann war‘s vergessen und auch nicht mehr sichtbar. Es war nur im privaten Besitz, kein einziges Werk von Caillebotte befand sich in einer öffentlichen Sammlung!"

Heute gibt es – immerhin - diverse Werke in amerikanischen Museen, und von hier aus begann die Wiederentdeckung, zuerst in Frankreich, jetzt auch in Deutschland. Caillebottes Stilleben und Portraits reichen nicht ganz an seine Stadtlandschaften heran – er hatte eine Schwäche für Männer, die er gern als Badende zeigte oder, sofern sie berühmt waren, als Künstlerkollegen in der Bibliothek. Wesentlich aber ist Caillebottes Blick auf die Stadt, weil er uns klar macht: die Moderne, das war einmal ein Versprechen, eine anonyme, prickelnde, auch Angst einflößende Verführung. Und Paris war ihr Zentrum: die Hauptstadt des 19.Jahrhunderts.