Mahlers Weltensinfonie

Von Dietmar Polaczek · 19.09.2008
Die Anerkennung schwieriger Kunstwerke von Seiten der Kritik, noch mehr von Seiten des Publikums, kann lange dauern. Das gilt sicher auch für Gustav Mahlers 7. Sinfonie. Das vielleicht komplexeste Werk des österreichischen Komponisten fand lange nicht zu einem Platz im Konzertsaalrepertoire, auch wenn das unverständige Schlagwort von der Kapellmeistermusik schon zu Lebzeiten des Komponisten obsolet war. Als Hitler in Berlin herrschte, war Mahlers Musik in Deutschland verboten. Doch die Ironie der Geschichte will, dass die von der Kritik und den Dirigentenkollegen fast einhellig als beste bezeichnete Aufnahme von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Claudio Abbado stammt. Am 19. September 1908, heute vor hundert Jahren, dirigierte Gustav Mahler die Uraufführung seiner 7. Sinfonie in Prag.
Die Fanfaren- und Dreiklangsmotive zielen immer daneben, auf den falschen Ton, nicht wie zum Beispiel bei Bruckner auf den Grundton. Der Unterschied zwischen naivem Glauben und Weltzweifel spiegelt sich in der musikalischen Struktur. Als Gustav Mahler, Mitte 40, in der Zeit seiner größten Macht als Wiener Hofoperndirektor in den Jahren 1905 und 1906, an seiner siebten Sinfonie arbeitete, war die vergleichsweise heile Welt Wagners und Bruckners schon zerbrochen - nur wussten es viele noch nicht. Als Mahler sein Werk am 19. September 1908 mit der Tschechischen Philharmonie in der Prager Konzerthalle uraufführte, dirigierte er zuvor das "Meistersinger"-Vorspiel, als wollte er zeigen, welcher Unterschied zwischen dem C-Dur Richard Wagners und derselben Tonart im Schlusssatz seiner Sinfonie besteht.

"Ich glaube, das ist eine Konsequenz des Denkens, in dem er sich Rechenschaft gibt, dass einem modernen Komponisten um 1905 die Positivität der 'Meistersinger' von 1870 nicht mehr gegeben ist", "

sagt Michael Gielen, einer der kompetentesten Mahler-Dirigenten unserer Tage. Die Ambivalenz ist ein Grundzug der Musik Mahlers, und ganz besonders in dieser Sinfonie, die wegen zweien von den insgesamt fünf Sätzen, die Nachtmusik I und Nachtmusik II heißen, von anderen "Lied der Nacht" genannt wurde. Aber dann hat sie einen irritierend auftrumpfenden Schlusssatz in der traditionell affirmativen Tonart C-Dur. Michael Gielen verweist nicht zu Unrecht auf Sigmund Freud, bei dem Mahler 1910 Rat und Hilfe suchte. Seine Frau Alma hatte den Architekten Gropius kennengelernt, und er stürzte in eine schwere Krise.

" "Die Psychoanalyse kennt ja den Begriff der Identifikation mit dem Feind, und er tut des Guten wirklich zu viel. Die Siebente versucht eben mit Gewalt, über dieses Todessyndrom, über diese Obsession mit dem eigenen Tod hinwegzukommen."

Auch der Mittelsatz, ein gespenstisches Scherzo, ist eigentlich ein Nachtstück. Aber bei der praktischen Arbeit mit einem anfangs nicht immer willigen Orchester hilft sich der unerbittlich präzise Dirigent mit Ironie. Und jetzt, am 10. September 1908, schreibt er aus dem Hotel "Blauer Stern" in Prag an sein "liebstes Almscherl":

"Ich [...] muss darüber nachdenken, wie man aus einem Wurstkessel eine Pauke, aus einer rostigen Gießkanne eine Trompete, aus einer Heurigenschenke ein Concertlokal machen kann... [...] Ein verzweifelter Trompeter hat gefragt: 'Jetzt möcht ich nur wissen, was da dran schön sein soll, wenn einer die Trompeten fortwährend in den höchsten Tönen gestopft bis zum hohen Cis hinauf blasen soll.' Diese Äußerung hat mich sofort auf das Innere des Menschen gewiesen, der auch sein eigenes Jammerleben, das sich in den höchsten Tönen gestopft herumquälen muss, nicht begreifen kann, [...] und wie dieses Gekreisch in der allgemeinen Weltensymphonie in den großen Akkord einstimmen soll."
aus: Alma Mahler, Erinnerungen an Gustav Mahler,
Briefe an Alma Mahler, Amsterdam 1940, Nachdruck Ullstein 1978


Mahler begriff diese "Weltensinfonie" als Collage. Als er 1907 Wien verließ, wo ihm reaktionäre und antisemitische Ranküne das Leben schwer gemacht hatte, ging er nach New York an die Metropolitan Opera. Hier ist er auch Charles Ives begegnet, der als Erfinder der musikalischen Collage gilt. Aber Mahler hat diese Entwicklung bereits vorweggenommen. Das Finale der Siebten hat die Züge einer Collage, mit übereinandergeschichteten heterogenen Elementen und deutlichen Zitaten aus den "Meistersingern".

Als Hitler Österreich annektierte, wurde die Mahlerstraße neben der Staatsoper in Meistersinger-Straße umbenannt, und das für ein Mahlerdenkmal gesammelte Geld wurde einem nationalsozialistischen Wohlfahrtsfonds zugeschanzt. Jetzt hat Wien wieder seine Mahlerstraße. Doch an der 7. Sinfonie reiben sich die Dirigenten noch immer, obwohl der einst verfemte Komponist längst zum unbestrittenen Publikumsliebling geworden ist.